Jakob Tanner: «Erschreckend finde ich, wie Mitte-Rechts-Parteien rechtsextreme Positionen normalisieren.» (Bild: Gian Hedinger)

«Das antifaschistische Engagement wurde verdrängt»

Der erstmals 1982 veröffentlichte Film «Die unterbrochene Spur» liess Antifaschist:innen mit ihren Erfahrungen während des Zweiten Weltkrieges zu Wort kommen. Für das gleichnamige Buch, das vor fünf Jahren neu aufgelegt wurde, hat der Historiker Jakob Tanner das Vorwort geschrieben. Im Gespräch mit Gian Hedinger erzählt Tanner, was ihm vom Film besonders geblieben ist und ob er den Faschismusbegriff für die heutige Zeit angebracht findet.

Der Film «Die unterbrochene Spur» über antifaschistischen Widerstand in der Schweiz kam erstmals 1982 ins Kino. Nächste Woche findet anlässlich der Restaurierung des Films eine Premiere statt. Was macht den Film auch vierzig Jahre nach seiner Veröffentlichung noch sehenswert?

Jakob Tanner: Der mittlerweile 43-jährige Film ist ein historisches Zeitdokument geworden. Aufgrund des aktuellen Weltgeschehens ist er aber äusserst relevant geblieben. Er zeigt, dass auch in düstersten Zeiten, in denen rechtsextreme Parteien auf dem Vormarsch sind, das Völkerrecht nicht respektiert wird und mörderische Kriege geführt werden, ein antifaschistisches Engagement notwendig ist. 

Im Film kommen Menschen zu Wort, die sich auf einer individuellen Ebene gegen den Faschismus eingesetzt haben.

Wie der Titel schon sagt, folgt der Film unterbrochenen Spuren. Der Regisseur Mathias Knauer hatte keine fertige Geschichte im Kopf, die er sich dann durch die Protagonist:innen bestätigen liess. Ihm ging es darum, den Zeitgenossen Raum zu geben, damit sie von ihren Erfahrungen erzählen können. Aus dieser experimentellen Praxis entsteht ein Mosaikbild der damaligen antifaschistischen Szene. In der Schweiz hat man diese Menschen, die während des Naziregimes Widerstand geleistet haben, nach dem Krieg nie wirklich gewürdigt. Im Film erhalten sie nun eine Bühne. Mit ihrem Auftritt werden sie sichtbar und der Regisseur vermittelt ihnen: «Ihr seid wichtig!» 

Gibt es eine Person im Film, die Sie besonders beeindruckt hat?

Geblieben ist mir vor allem die Verdichtung von Ereignissen an der Zurlindenstrasse, wo viele Antifaschist:innen gewohnt haben. Man spürt dort einen Zusammenhalt und sieht, wie wichtig Vernetzungsarbeit, Solidarität und Vertrauen für antifaschistische Praktiken sind. Besonders eindrücklich ist, wie Bewohner:innen, sogenannte Illegale, während einer Hausdurchsuchung über den Balkon in die nächste Wohnung retten. 

Diese Vernetzung unter Antifaschist:innen sieht man im Film sonst eher weniger.

Der Film zeigt vor allem die oft bedrückende Stimmung und den unspektakulären Mut dieser Menschen. Wer politische Emigrant:innen aus Deutschland oder Italien aufnahm, setzte sich einem grossen Risiko aus. Da musste man möglichst unsichtbar und vorsichtig sein. Dem Film gelingt das Kunststück, diese versteckten Hilfeleistungen, diese verborgenen Stimmen auf die Leinwand zu bringen.

Was mich erstaunt hat, als ich Ihr Vorwort zur Neuauflage des gleichnamigen Buches gelesen habe, war die Zahl der Menschen, die in der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs politisches Asyl bekamen. In der Schweiz lebten nach offiziellen Zahlen während des Krieges 295 381 Schutzsuchende, Asyl erhielten lediglich 251 davon.

