Chancengerechtigkeit früh fördern

Der Zürcher Gemeinderat befasste sich mit dem Massnahmenplan zur Frühen Förderung 2021–2025 und lehnte eine Einzelinitiative für eine längere Mittagspause in der Tagesschule ab.

 

An der fünfstündigen Sitzung des Zürcher Gemeinderats von letzter Woche hatte das Traktandum 1, «Mitteilungen», wegen etlicher persönlicher Erklärungen 38 Minuten in Anspruch genommen. An der fünfstündigen Sitzung vom Mittwoch waren es 44 Minuten, und ob all der zwischen rechter und linker Ratsseite ausgetauschten ‹Nettigkeiten› ging die Erklärung der IG Frauen im Gemeinderat zum Frauenstreiktag vom 14. Juni 2021 fast unter: In der IG machen Frauen aus allen Fraktionen mit. Vorgetragen haben die Erklärung Maya Kägi-Götz (SP), Claudia Rabelbauer (EVP) und Maria del Carmen Señoran (SVP). Darin heisst es beispielsweise: «Tatsache ist, dass seit der Einführung des Gleichstellungsgesetzes 1996 die Lohndifferenzen gestiegen sind. Tatsache ist auch, dass Frauen durch fehlende Strukturen bei der Kinderbetreuung daran gehindert werden, in grösseren Pensen im Arbeitsmarkt tätig zu bleiben, was wiederum einschneidende Folgen im Alter zeigt. Frauen erhalten im Schnitt rund ein Drittel weniger Rente als Männer. Es gibt also unverändert viel zu tun.» Die Erklärung schliesst mit den Worten: «Es ist an der Zeit, dass die Gesellschaft erkennt, wie viel sie gewinnen kann, wenn sie Frauen nicht diskriminiert und alles dransetzt, um – in Bezug auf Beruf, Laufbahn, Familie – Frauen und Männer gleichzustellen und so eine gerechtere Gemeinschaft zu erschaffen.»

 

Keine längere Mittagspause

Mit einer Einzelinitiative verlangte Stéphanie von Walterskirchen, dass man darauf verzichten soll, die Mittagspause im Rahmen der Pilotprojekte und der Umsetzung der Tagesschule 2025 zu kürzen. Im Text der Einzelinitiative wird zur Begründung des Begehrens auf den Pilot an der Schule Ilgen verwiesen, wo die Mittagspause von 110 auf 80 Minuten gekürzt werde: «Dadurch ist die Gleichwertigkeit der Wahlmöglichkeiten Mittagspause in Tagesschule und Mittagspause zu Hause nicht gegeben und damit auch nicht die Freiwilligkeit, die mit dem Ja zur Tagesschule 2025 an der Volksabstimmung vom 10. Juni 2018 von 77,3 Prozent des Zürcher Stimmvolkes beschlossen wurde.» Für die Unterstützung einer Einzelinitiative sind 42 Stimmen nötig, es kamen aber bloss 18 zusammen (von SVP und EVP). Eine Debatte gab es nicht, Stefan Urech (SVP) verlas aber eine persönliche Erklärung zum Thema, und die FDP verschickte eine Medienmitteilung. Stefan Urech sagte, seine Fraktion sei nicht gegen die Tagesschule, aber dagegen, dass keine Wahlfreiheit bezüglich des Familienmodells bestehe: «Wir stehen zum Versprechen, dass die Tagesschule freiwillig ist.» In der Medienmitteilung der FDP heisst es unter anderem, zwar könne die Freiwilligkeit «durch verschiedene Massnahmen faktisch ausgebremst werden. Dazu kann auch eine sehr kurze Mittagspause gehören, in der die Kinder nicht mehr nach Hause können». Doch die Einzelinitiative gehe mit der fixen Forderung nach 110 Minuten Mittagspause zu weit, «weil einerseits mit einer überdehnten Mittagspause jene Kinder mit Tagesschulmodell über Gebühr benachteiligt würden und andererseits mit erheblichen Mehrkosten zu rechnen wäre».

