Die soziologische Untersuchung Arlie Russell Hochschilds über die politische Radikalisierung in der amerikanischen Kleinstadt Pikeville, Ostkentucky, wurde sowohl von der Wissenschaft als auch von der Leserschaft breit diskutiert. Nun liegt eine vorzügliche deutsche Übersetzung dieser Mikrostudie vor, die das Zeug zum Klassiker des Genres hat. Sie schliesst an berühmte Feldstudien der Chicago School of Sociology an, beispielsweise an die Middletown-Untersuchungen des berühmten Forscherehepaars Helen M. und Robert S. Lynd in Indiana.
Arlie Russell Hochschild stützt sich in ihrer Argumentation weniger auf Statistiken und trockene Zahlenreihen als auf qualitative Interviews, wobei da und dort ein Schuss mehr historische Tiefenschärfe dem Buch wohl angestanden hätte. Doch versteht es die Autorin in meinen Augen meisterhaft, ihre Protagonisten, in aller Regel Männer, frei reden zu lassen, ohne ihnen Druck aufzusetzen. Hochschild muss eine geduldige Zuhörerin sein, die das Vertrauen der Befragten gewonnen hatte.
So erfahren wir teilweise sehr intime Details aus den meist schwierigen Lebensläufen der Befragten, manche von ihnen legen schon beinahe Lebensbeichten ab. Nur wenigen gelang es, den ideologischen Vorgaben des American Dream zu genügen, ein harmonisches Familienleben zu initiieren, ein Haus, ein Automobil zu kaufen, Genussmittel zu konsumieren, Geräte anzuschaffen, jährlich zehn Tage ans Meer zu reisen, kurz: den gesellschaftlichen Anschluss an die untere Mittelklasse zu schaffen.
Radikale Wende
Das Bergbaugebiet Ostkentuckys (und West Virginias) verarmte in den letzten Jahrzehnten, als Kohle und Stahl weniger gefragt waren. Noch in den 1930er-Jahren, während der Weltwirtschaftskrise, waren viele Bergarbeiter stark gewerkschaftlich organisiert gewesen und wurden erst in brutal geführten Arbeitskämpfen getötet oder von Polizei und gedungenen Pinkerton-Detektiven niedergeknüppelt. Viele von ihnen waren politisch eher links eingestellt gewesen, wählten auch den reformerischen Flügel der Demokraten.
In den letzten zehn, 15 Jahren hat sich das politische Blatt jedoch radikal gewendet: Pikeville und das umliegende Land ist trotz einer kleinen, aber feinen Universität mit engagierten Student:innen zu einer Hochburg der Republikaner Donald Trumps geworden (Wahlanteil 80 Prozent). Eine kompakte «weisse» Arbeiterklasse, stolz auf ihrer Hände Arbeit und aufstiegsorientiert sowie politisch pragmatisch, gibt es heutzutage kaum noch. Eine Drogenepidemie, ausgelöst durch den skrupellosen und systematischen Verkauf von Schmerzmitteln (Opiaten) an leidende Bergleute, hat viele Familien ins finanzielle und medizinische Elend gestürzt. Manche starben, andere wurden kriminell, sitzen nun für lange Jahre in den überfüllten Gefängnissen.
Ersatz für geraubten Stolz
Die legendären «Hillbillies» und «Rednecks» mit ihrem eigenen eigentümlichen ländlichen Dialekt sind zum Teil längst zum Gespött der amerikanischen Grossstädter:innen und Fernsehshowmoderator:innen geworden, was sie verletzt und entsprechend lediglich schlecht ertragen. Viele von ihnen haben nur noch ihre «weisse» Haut als symbolisches Kapital (Pierre Bourdieu), die sie von «Schwarzen», «Muslimen», «Asiaten» und anderen Minderheiten abhebt. Bereitwillig folgen sie nun den hohl anmutenden Versprechungen von «Trumpiards» und noch viel extremeren, offen neonazistischen Gruppierungen und auch dem Ku-Klux-Klan, der im lesenswerten, bisweilen etwas redundanten Buch neben dem Anführer einer schwer bewaffneten Neonazi-Gruppe auch recht detailliert zur Sprache kommt. Mit Symbolen, Kleidung und Tätowierungen bringen die Rechtsextremisten ihre scheinbare «white supremacy» (weisse Vorherrschaft) zum Ausdruck. Der Stolz auf die Hautfarbe und auf jene Pionier:innen, «die das alles aufgebaut haben», wiegen ökonomische und individuelle Verlustgefühle auf, sind gleichsam Ersatz für den «geraubten Stolz». Wer es nämlich nicht nach oben geschafft hat, ist auch in den eigenen Augen meistens selbst daran schuld, hat einfach nicht hart genug gearbeitet oder gelernt. Das sind die Irrungen und Wirrungen einer queren, nur oberflächlich säkularisierten amerikanischen Mentalität auf dem flachen Land.
Hochschild, Arlie Russell: Geraubter Stolz. Verlust, Scham und der Aufstieg der Rechten. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. Hamburg: Hamburger Edition 2025, 360 S., ca. 30 Fr.