Volksabstimmungen mit Folgen

Die beiden Historiker und Journalisten David Hesse und Philipp Loser haben aus den 676 eidgenössischen Volksabstimmungen jene 30 herausgepickt und beschrieben, die ihrer Meinung nach die heutige Schweiz am stärksten oder wirkungsvollsten prägten.

Prägen bedeutet nicht zwangsläufig erfolgreich und das Kriterium, wie strittig der Abstimmungskampf verlief, war auch nicht zwingend ein Kriterium, um zu den 30 «wichtigsten» Abstimmungen gezählt zu werden. Dazu zwei Beispiele: Die Initiative «Stopp der Masseneinwanderung» der SVP, die am 9. Februar 2014 mit 50,3 Prozent der Stimmen angenommen wurde, bewirkte für die Einwanderung praktisch nichts. Sie wurde nicht umgesetzt. Da die Initiative eine Kündigung der Personenfreizügigkeit mit der EU zur Stabilisierung der Einwanderung als Möglichkeit vorsah, beeinflusste indes das Ja die Europapolitik seither um so mehr. Ohne dieses Ja hätte der Bundesrat das Rahmenabkommen mit der EU kaum platzen lassen und wäre die Europapolitik kaum so verknorzt, wie sie es heute ist.

Am 26. November 1989 scheiterte die Initiative «Schweiz ohne Armee» bei einer Stimmbeteiligung von fast 70 Prozent mit 35,6 Prozent Ja sehr deutlich. Sie bedeutete das Ende des Mythos, dass die Schweizer Armee ein Heiligtum sei, wie die Alpen zur Schweiz gehöre. Seither ist sie ein staatliches Instrument wie andere auch, über dessen Preis und Nutzen man in Ehren streiten kann. Das gilt sogar heute, wo die Armee wegen des Überfalls Putins auf die Ukraine wieder einen deutlich höheren Stellenwert geniesst. Die grüne Nationalrätin Marionna Schlatter etwa wäre damals wie eine Hexe behandelt und mit grosser Wahrscheinlichkeit bei den nächsten Wahlen abgewählt worden. Heute gehört sie zu einer Minderheit, mit der auch Armeevertreter:innen am TV oder an Podien diskutieren (müssen) und deren Wiederwahl keineswegs gefährdet ist.

Die beiden Autoren haben die 30 in ihren Augen wichtigsten Abstimmungen chronologisch angeordnet und alle nach dem gleichen Schema behandelt: Eine Grafik, die auch definiert, um was für einen Typ Abstimmung (Initiative, obligatorisches oder fakultatives Referendum) es sich handelt und wann die Abstimmung stattfand, stellt das Ergebnis auch nach Kantonen dar; dazu eine Vorgeschichte inklusive Inhalt der Abstimmung, der Verlauf der Abstimmungsdebatte und die Wirkung des Resultates. Die Texte sind ohne Politslang geschrieben und durch Zitate von Fachpersonen oder Akteur:innen aufgelockert. Die beiden Autoren bemühen sich um eine sachliche Darstellung, gehören zum fortschrittlichen Teil der Bevölkerung und verteidigen den Wert der direkten Demokratie klar, wobei sie darauf hinweisen, dass sie in der Schweiz mit der fehlenden Beteiligung der ausländischen Bevölkerung noch einen Makel besitzt, den sie allerdings nicht so hoch gewichten wie das bis 1971 fehlende Stimmrecht der Frauen.

Sie sind überzeugt, dass das in der Regel viermalige Abstimmen pro Jahr über mitunter auch komplexe und emotionale Themen die Demokratie stärkt und die Akzeptanz der Entscheide deutlich steigert. Nicht immer entscheidet die erste Abstimmung eine Thematik (die Anzahl Ausländer:innen etwa oder früher die Mutterschaftsversicherung waren Dauerbrenner), aber oft fielen mit Abstimmungen Entscheide, die seither höchstens noch verändert, aber nicht mehr infrage gestellt wurden – etwa die AHV oder das Proporzrecht.

Die erste Abstimmung, die sie auswählten, betrifft die Totalrevision der Bundesverfassung von 1974, die die Weichen von der parlamentarischen bis exekutivbestimmten Demokratie von 1848 zur direkten Demokratie stellte. In eine ähnliche Kategorie gehören das Proporzwahlrecht (1918), die Rücknahme der Vollmachten (1949), das Frauenstimmrecht (1971), der EWR-Beitritt, respektive Nichtbeitritt (1992 und der UNO-Beitritt (2002).

Das Eisenbahngesetz (1877) und die Kriegssteuer (1915) waren die beiden wichtigsten Astimmungen, die den Bund als Zentralstaat stärkten. Das Fabrikgesetz (1874) war das erste bedeutende Sozialgesetz, dem die AHV (1987), das neue Eherecht (1985) und die Mutterschaftsversicherung (2004) folgten. Ganz sicher zentral war das Strafgesetzbuch (1938), dem die Anti-Rassismus-Strafnorm (1994) und die Verwahrung (2004) folgten. Rothenthurm (1985) war der Beginn der Umweltgesetzgebung, die mit dem Atom-Moratorium (1990) und dem Gentech-Moratorium (2005) eine Fortsetzung erfuhr. 

19 der 30 ausgewählten Abstimmungen erlebte ich als  Engagierter auf einer Seite. Insofern weckte das Buch mitunter Erinnerungen, schöne und andere. Ich glaube, dass das Buch auch für nur Interessierte ausgesprochen lesenswert und informativ sein kann.

David Hesse, Philipp Loser: Heute Abstimmung! Limmat Verlag, 2024, 245 S., ca. 40 Fr.