Das liegt vor allem daran, dass die Schweiz jüdischen Geflüchteten kein Asyl gewährte. Selbst als Deutschland 1941 Jüdinnen und Juden ausbürgerte – was ja ein unbestreitbar politischer Vorgang war – wies die Schweiz «Flüchtlinge nur aus Rassengründen» an der Grenze zurück. Da spielten antisemitische Haltungen eine entscheidende Rolle. Heinrich Rothmund, der Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei, hatte schon vor Kriegsausbruch seinen Kampf «gegen die Verjudung der Schweiz» angekündigt. Das Asylrecht ist Ausdruck nationaler Souveränität: Menschen, die von einem anderen Staat politisch verfolgt werden, erhalten Schutz. Die Schweiz hat dieses Recht in einer menschenverachtenden Weise umdefiniert. Der Bergier-Bericht, der die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg untersuchte, hielt fest, dass die schweizerische Flüchtlingspolitik dazu beitrug, «dass die Nationalsozialisten ihre Ziele erreichen konnten».

In «Die unterbrochene Spur» sind es vor allem Kommunist:innen, die sich antifaschistisch engagieren. Wieso waren die Sozialdemokrat:innen damals weniger aktiv?

Auch die Sozialdemokratie war vom Nationalsozialismus und Faschismus bedroht und ihre Anhänger:innen haben sich gegen diese Regimes gewehrt. Der Begriff Antifaschismus, der Anfang der 1920er-Jahre gleichzeitig mit dem Aufkommen des Faschismus geprägt wurde, war stark parteipolitisch aufgeladen. Zwischen 1924 und 1935 diskreditierten die kommunistischen Parteien die Sozialdemokrat:innen als «Sozialfaschisten». Stalin hat den Antifaschismus zum Mythos aufgebaut. Doch als er im August 1939 einen Pakt mit Hitler abschloss, wollte er nichts mehr davon wissen und erklärte die demokratisch-kapitalistischen Länder zum Hauptfeind. Als ‹Dank› hat er 600 Antifaschisten, die nicht auf seiner Linie waren, an Hitler ausgeliefert. Als dann im Juni 1941 die Wehrmacht die Sowjetunion angriff, war wieder Antifaschismus angesagt. Dieses Vorgehen hat die Linke gespalten und als antifaschistische Kraft geschwächt. Der Film unterläuft diese ideologische Konfrontation, indem er auf den Alltag, auf das antifaschistische ‹Handwerk› fokussiert.

Zudem scheint es so, als ob vor allem Leute aus einfacheren Verhältnissen gegen den Faschismus gekämpft haben. Täuscht dieser Eindruck?

Faschismus und Nationalsozialismus wollten die Linke zerschlagen. Es ist daher leicht nachvollziehbar, dass Antifaschist:innen vor allem in Arbeiterparteien und oppositionellen Frauenorganisationen organisiert waren. Doch es engagierten sich auch Intellektuelle, Kulturschaffende, Angehörige von Kirchen und demokratischen Einrichtungen. Auf der anderen Seite unterstützten viele Fabrikbesitzer, vermögende Unternehmer, Grundeigentümer und Medienmagnaten faschistische Parteien und die NSDAP. Das war schon zu Beginn des italienischen Faschismus so.

Erzählen Sie.

Die Faschisten formierten sich in Italien nach dem Ersten Weltkrieg. Damals herrschte das «biennio rosso». Damit werden zwei «rote Jahre» zwischen 1919 und 1921 bezeichnet, die durch Fabrik- und Landbesetzungen charakterisiert waren. Dagegen organisierten sich die «Fasci di Combattimento» und die «Squadristi». Diese schwarzbehemdeten Schlägertruppen zogen bewaffnet von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, und griffen Gewerkschaftshäuser und die lokalen Zentren der Arbeiter:innenbewegung an. Die meisten von denen waren ehemalige Soldaten, einfache Leute. Doch sie wurden finanziell unterstützt von den vermögenden Schichten, die einen antikapitalistischen Umsturz befürchteten. 

Zurück zur Schweiz: In ihrem Vorwort zum Buch schreiben Sie, dass zum Ende des Zweiten Weltkriegs ein linker Aufbruch möglich gewesen wäre. Weshalb fand er dann doch nicht statt?

