Manès Sperber zählt, neben George Orwell («1984») und Arthur Koestler («Sonnenfinsternis»), zu den herausragendsten kommunistischen «Renegaten», die sich angesichts des stalinistischen Terrors der 1930er-Jahre in der Sowjetunion von der totalitären Ideologie gründlich verabschiedeten. Zuvor glühende Revolutionäre, die mit der Schrift wie mit der Waffe für ihre Überzeugungen und ihre Partei kämpften, öffneten ihnen erst die Moskauer Schauprozesse ab 1937 die Augen, als Stalin seine bolschewistischen Mitrevolutionäre liquidieren liess (und nebenbei im Grossen Terror 6,5 Mio. «Staatsfeinde» exekutieren oder im Gulag verenden liess). Erste verhaltene Zweifel kamen ihnen bei der unglaublich grausamen Industrialisierungspolitik Stalins Ende der 1920er-Jahre, die bis weit in die 1930er-Jahre andauerte, und bis heute ihre Auswirkungen zeitigt: die Vernichtung der ukrainischen Bauern und Bäuerinnen im Holodomor mit dem damit einhergehenden Import russischer Arbeiter für den Aufbau der Bergwerke und Industrien des Donbas, die Putin heute wieder seinem Imperium einzuverleiben gedenkt.
Exil in Zürich
Manès Sperber, von 1927 bis 1937 in der illegalen KPD in Berlin aktiv, irritierte danach die jahrelang vertretene Sozialfaschismustheorie, die Stalin auf die deutsche Sozialdemokratie münzte, indem er diese als schlimmer als den Nationalsozialismus bezeichnete. Durch diese Politik wurde ein linker Widerstand gegen Hitler mit sämtlichen Konsequenzen verunmöglicht. Doch eine offene Abkehr löste das bei Sperber noch nicht aus, erst als seine besten Freunde in Moskau vom Geheimdienst NKWD in den Kellern der Lubjanka (bis heute Sitz von dessen Nachfolger FSB) ermordet wurden. Diese Zeit hat übrigens der deutsche Historiker Karl Schlögel in seinem Buch «Terror und Traum. Moskau 1937» grossartig beschrieben. Für andere Stalin-Kritiker brauchte es den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom August 1939, besser bekannt als Hitler-Stalin-Pakt, der es kurz darauf Hitlers Wehrmacht dank gütiger Komplizenschaft der Sowjets erlaubte, Westpolen zu überfallen, währenddem sich die Rote Armee um Ostpolen kümmerte.
Manès Sperber, der sich trotz seiner inzwischen pazifistischen Überzeugung als Antifaschist zu Beginn des Zweiten Weltkrieges als Freiwilliger für die französische Armee gemeldet und nach deren Niederlage in Südfrankreich an der Côte d’Azur mit seiner künftigen Frau Janka niedergelassen hatte, musste im Sommer 1942 die nicht besetzten französischen Gebiete verlassen, weil nun auch dort die Festnahmen und Deportationen begannen. Er flüchtete Ende September mithilfe eines Schleppers in der Nähe von Les Crosets in die Schweiz und nach Zürich, kam zuerst ins Flüchtlingslager Girenbad bei Hinwil und fand später Unterkunft beim Zürcher Pfarrer Adolf Maurer und seiner Frau Luise. Anfang Oktober kam Janka mit dem wenige Monate alten Säugling Jan nach. Maurer, der auch ein umfangreiches literarisches Werk hinterlassen hat, war übrigens der Grossvater der früheren Zürcher SP-Stadträtin Esther Maurer. Zwar durfte Manès Sperber, der bis Kriegsende in der Schweiz im Exil verbrachte, damals als Flüchtling weder publizieren noch sich politisch betätigen, doch begann er mit der Niederschrift seiner Trilogie «Wie eine Träne im Ozean» mit den drei Büchern «Der verbrannte Dornbusch», «Tiefer als der Abgrund» und «Die verlorene Bucht».
Die Abgründe totalitärer Verblendung
«Wie eine Träne im Ozean» ist ein faszinierendes Stück Literatur über die Abgründe der totalitären Verblendung und die vernichtende Gewalt jener Zeiten, über die Verlorenheit der Abtrünnigen nach dem Verlust ihrer Ideologien, ohne dass ihre Hoffnung auf einen besseren Zustand der menschlichen Gesellschaft völlig verschwinden konnte. In der Trilogie verbindet Sperber autobiografische Elemente mit fiktionalen Erzählungen über seine philosophischen Auseinandersetzungen um die Wahrheit und über seine gefährliche Untergrundarbeit in den Partisanenkämpfen auf dem Balkan. Er schildert das jüdische Leben im ostgalizischen, heute westukrainischen Zablotow, einem typischen jüdischen Schtetl, in dem er 1905 geboren wurde, und wie dessen chassidische Welt unwiderruflich verloren ging. 1916 folgte die Flucht vor dem Krieg nach Wien, wo er die Bekanntschaft mit dem Begründer der Individualpsychologie Alfred Adler machte und zu seinem Meisterschüler wurde.
Im Buch gehören die Dialoge von Dojno Faber, dem Romanhelden und literarischen Alter Ego Sperbers, mit Baron von Stetten (Alfred Adler) zu den tiefgründigsten Auseinandersetzungen um die existenziellen Fragen des Lebens in einer von Krieg, Verrat und Zerfall geprägten Welt. Beispiel über den «Sieg» der kommunistischen Revolution: «Der Höhepunkt jeder Revolution ist erreicht, ehe sie gesiegt hat – ihr Sieg aber ist bereits der Beginn der Konterrevolution, die sich anfangs unter der revolutionären Flagge vollzieht, selbstverständlich. Nur die Kürze des individuellen Lebens macht aus, dass gewisse Leute als Sieger in die Geschichte eingegangen sind: Sie haben die Umwandlung ihres Sieges in eine Niederlage nicht mehr erlebt.»
Filmische Technik
Sperber erzählt allerdings nicht linear, der Text kreist vor und zurück und zur Seite, er lässt das Leben und Sterben unzähliger Akteur:innen sowie verschiedenster Schauplätze multiperspektivisch in einer Abfolge von Schlaglichtern auftreten, gleichsam einer filmischen Technik folgend. Einige seiner Protagonist:innen sind zwar historischen Vorbildern und Freunden von ihm nachgezeichnet, aber sie gehen nicht eins zu eins auf, es ist kein biographisches, sondern ein literarisches Werk. In einer Flüssigkeit und Dringlichkeit geschrieben, die weitgehend auf bemühende Adjektive verzichten kann.
«Wie eine Träne im Ozean» war jahrzehntelang nicht mehr greifbar, umso verdienstvoller ist jetzt die sorgfältig edierte Werkausgabe. Auch wenn es abgedroschen wirken könnte, ist dieser Roman in vielerlei Hinsicht aktuell geblieben, etwa wenn Baron von Stetten sagt: «Ich habe (die Jugend) erkennen gelehrt, dass ein Gran Wissen mehr ist als eine Tonne Meinung, mehr als eine Welt von Glauben. Kein Ideal ist es wert, dass ihr seinethalben versäumt, auch nur den Duft einer Blume, auch nur eines von den ungezählten Lächeln eines Kindes, auch nur einen Trunk, einen Kuss zu geniessen.»
Manès Sperber: Wie eine Träne im Ozean. Trilogie (Der verbrannte Dornbusch / Tiefer als der Abgrund / Die verlorene Bucht). Sonderzahl Verlag, Wien 2024, 872 Seiten, 64 Franken.