- Post Scriptum
Canceln als Chance
Am Begriff der «Cancel-Culture» stimmt etwas nicht. Es ist ein negativ besetztes Wort, Menschen nichtenglischer Muttersprache am besten bekannt vom Tableau am Flughafen: [Your flight has been] cancelled. Das erweckt selten Freude. Die damit neuerdings umschriebenen Bemühungen sind aber rein positiver Absicht entsprungen; eine abschätzige, herabwürdigende, diskriminierende Zuschreibung soll durch eine neutrale oder positive ersetzt werden. Mit dem negativen Ausdruck «canceln» will man dieses Streben nun als lächerlich, falsch, gefährlich – ja als Zensur oder Geschichtsklitterung denunzieren. Dabei verschwinden allerlei historische Fakten im Blinden Fleck.
Denn vor der Begriffsbildung war bereits anderes «gecancelled» worden, etwa die Diskriminierung, Ausbeutung und Unterwerfung vieler Ethnien, sowie der Vorteil, den unsere «überlegene» Kultur daraus zog. Unsere Herren-Leitkultur hat selber extrem viel zensuriert: Un-Christliches, Jüdisches, Frauen, Homosexuelle – ohne dieses «Canceln» je sichtbar zu machen; man übte sich in Totschweigen und herablassender Duldung.
Geht es um Literatur, die ihre Anfänge ja in mündlichem Vortrag und Nacherzählung hat, so war es seit ihren Anfängen immanenter Bestandteil der erzählerischen Tradition, dass sie dem Zeitgeist angepasst wird. Nehmen wir gleich das Lieblingskind der heutigen Entrüsteten, den «Negerkönig» bei Pippi Langstrumpf. Der soll nun zum «Südseekönig» werden, weil jemand, der vor hundert Jahren «Neger» sagte, etwas anderes damit meinte, als eine, die es heute sagt. Als Vorleserin auf der Bettkante hätte ich mit meinem jungen Kinde spätabends das N-Wort nicht diskutieren wollen. Das hätte den illusorischen Zauber des Märchens, der ins Traumland hinüberleiten sollte, zerstört. Es wäre aber, da in unserem Haushalt ein Fremdwort, aufgefallen und hätte die kindliche Neugier angestachelt. Daraus wäre einige Jahre später eine interessante und lohnenswerte Diskussion geworden – für die Gutenachtgeschichte jedoch völlig verkehrt. Ich hätte das Wort bestimmt gerne anders gehabt und finde «Südseekönig» stimmig. Die monierte «Vergewaltigung Wehrloser», sprich toter Autor:innen, lässt sich ganz einfach vermeiden, indem man die Änderungen kennzeichnet und im Annex erläutert.
Ganz ohne «Canceln» hat sich etwa eine beliebte Kasperlifigur durch die Hintertür verabschiedet, die meinem Vater noch geläufig war: der «Schnuderzapfen». Mit seinem zum grünen Tropfen gelierten Nasensekret auf der Oberlippe gab er den begriffsstutzigen und gutmütigen Deppen. Wohl weil seine namensgebende Eigenart nicht mit dem neu etablierten Hygienebewusstsein des 20. Jahrhunderts vereinbar war, wurde er der Vergessenheit anheimgestellt. Dass der Kasperli selber ein machoider Besserwisser mit kolonialistischen Allüren ist (vgl. z.B. «Negermädchen» Susu), dämmerte der Kinderbespassungsindustrie erst viele Jahrzehnte später. Aber immerhin prangt heute auf dem Migros-Sack die Figur «Carla» ebenso prominent auf der einen wie der Ur-Kasper auf der anderen Seite.
Es entspricht dem allgemeinen Funktionswandel von Märchen, dass sie im Laufe der Jahrhunderte von der blutrünstigen Schauermär zur handzahmen Gutenacht-geschichte wurden. Man fand es früher auch angemessen, Kinder mit Drohungen und Furchteinflössen gefügig zu machen; das ist heute nicht mehr Mode. Ermutigend und der allseitigen Identifikation mit ermächtigenden Rollen dienend will man die heutige Kindergeschichte. Dass man nun plötzlich überkommene Züge an überlieferten Geschichten nicht mehr ändern dürfte, sondern ihnen mit der eigenen Zunge im eigenen Hirn und Herzen auf ewig Gastrecht gewähren müsste – das ist das eigentliche unsinnige Verbot, und einiges empörender als das inkriminierte angebliche «Canceln».