Bürokratischer Hindernisparcours für eine ID

Wie kann es sein, dass man sein Leben lang abstimmen und wählen ging, einen Heimatschein aus Luzern besitzt, und dennoch ein Einbürgerungsverfahren durchlaufen soll? Ein Erlebnisbericht von Liliane Goldberger.

 

 

Als ich so klein war wie auf dem Foto (mit meinem Grossvater mütterlicherseits) galten noch Gesetze, die Frauen und Leute ohne Vermögen noch mehr benachteiligten als heute:

• Frauen verloren bis 2012 Nachnamen und Bürgerrechte, wenn sie heirateten: Lisbeth Bürger aus Bern wurde etwa zu Lisbeth Bünzli (-Bürger) aus Hintertupfingen
• Schweizer/innen mussten bis 1977 in ihrer Heimatgemeinde Sozialhilfe beanspruchen, was die Gemeinden mit mehr oder weniger sanfter Abschreckung zu verhindern suchten.
Tempi passati? Leider wirken solche Diskriminierungen in Einzelfällen bis heute nach – nicht nur in Form der bekannten Schikanen gegenüber Asylsuchenden…

 

Ausnahmen gabs nur bei Staatenlosigkeit des Vaters: Ein Kind bekam dann das Bürgerrecht der Mutter, damit es nicht ebenfalls staatenlos wurde. So bei mir: Zehn Monate, nachdem meine Eltern – Mutter Schweizerin mit Heimatorten Stadt Luzern und Merenschwand AG, Vater ungarisch-rumänischer Abstammung, jedoch staatenloser Flüchtling – in Frankreich geheiratet hatten, wurde ich geboren und erhielt den Namen meines Vaters und die Bürgerrechte meiner Mutter. Mein Opa war zwar gegen die Heirat gewesen, liebte aber sein erstes Enkelkind und hatte gegen diese Regelung nichts einzuwenden. Erst viele Jahre später – Opa, Mama und Papa waren längst gestorben und ich bereits im Rentenalter – wirkte sie sich für mich negativ aus.

 

«Sie sind gar nicht Schweizerin!»
Im Februar 2019 stand der Ablauf meines Personalausweises (Identitätskarte = ID) bevor, und ich beantragte bei meiner Wohngemeinde im Kanton Zürich dessen Erneuerung. 70 Franken Gebühr hat man dafür zurzeit zu bezahlen. Statt der neuen ID kam im März allerdings ein Anruf vom Einwohneramt, und ich wurde an die Leiterin des Zivilstandsamts der Stadt Luzern verwiesen, um zu erfahren, weshalb ich keine neue ID erhalten könne. So erfuhr ich, dass ich gemäss einem Schreiben der Justizdirektion des Kantons Aargau von 1960 gar nicht Schweizerin sei… Dies, nachdem ich
• von sämtlichen Behörden seit meiner Geburt als Schweizerin behandelt worden war,
• seit den 70er Jahren über einen – irrtümlich ausgestellten? – Heimatschein des Kantons Luzern verfügte (auf den sich Wohnkanton und -gemeinden seither stets gestützt und mir zwei Pässe und mehrere ID-Karten ausgestellt hatten),
• seit meiner Volljährigkeit an allen Wahlen und Abstimmungen teilgenommen hatte,
• Gemeindeparlamentarierin in Wädenswil ZH und Mitarbeiterin der Finanzdirektion des Kantons Zürich war,
• dies alles als angeblich rumänische Staatsbürgerin! Erst als 2005 das elektronische Personenstandsregister «Infostar» eingeführt wurde, hat man die ‹Diskrepanz› bemerkt!

 

Gar nicht erleichterte Einbürgerung
Vom Zivilstandsamt der Stadt Luzern an das Staatssekretariat für Migration in Bern verwiesen, sandte man mir Formulare für «erleichterte Einbürgerung» – ein unmöglicher und für meinen Fall unzutreffender Papierkrieg. Auf dem Begleitzettel, auf dem sie nicht einmal meinen Namen richtig geschrieben hatten, war ausser einer unleserlichen Unterschrift und einem Kurzzeichen kein Na-me einer/s Sachbearbeiterin/s angegeben.
Was zu denken gibt: Wie in kaum einem andern Bundesgesetz wird hier zum vornherein mit Fehlern gerechnet: «Wer während fünf Jahren im guten Glauben gelebt hat, das Schweizer Bürgerrecht zu besitzen, und während dieser Zeit von kantonalen oder Gemeindebehörden tatsächlich als Schweizerin oder als Schweizer behandelt worden ist, kann ein Gesuch um erleichterte Einbürgerung stellen. Die eingebürgerte Person erhält das Kantonsbürgerrecht des für den Irrtum verantwortlichen Kantons. Dieser bestimmt, welches Gemeindebürgerrecht gleichzeitig erworben wird», heisst es im einschlägigen Artikel aus dem seit 2014 gültigen Bürgerrechtsgesetz…
Allerdings war ich nicht bereit, für einen Fehler, den nicht ich begangen hatte, sondern – wenn überhaupt – die Stadt Luzern, 900 Stutz zu blechen und jede Menge Bescheinigungen (z.B. des Steueramts) zu beschaffen, was Wochen, wenn nicht Monate brauchen würde…

 

«In Erwägung…»
So blieb mir nichts anderes übrig, als bei der «Aufsicht Zivilstandswesen» des Kantons Luzern Beschwerde einzureichen, welche zur Abklärung an den Kanton Aargau weitergeleitet wurde. Erfreuliches Ergebnis: Nach seitenweise «Erwägungen» hat man dort bemerkt, «dass aus den Akten nicht ersichtlich ist, dass ein Ereignis eintrat, welches das Schweizer Bürgerrecht sowie die Kantons- und Gemeindebürgerrechte von G. wegfallen liess» – mit andern Worten: Die Behauptung von 1960 entbehrte jeder Grundlage in den Akten* – und hat daher festgestellt, dass G. «das Schweizer Bürgerrecht sowie die Bürgerrechte der Kantone Aargau und Luzern sowie der Gemeinden Merenschwand und Luzern besitzt».

 

*Dass es überhaupt zur tatsachenwidrigen Behauptung von 1960 kam, kann ich mir nur auf dem Hintergrund der eingangs erwähnten damaligen Gesetzeslage erklären: Man fürchtete offenbar nach der Scheidung meiner Eltern, das Hungerleiderkind könnte der Gemeinde Merenschwand zur Last fallen, was eine übereifrige Amtsperson durch das Schreiben von 1960 abzuwehren suchte (schön blöd, dass weder meine Mutter noch ich je Sozialhilfe bezogen haben…).

 

«…das Schweizer Bürgerrecht besitzt»
Danach brauchte es noch einige E-Mails und einen neuen Luzerner Heimatschein, bis ich meine neue ID bekam und «wieder Schweizerin» war – immerhin ohne weitere Kostenfolgen…

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