Als um 1943 klar wurde, dass Deutschland den Weltkrieg nicht gewinnen wird, erstarkten in allen besetzten Ländern die Widerstandsbewegungen. Auch in der Schweiz zog eine «linke Morgenröte» herauf. Die Sozialdemokratie erstarkte, Streikbewegungen nahmen zu, Ende 1944 wurde die Partei der Arbeit gegründet und auch bei Bürgerlichen sowie Konservativen standen die Zeichen auf Reform. Doch die Beharrungs- und Verdrängungskräfte dominierten. Die Schweiz blieb der UNO fern und das Frauenstimmrecht hatte keine Chance. Alsbald wurden ‹braun› und ‹rot› gleichgesetzt. Der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt bezeichnete den Antikommunismus als «Stammestanz der Schweizer».

Sie schreiben, die Gesellschaft habe nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Blick vor allem in die Zukunft gerichtet. Wie meinen Sie das konkret?

Man kann sich die damalige Gesellschaft als Fahrzeug vorstellen, das auf dem Weg in eine verheissungsvolle Zukunft ist, in der es zwar Gefahren gibt, aber grundsätzlich ist die Stimmung heiter. Im Rückspiegel sieht man noch die Krise, Arbeitslosigkeit, Not, Mangel, Krieg und den entbehrungsreichen Militärdienst. Auf der Reise in die Massenkonsumgesellschaft erscheinen diese Phänomene immer kleiner. In der Erinnerungswelt gewinnt ein mythisches Bild eines heroischen kleinen Landes die Oberhand. Die Verstrickungen der schweizerischen Wirtschaft in das Naziregime und die Flüchtlingspolitik werden ebenso verdrängt wie das antifaschistische Engagement dagegen. 

Ist es Ihrer Meinung nach sinnvoll, den Begriff Faschismus für die heutige Zeit zu gebrauchen?

Ich sehe schon Parallelen zwischen dem Untergang von Demokratien in der Zwischenkriegszeit und dem gegenwärtigen Aufstieg rechtsextremer Kräfte, die häufig in der Tradition faschistischer Parteien stehen. Eine schlichte historische Gleichsetzung von ‹damals› und ‹heute› ist aber nicht sinnvoll. Ich finde, wir sollten den Begriff Faschismus zuerst einmal analytisch operationalisieren. Umberto Eco hat Mitte der 1990er-Jahre eine sehr breite Definition des «Urfaschismus» vorgeschlagen, die auf viele Parteien der Gegenwart passt. Interessanter finde ich den Vorschlag von Jason Stanley, einem Forscher aus den USA. Er achtet stärker auf faschistische Taktiken und rückt die Frage, ob etwas faschistisch ist oder nicht, in den Hintergrund. Wie also mischen rechte, rassistische, fremdenfeindliche Parteien die politische Landschaft auf? Wem nützen die populistischen Bewegungen? Wer finanziert sie? Welche antidemokratische Dynamik wird dadurch ausgelöst? Generell darf man es sich hier nicht zu einfach machen. Es bringt wenig, jeder rechten Gruppierung und autokratischen Regierungsform das Etikett Faschismus aufzudrücken. Umgekehrt verbaut die These, es hätte nur einen singulären Faschismus in Italien unter Mussolini gegeben, den Ausblick auf die heutige Bedrohungslage.

Bietet die aktuelle Situation auch Chancen für die Linke?

Die aktuelle Situation ist schwierig. Erschreckend finde ich, wie Mitte-Rechts-Parteien rechtsextreme Positionen normalisieren. Und das, obwohl es wissenschaftliche Untersuchungen gibt, die zeigen, dass, wenn sich konservative Parteien den Rechten annähern, nur die Rechte davon profitiert. Wie linke Kräfte dagegen ankämpfen können, das kann nicht einem einzelnen Kopf entspringen. Mir scheint es vor allem wichtig, dass eine demokratische Linke es wieder vermehrt schafft, die relevanten Gegenwartsprobleme politisch so zu definieren, dass zukunftstaugliche Lösungen erkennbar werden.