Das Fextal und das Bergell grenzen beide an Italien, sie sind also rein von ihrer Lage her für das Schmuggeln von Waren und Personen her bestens geeignet. Zumal auf beiden Seiten der Grenze eine Bevölkerung lebt, die zusätzliche, auch illegale Verdienste ausgesprochen gut benötigen kann. Man verkehrt seit jeher miteinander und viele Italiener:innen arbeiten im Bergell und im angrenzenden Engadin. Geographisch unterscheiden sich die beiden Täler: Im Fextal liegt die Grenze überall deutlich oberhalb der 2000 Meter-Grenze, der Grenzübergang erfordert alpine Wanderfähigkeiten. Im Bergell existieren steile Passübergänge als Schmuggelwege zwar auch, aber man kann die Grenze auch im Tal recht bequem überqueren. Der «unspektakuläre» Schmuggel, in dem man beim regulären Grenzübertritt Waren in den Kleidern oder auch in einem ausgehöhlten Baumstamm eines Holztransportes unverzollt mitnahm, spielte hier eine Rolle, im Fextal nicht. Auch bei den Flüchtlingen, die vor allem im Zweiten Weltkrieg kamen, führte dies zu grossen Unterschieden: Ins Fextal flüchteten sich vor allem Deserteure der italienischen Armee und Junge, die befürchteten, als Zwangsarbeiter nach Deutschland verfrachtet zu werden. Ins Bergell flüchteten sich viel mehr jüdische Familien und auch sonst mehr Frauen mit Kindern. Das Buch ist deutlich zweigeteilt in einen ersten Teil, der sich mit dem Schmuggel befasst, und in einen zweiten Flüchtlingsteil, bei dem die Schweizer Flüchtlingspolitik eine grosse Rolle spielt, die darauf ausgerichtet war, auch die aufgenommenen Flüchtlinge nach dem Krieg wieder loszuwerden. Beim Schmuggelteil ist dank den Aufzeichnungen der Grenzwächter ihr Arbeitstag und ihre Rolle recht gut rekonstruierbar. Sie hatten hinten in diesem Seitental des Oberengadins mit der Hütte Chalchais einen eigenen Grenzposten, in dem sie auch schliefen und sich selber versorgten. Der Posten war das ganze Jahr besetzt, zuerst nur von einem, später von zwei Grenzwächtern. Diese kamen immer von auswärts, sie wurden nach Belieben und sehr oft auch sehr kurzfristig versetzt und sollten mit der lokalen Bevölkerung möglichst wenig in Berührung kommen. Der Grund für den Abstand zur Bevölkerung liegt auf der Hand: Diese verdiente erstens am Schmuggel selber recht gut und zweitens waren sie sich nahe. Sowohl die italienischen Schmuggler (Engadiner gewährten nur Unterschlupf) wie die Bevölkerung im Engadin waren arm. Bis zum Zweiten Weltkrieg handelte es sich vor allem um Ausfuhrschmuggel von der Schweiz nach Italien (Tabak, Zigaretten, Kaffee), was den Schweizer Zoll nicht sehr interessierte. Als im Verlauf des Zweiten Weltkriegs viele Waren knapp wurden und die Italiener vieles aus Italien schmuggelten, änderte sich dies, die Kontrollen wurden intensiver, die Strafen blieben allerdings eher milde. Die Italiener waren vor allem an Salz interessiert, das sie für ihr Vieh benötigten und tauschten es gegen Reis und ähnliches. Rigoros erfolgte die Kontrolle vor allem in Zeiten von Viehseuchen. Von den Grenzwächtern wurden sehr lange Arbeitszeiten mit grossen Marschleistungen verlangt und auch intensiv kontrolliert. Der Verdienst war mager, die Stellung dafür gesichert und das Ganze in einem negativen Sinne extrem militärisch ausgerichtet. Mit Befehlen, die sich aber gerade betreffend Flüchtlinge oft durch Unklarheiten und Widersprüche auszeichneten. Die Flüchtlinge spielten vor allem im Bergell zwischen 1943 und 1945 eine Rolle. Im Fextal war die Kontrolle auf der italienischen Seite durch die Deutschen seit 1944 sehr eng. Auch in der Schweiz wurde, wenn auch selten, auf Flüchtlinge beim Grenzübertritt geschossen. Vor allem Junge, die vor der Eingliederung in die deutsche Armee flohen, wurden an der Grenze recht strikte zurückgewiesen. Aufgenommen wurden meist Partisanen und Deserteure. Ihnen begegnete die Bevölkerung, sofern sie sie überhaupt wahrnahm, oft mit spontaner Hilfe. Sie wurden in der Regel rasch in Lager (zuerst in Samedan) weitergeschoben. Die Jüd:innen (es waren weniger als 100) wurden rasch in die verschiedenen Lager weitergereicht. Vor allem in militärischen Kreisen war der Antisemitismus recht verbreitet, aber im Bergell führte er selten zu Rückweisungen. Das ehemalige Hotel Helvetia in Vicosoprano diente 1944 als Internierungslager für vorwiegend Jüd:innen. Die Dorfbewohner:innen und die Flüchtlinge lebten auch wegen der Sprachbarrieren und des Kontaktverbots eher nebeneinander, wobei ihnen beim Hotelbrand sehr spontan geholfen wurde.
Mirella Carbone, Joachim Jung: Grenzerfahrungen. Verlag hier und jetzt 2024, 548 Seiten, ca. 49 Franken.