Zwischen 160 und 220 Personen wurden im Kanton Appenzell Innerrhoden zwischen 1930 und 1981 administrativ versorgt, was eine Umschreibung für den Tatbestand ist, dass diese Personen ohne Gerichtsurteil in einer meist geschlossenen Anstalt auf unbestimmte Zeit landeten. Dass Iris Blum die Zahl nicht genauer festlegen kann, liegt an mehreren Umständen: Die Standeskommission des Kantons musste zwar jeder Versorgung zustimmen, aber sie hielt diese Entscheide nicht in einer speziellen Rubrik fest. Man hätte also die ganzen Protokolle der Jahre durchlesen müssen, um die exakte Zahl zu erhalten. Die Versorgten landeten in etlichen Anstalten ausserhalb des Kantons. Diese Anstalten hatten zwar Listen ihrer Insass:innen, aber da mehrere im Laufe ihres Lebens mehrmals in mehreren Anstalten versorgt wurden, wäre die exakte Erfassung der Zahl sehr aufwendig und zeitintensiv. Zeit, die Iris Blum nicht hatte. Ihr Forschungsauftrag war auf drei Monate beschränkt. Wobei sie auf die Erkenntnisse der Unabhängigen Expertenkommission der Eidgenossenschaft zurückgreifen konnte, die in einem grossen Bericht die Erkenntnisse zusammenfasste und den Betroffenen neben einer Entschuldigung der beiden Bundesrätinnen Eveline Widmer-Schlumpf und Simonetta Sommarugua auch eine Entschädigung brachte. Der Kanton Appenzell Innerrhoden beteiligte sich mit 200 000 Franken am dazugehörigen Solidaritätsfonds. Bereits vor der Arbeit von Iris Blum zu den administrativ Versorgten hatte Innerrhoden seine unrühmliche Vergangenheit mit Verdingkindern aufgearbeitet.
Vor allem arm
Bei den rund 200 administrativ Versorgten handelt es sich ausschliesslich um Erwachsene über 20 Jahren, was keineswegs bedeutet, dass in der Praxis die Trennung so klar stattfand. Etliche landeten bereits als Jugendliche oder Kinder erstmals in einem Heim und setzten ihre ‹Karriere› als Erwachsene fort. Da Innerrhoden keine eigene Anstalt für administrativ Versorgte und auch keine Psychiatrie besass, aber durchaus Arme, die in Armen- und Waisenhäusern lebten, kam es zu Vermischungen. Der Grossteil der Versorgten kam indes in oft private Anstalten der weiteren Umgebung. Dominant waren einerseits das Gefängnis Gmünden in Appenzell Ausserrhoden, wo sich Innerrhoden Plätze durch einen Vertrag sicherte, und dann vor allem die Grossanstalt Bellechasse im Kanton Freiburg, wo bis zu 80 Prozent der Versorgten aus Appenzell einsassen.
Die Versorgten hatten einen grossen gemeinsamen Nenner: Sie waren arm und sie lebten ihre Armut so, dass sie auffiel oder so, dass sie mit ihrem Lebenswandel aneckten. Rund 80 Prozent der Versorgten waren männlich und ihr unangebrachter Lebenswandel bestand fast immer darin, dass sie zu viel tranken. Bei ihnen gab es vor der Versorgung so etwas wie eine Vorstrafe oder Vorwarnung. Sie erhielten ein Wirtshausverbot, bei dessen Nichteinhalten sie mit der Einweisung rechnen mussten. Bei den Frauen bedeutete der «liederliche Lebenswandel» ausserehelicher Geschlechtsverkehr mit oder ohne Schwangerschaft, verbunden mit dem Verdacht auf Prostitution.
In Appenzell Innerrhoden wirkte das Heimatortprinzip bei Armut sehr stark. Konnte jemand nicht mehr für sich selber aufkommen, war der Heimatort dafür verantwortlich. 1941 etwa lebten 15 700 Bürger:innen von Appenzell Innerrhoden ausserhalb des Kantons, im eigenen Kantonsgebiet waren es 13 400 Bürger:innen. Der Kanton war ein Abwanderungskanton, gehörte zu den armen Kantonen in der Schweiz und musste einen Teil jener die draussen scheiterten, wiederum zurücknehmen und für sie sorgen. Dass für dieses Zurücknehmen gearbeitet werden musste, war für damalige Zeiten selbstverständlich.
Aktenbiographien
Der Bericht von Iris Blum basiert – neben der grossen Arbeit der eidgenössischen Expertenkommission – ausschliesslich auf den offiziellen Akten, die vor allem die Behördensicht zeigen. Diese Akten dienten dem Verkehr zwischen den Behörden. Ein Teil der Versorgten lebt noch (am meisten Personen wurden in den 30er- und 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts versorgt), aber für Interviews mit ihnen reichte der zeitliche Forschungsrahmen von 3 Monaten nicht aus. Dafür berücksichtigte Iris Blum die in den Akten vorhandenen Eingaben oder Bemerkungen von Betroffenen umso intensiver. Da gegen die administrative Versorgung kein Rekursrecht bestand und der oder die Versorgte auch nicht in einem rechtlichen Verfahren angehört werden musste, fehlt deren Sicht bei den Akten meist. Viele wehrten sich vor allem, indem sie immer wieder flohen oder passiven Widerstand leisteten. Aber es gab auch Versorgte, die sich schriftlich wehrten und deren Eingaben in den Akten vermerkt sind. Es lohnt sich, diese von Iris Blum hervorgehobenen Einzelschicksale zu lesen. Auffallend dabei sind aber weniger die Biographien, die sich oft gleichen, als die Willkür und die grosse Macht vor allem der Vormünder. Wie lange die Versorgung galt (in der Regel mindestens ein Jahr), was für Kriterien sie für eine Entlassung erfüllen mussten, war für die Betroffenen undurchsichtig. Dazu kamen die objektiven Schwierigkeiten: Die meisten von ihnen hatten keine Berufslehre, im Appenzell der damaligen Zeit lebte die Hälfte der Bevölkerung eher schlecht als recht von der Landwirtschaft und die Versorgten erhielten in den Anstalten keine Ausbildung. So waren ihre Chancen, eine Arbeit zu erhalten, von der sie (geschweige denn eine Familie) leben konnten, recht klein.
Die administrative Versorgung erfolgte durch einen Entscheid der Standeskommission, wobei der stillstehende Landammann den Vorsitz der Delegation hatte. Die Standeskommission folgte in der Regel den Anträgen der vorbereitenden Behörden ohne grosse Diskussion. Und hier war vor allem der Armensekretär die massgebende Instanz. In all den Jahren waren dies nur zwei: Vater und Sohn Koller. Die Versorgten erhielten einen Vormund, entweder den Amtsvormund oder einen Laienvormund. Neben der fehlenden Rechtsmöglichkeiten wie in der ganzen Schweiz kam in Appenzell noch eine sehr kleine Anzahl Personen der Entscheidungsträger hinzu, die erst noch stark mit der katholischen Kirche liiert waren. Dass dies gerade in den eher engen 30er- und 40er-Jahren, aber auch darüber hinaus, auch als sich die wirtschaftlichen Verhältnisse besserten, zu wenig Abweichungen bei der tolerierten Lebensführung zumindest der Armen führte, liegt auf der Hand. Auch wenn es in Appenzell kaum schlimmer als anderswo war.
Iris Blum, Administrative Zwangsmassnahmen im Kanton Appenzell Innerrhoden 1930 bis 1981, Bericht im Auftrag der Standeskommission, im Buchhandel erhältlich.