 

Frühe Förderung

Zur Debatte stand sodann der Massnahmenplan zur Frühen Förderung 2021–2025. Diese Vorlage des Stadtrats behandelte der Rat gemeinsam mit zwei Postulaten: Judith Boppart und Matthias Renggli (beide SP) wollten geprüft haben, «ob qualitative Begegnungsorte für Familien mit kleineren Kindern, sogenannte One-Stopp-Shops, flächendeckend in der ganzen Stadt geplant und realisiert werden können, sowie ob die bestehenden Begegnungsorte für Familien zu solchen weiterentwickelt werden können». Das zweite Postulat von Natalie Eberle und Willi Wottreng (beide AL) forderte den Stadtrat auf zu prüfen, «wie die Zugänglichkeit der Mütter- und Väterberatungsstellen sozialräumlich wie elektronisch niederschwelliger gestaltet werden kann. Der Stadtrat soll darauf hinwirken, dass Mütter- und Väterberatungsstellen dezentral und somit in die belebten Zen­tren der Quartiere verlegt werden, möglichst in Kombination mit anderen öffentlichen Nutzungen wie Gemeinschaftszentren. Zudem soll er ein Konzept ausarbeiten, wie Beratungen niederschwellig auf elektronischem Weg, zum Beispiel anhand der heute genutzten Sozialmedia-Tools, angeboten werden können».

Kommissonssprecherin Selina Walgis (Grüne) schickte voraus, bei dieser Vorlage handle es sich um einen Bericht an den Gemeinderat. Einen solchen kann der Rat nur zustimmend oder ablehnend zur Kenntnis nehmen: Er bietet ihm einen Einblick in den Planungsstand, während die für die Umsetzung der Massnahmen notwendigen finanziellen Mittel mit den ordentlichen Budgets der beteiligten Departemente – hier des Sozial-, des Schul- und Sport- sowie des Gesundheits- und Umweltdepartements – beantragt werden. Selina Walgis führte aus, mit «Früher Förderung» seien verschiedene Angebote und Massnahmen gemeint, die «Familien vor, während und nach der Geburt ihres Kindes, aber auch Familien mit Kindern im Vorschulalter oder Vorschul-Kinder direkt stärken». Das Ziel sei es, gute Entwicklungsbedingungen für alle Kinder zu ermöglichen und damit die Chancengerechtigkeit zu verbessern. Die Massnahmen sollen «vor allem auch belastete Familien erreichen». Im aktuellen Massnahmenplan sind fünf Schwerpunkte definiert. Sie reichen von «Qualität in Kitas» bis zu «Übergang in den Kindergarten und die Schule gut gestalten». Auch die Mütter- und Väterberatung soll gestärkt werden, und da nur ein Drittel der Kinder einsprachlich Deutsch aufwächst, ist die Sprachförderung ein Thema. Nun als Sprecherin der Grünen fügte Selina Walgis an, die Chancengerechtigkeit sei ein zentrales Anliegen: «Wenn Kinder erst im Kindergarten Deutsch lernen, erreichen sie im Durchschnitt einen tieferen Bildungsabschluss.» Für die SVP, die den Bericht ablehnend zur Kenntnis nehmen wollte, sagte Samuel Balsiger, man probiere hier, «Fehler in der Migration auszubügeln und mit staatlichen Leistungen ein scheinbares Problem zu beheben». Wenn man aber ein Problem bei der Einwanderung habe, müsse man nicht im Staat drin die sozialen Leistungen ausbauen, sondern das Problem an der Grenze lösen.

Die Idee vom «One-Stopp-Shop» begründete die Postulantin Judith Boppart damit, dass sozial belastete Familien seltener von Angeboten während und nach der Schwangerschaft Gebrauch machten. Wer jedoch den Einstieg verpasse, falle nachher durch die Maschen. Deshalb brauche es den One-Stopp-Shop, ein Angebot vor Ort, im Quartierzentrum, neben der Kinderarztpraxis oder einem Spielplatz, das möglichst viele Angebote an einem Ort bündle. In den Abstimmungen nahm der Rat den Massnahmenplan mit 97:10 Stimmen (der SVP) zustimmend zur Kenntnis. Das Postulat der AL für sozialräumlich und elektronisch niederschwelliger zugängliche Mütter- und Väterberatungsstellen wurde mit 88:23 Stimmen angenommen, jenes für die One-Stopp-Shops mit 73:34 Stimmen.

 

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