Am frühen Morgen des 21. Dezember 2014 kam die frisch gewählte Zuger Kantonsrätin Jolanda Spiess-Hegglin nach der Landamannfeier verwirrt nach Hause. Sie hatte einen Filmriss und bis heute nur unklare Erinnerungsfetzen an jene Nacht, die sie zu einer der bekanntesten Frauen der Schweiz machte. Sie begab sich ins Spital, weil sie im Unterleib Schmerzen verspürte und den Verdacht hegte, sie könnte ein Opfer von K.O.-Tropfen geworden sein. Das Zuger Spital reagierte relativ ungeschickt: Erstens nahm es nicht sofort Blut ab, obwohl diese Tropfen nur kurze Zeit im Blut nachzuweisen sind, und zweitens machte die Oberärztin eine Meldung an die Staatsanwaltschaft, die ohne Hegglins Wissen eine Untersuchung einleitete. Was in der Nacht an der Landammannfeier oder auf der Taxifahrt wirklich geschah, bleibt bis heute nicht ganz geklärt. Mit grosser Wahrscheinlichkeit wurden Jolanda Spiess-Hegglin Betäubungstropfen verabreicht, wobei es unklar bleibt, von wem. In ihrem Intimbereich fand man DNA-Spuren von zwei Männern; einerseits von jenem SVP-Kantonsrat, der als ihr Vergewaltiger oder Schänder in Verdacht stand, und vom anderen, der in der ganzen Geschichte praktisch draussen blieb. Es liegt auf der Hand, dass die Staatsanwältin auch versuchte abzuklären, ob Jolanda Spiess-Hegglin mit ihrer Version nicht von einem Seitensprung ablenken wollte. Die Geschichte wäre wohl wie viele aus dem Bereich der sexuellen Delikte mit oder ohne Schuldspruch still abgeschlossen worden. Wenn nicht die Medien eingegriffen hätten. Einerseits berichtete die ‹Zuger Zeitung› rasch über den Vorfall, anderseits erschien der ‹Blick› vom 24. Dezember mit der Schlagzeile «Hat er sie geschändet?», flankiert von einem Bild von Jolanda Spiess-Hegglin und dem verdächtigten SVP-Kantonsrat. Der Artikel schlug derart ein, dass der ‹Blick› eine Kampagne lancierte. Insgesamt publizierte er 150 Artikel in dieser Sache, was zu insgesamt gut 2000 Artikeln in fast allen anderen Zeitungen führte. Dazu kam die ganze Ausbreitung in den Sozialen Medien, wogegen sich Jolanda Spiess-Hegglin wehrte. Sie schildert in ihrem Buch vor allem die Aktionen von zwei Stalkern und deren Zusammenarbeit mit einer ‹Tages-Anzeiger›-Journalistin eingehend. Da ich davon wenig verstehe, bleibt dieser durchaus wichtige Teil des Buches hier unrezensiert.
Kein öffentliches Interesse
Die ‹Blick›-Artikel und die meisten anderen haben einen grundsätzlichen Aspekt, den eine ‹Watson›-Praktikantin im Artikel von Hansi Vogt aus dem Jahr 2017 am besten formulierte: «Es gibt kein öffentliches Interesse an den sexuellen Handlungen zweier völlig unbekannter Lokalpolitiker in der Zentralschweiz. Ob einvernehmlich oder nicht, klärt die Staatsanwaltschaft. Alles, was wir machen, verletzt die Intimsphäre. Das kann man drehen und wenden, wie man will. So oder so. Die Namen hätten nie genannt werden dürfen. Das hat mit Journalismus nichts zu tun.» Wohl aber mit Gewinn. Die Frage, ob er sie vergewaltigte oder ob sie mögliche K.O.-Tropfen als Ausrede für einen Seitensprung nutzte, bewegte die Leserschaft nicht nur des ‹Blick›, und so wurden auf Teufel komm raus Artikel produziert, bei denen von halbwegs journalistischen Standards nicht mehr ansatzweise die Rede sein konnte. Es wurde etwa behauptet und frischfröhlich abgeschrieben, dass die Affäre bereits an einer Vorfeier begonnen habe, obwohl Jolanda Spiess-Hegglin an dieser gar nicht teilgenommen hatte.
