Die Polarisierung

Stephan Bierling befasst sich in seinem Buch «Die unvereinigten Staaten» mit der Polarisierung in den USA, bei der er Donald Trump als Beschleuniger, aber nicht als Alleinverantwortlichen sieht. Die mit der Polarisierung vor allem auf republikanischer Seite einhergehende Korrektur der Wahlkreise kann in seinen Augen zu einer Gefährdung der Demokratie führen.

Es ist nicht gerade eine Empfehlung, wenn man als Gast bei der TV-Sendung NZZ-Format sich mit dessen Chefredaktor Erich Guyer über die amerikanischen Wahlen recht einvernehmlich unterhält, wie dies Stephan Bierling, Professor für internationale Politik und transatlantische Beziehungen an der Universität Regensburg, erst kürzlich tat. Trotzdem lohnt sich sein Buch. Erstens erklärt er mit vielen historischen und aktuellen Beispielen, wie die amerikanische Verfassung und Politik in vielen Details funktioniert. Sie ging davon aus, dass niemand in den USA zu viel Macht haben sollte, also weder der Bundesstaat noch die Einzelstaaten, weder der Präsident noch der Kongress (der bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts ausser bei der Aussenpolitik die Führung mit zwei Kammern behielt), weder die Politik noch die Justiz. Entscheidend dabei ist, dass alle Wahlen in den USA nach dem Majorzsystem funktionieren. Zwar spielt die Einwohnerzahl der einzelnen Staaten für die Anzahl ihrer Vertretungen im Repräsentantenhaus (entspricht etwa unserem Nationalrat) eine Rolle, aber jeder Einzelstaat ist in Wahlkreise eingeteilt, in dem je nur ein Sitz an jene oder jenen vergeben wird, der am meisten Stimmen hat. Im Senat (entspricht unserem Ständerat) entsendet jeder Einzelstaat zwar zwei Abgeordnete. Das führt, ähnlich wie in Grossbritannien, faktisch zu einem Zweiparteiensystem. In den USA waren die Demokraten und die Republikaner die längste Zeit vor allem Wahlvereine und nur sehr bedingt Werteparteien. Mit Statistiken zeigt Stephan Bierling, dass bei der Gesetzgebung die Parteizugehörigkeit lange eine kleinere Rolle als die Interessensvertretung spielte, sei es eines Wirtschaftszweiges oder einer Region. Im amerikanischen Parlament dominierten bei der praktischen Arbeit Ausschüsse, Herkunft und Anciennität lange über die Parteizugehörigkeit.

Auch bei der Wahl des Präsidenten funktioniert das Prinzip des Alles-oder-Nichts, wobei die Einzelstaaten je nach Einwohnerzahl unterschiedlich viele Wahlmänner delegieren, die aber mit einer unbedeutenden Ausnahme verpflichtet sind, für den in diesem Staat Siegreichen zu stimmen. Das führt einerseits dazu, dass es sehr gut möglich ist, dass der gewählte Präsident in ganz USA weniger Wähler:innenstimmen als seine Kontrahentin erreicht und dass anderseits sich der Wahlkampf auf ganz wenige Staaten konzentriert (diesmal faktisch auf Pennsylvania), in denen der Ausgang ungewiss ist. 

Rasse, Religion, Lebensqualität

In den USA nahm wie in fast allen anderen Ländern das Gewicht des Präsidenten und der Verwaltung gegenüber dem Parlament seit dem Zweiten Weltkrieg zu. Zusätzlich geriet das System, das sehr lange mit einer guten Balance funktionierte (ob die Ergebnisse für alle immer so gut waren, ist eine andere Frage), ab den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts zunehmend aus dem Gleichgewicht, und aktuell sind das Land, respektive ihre beiden Parteien, polarisiert wie sonst fast nirgends. Parteidisziplin geht über fast alles und der Graben geht auch durch die Verwaltung, die Gerichte und die Medien.

Stephan Bierling sieht dafür drei Hauptgründe: Rasse, Religion und Lebensqualität. Bis gut in die Mitte des 20. Jahrhunderts waren die USA, auch wenn der Kampf um die Gleichberichtigung der Schwarzen vorher begann, politisch ein Staat der Weissen. Sie stellten 1950 89 Prozent der Bevölkerung, heute sind es noch 58 Prozent und die Minderheiten verlangen viel dringender Mitbestimmung. Die Religion spielte in den USA im Alltag zwar eine grosse Rolle, aber politisch lange nicht. Die Pille, die Rockmusik, die Frauenbewegung, die Schwulenbewegung, das Verbot der Rassentrennung in der Schule empörte die christlichen Hardliner, die in der Abtreibung einen Aufhänger fanden, den nicht nur Trump ohne eigene Überzeugung aufnahm. Als drittes Element kommen die unterschiedlichen Lebensqualitäten oder Chancen dazu. Die Möglichkeiten für ein nicht nur materiell gutes Leben waren in den 1950er-Jahren auch für viele Angelernte fast so gut wie für Gutausgebildete, veränderten sich indes mit dem Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft; die Differenzen bei den Vermögen (weniger beim Einkommen) wuchsen rapide an. Das führte zu einer zunehmenden Polarisierung, die dann vor allem Trump, nachdem die Leute der Tea Party kräftig vorgearbeitet hatten, resolut ausnutzte und die Republikanische Partei an sich riss.

Wahlkreisarithmetik

Die Polarisierung frisst sich fast selbstständig weiter. Das derzeit wohl Gefährlichste: Wo vor allem die Republikaner Mehrheiten in Parlamenten, beim Gouverneur und in den Gerichten besitzen, verändern sie die Einteilung der Wahlkreise so, dass sie mit gleichvielen Stimmen mehr Sitze erhalten: Etwa indem verschiedene Regionen, in denen die Demokraten sehr stark sind, zu einem Wahlkreis zusammenfasst werden. Hier gewinnen die Demokraten dann zwar haushoch, aber dafür verlieren sie in benachbarten Wahlkreisen die Mehrheit. Die Demokraten sind zwar keine Engel, aber ihr Bestreben geht dahin, die Registrierung für die Wahlen zu erleichtern, da sie sich von bisher Unregistrierten Stimmen erhoffen. 

Die Einteilung der Wahlkreise spielt eine grosse Rolle, weil kein proportionales Element für einen Ausgleich sorgt. Das führt dazu, dass die Demokraten nicht nur für die Präsidentenwahl faktisch eine deutliche Mehrheit benötigen, sondern auch in den Einzelstaaten für das Parlament. Zudem verlegt das strikte Majorzsystem in Einerwahlkreisen die Auseinandersetzung in die internen Vorwahlen der Parteien, in denen sich heute meist linientreue Hardliner durchsetzen. Da eine Änderung des Majorzsystems eine Verfassungsänderung voraussetzt, die Stephan Bierling als fast unmöglich erachtet, schlägt er vor, wenigstens die Vorwahlen der Parteien zu öffnen. Er erhofft sich dadurch, dass so Kandidat:innen, die regionale Interessen in den Vordergrund stellen, wieder grössere Chancen gegenüber linientreuen Parteikadern haben.

Bei anderen Reformen, wie etwa der Direktwahl des Präsidenten, hat er Einwendungen. Abgesehen davon, dass auch dies eine Verfassungsänderung benötigte, würde sich der Zustand, dass nur wenige Einzelstaaten den Ausschlag geben, wohl vor allem verschieben. Der Wahlkampf würde sich von den heutigen Swingstaaten auf die Grossen verlagern.

Stephan Bierling: Die unvereinigten Staaten. C.H. Beck Verlag, 2024, 336 Seiten, ca. 42 Franken.