Sie fragt sich, ob die Aufmerksamkeit mit der Zeit im Sand verlaufen wäre, wenn sie sich nicht gewehrt hätte. Aber erstens entsprach es ihr und ihrem Mann nicht, Unrecht wehrlos zu ertragen, und zweitens taten die Zuger Elite und die Medien alles, um sie schlecht dastehen zu lassen. Was auch an den Gesellschaftsstrukturen lag. Hätten sich die beiden Beteiligten, um Ruhe zu haben, auf einen einvernehmlichen Quickie geeinigt, wäre sie als Luder dagestanden, während er höchstens den Zorn seiner Ehefrau hätte befürchten müssen. Ihm hätte nur der Verdacht auf Verwendung von K.O.-Tropfen schaden können. Und dagegen half ihm zunächst das Spital mit der zeitlich verpassten Blutentnahme und anschliessend die Staatsanwaltschaft mit ihrer Kommunikation. Sie hatte, obwohl die Wahrscheinlichkeit der Nachweismöglichkeit sehr klein war, Jolanda Spiess-Hegglin zu einer Haarprobe überredet, deren Ergebnis erwartungsgemäss negativ ausfiel. Sie kommunizierte folgendermassen: «In der am Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich ausgewerteten Haarprobe sind keine Spuren von GBH nachweisbar. Es liegen demzufolge keine Anhaltspunkte vor, wonach die 34-jährige Frau mit solchen Substanzen betäubt worden war.» Diese Aussage ist als Medientext etwa so sinnvoll, wie wenn man bei mir vier Tage nach einem Besäufnis eine Blutprobe entnimmt und dann schreibt, für eine damalige Trunkenheit lägen keine Anhaltspunkte vor.
Gefundene Formel
Jolanda Spiess-Hegglin wehrte sich vor Gericht gegen den ‹Blick› und andere, sie gewann und gab sich mit einer Entschuldigung und einer minimen Entschädigung nicht zufrieden. Wer etwas stiehlt, muss den Erlös aus der gestohlenen Ware auch zurückgeben, also muss auch der Erlös aus den unrechtmässigen Artikeln zurückgegeben werden. Hier haben der ‹Blick› und auch die anderen Medien wegen der technischen Entwicklung Pech. Konnten sie bisher damit argumentieren, man wisse nicht, welcher Artikel zu welchem Umsatz geführt habe, gilt das seit der Einführung der Klicks samt dazugehörender Werbung nicht mehr. Auch dank der Mitarbeit von Hansi Voigt konnte eine Formel entwickelt werden, die den Gewinn für den ‹Blick› aus jedem der 150 Artikel errechnen kann. Es sieht so aus, dass diese oder eine ähnliche Formel vom Gericht anerkannt wird. Damit hat sich etwas Grundlegendes in den Medien geändert: Wer Mist schreibt, kann daran nicht mehr verdienen.
Dieser Aspekt, so die Annahme von Jolanda Spiess-Hegglin, ist auch der Grund, warum nun eine ‹Tages-Anzeiger›-Journalistin im Auftrag und im Schutz des Verlags ein Buch schrieb, das die ganzen Vorkommnisse der Landammanfeier nochmals aufwärmt und die Grüne als eine Frau darstellt, die einen SVP-Politiker anzeigte und damit seine Karriere ruinierte. Um das Buch wird auch prozessiert, bisher mit Vorteilen für Jolanda Spiess-Hegglin.
Das Buch von Jolanda Spiess-Hegglin ist nicht immer ein angenehmes und mitunter auch etwas weitschweifig. Aber es ist ein sehr wichtiges Buch, und ihr gebührt für ihr Wehren ein grosses Dankeschön.