Jakob Rudolf Forster verbrachte seine Jugend in Brunnadern, einem Dorf im St. Gallischen Neckertal. Seine Eltern lebten mehr schlecht als recht vom Honighandel und ähnlichem, seine Schwester geriet immer wieder einmal in den Verdacht der Prostitution und sein Halbbruder erhielt immer wieder Beiträge der Gemeinde, die an der Familie alles andere als Freude hatte und die immer versuchte, sie abzuschieben. Er selber schlug sich ein Leben lang mit Handel und Geschäften aller Art durch. Er handelte ebenfalls mit Honig (teils mit dem aufkommenden Kunsthandel, was zu Konflikten mit den Bienenzüchtern führte), mit Immobilien und vor allem betrieb er eine Heiratsvermittlung. Mit seinen Geschäften geriet er mitunter in den Verdacht des Betrugs und diese Anschuldigungen waren nicht nur Vorwände, um ihn als Urning (so hiessen und nannten sich die Homosexuellen damals) zu bestrafen. Seine Betrügereien hielten sich in Grenzen und der Grossteil seiner Strafen und Verfahren erfolgten, weil er sein Schwulsein offen auslebte und mit Schriften dafür kämpfte. Was eine Straftat war, auch wenn diese nicht überall in der Schweiz gleich aktiv verfolgt wurde. Für Jakob Forster war sein Schwulsein nie eine Frage. Als Knabe spielte er gerne mit Mädchen, fühlte sich aber sexuell von ihnen abgestossen und nur zu Knaben hingezogen. Er begann früh, vor allem in St. Gallen, seine Sexualität zu leben, führte in einem Heft auch Buch über seine Liebhaber – es waren bemerkenswert viele und er pflegte sein Leben lang viele Freundschaften (inklusive Sex) parallel und war auch Quickies selten abgeneigt. Er wusste selbstverständlich, dass männermännerliebender Sex strafbar war, aber er akzeptierte dies nie. Er und seine Liebhaber bestritten lediglich konsequent den Analverkehr: Nicht weil sie ihn nicht praktizierten, sondern weil vor allem die Staatsanwaltschaft sich darauf konzentrierte. Diskretes gegenseitiges Onanieren wurde stillschweigend zwar nicht toleriert, aber übersehen. Beim Verdacht auf Analverkehr rückte die Staatsanwaltschaft mit allen medizinischen und forensischen Möglichkeiten an, um ihn nachzuweisen, was praktisch meist nur gelang, wenn einer der Beteiligten es zugab.
Jakob Forster machte – abgesehen vom Analverkehr – aus seiner Homosexualität nie ein Geheimnis. Er, der in der Schule kaum schreiben und lesen lernte, bildete sich autodidaktisch aus und ging nach Deutschland, wo er in Stuttgart die Bekanntschaft von Karl Heinrich Ulrichs machte. Dieser hatte die Theorie des «Uranismus» entwickelt, in der er auf naturwissenschaftlicher Basis bewies, dass mannmännliche Liebe natürlich und angeboren sei und dass Urninge eine dritte Geschlechtskategorie seien. Jakob Forster wurde ein begeisterter Anhänger und Freund von ihm, er vertrieb seine Broschüren und war auf der Höhe der Diskussion über die Homosexualität. Er büsste seine Offenheit und sein aktives Eintreten für die Urninge mit einer Verurteilung nach einem langen Prozess in St. Gallen und auch in Zürich. Nach dem Gefängnisaufenthalt musste er für seine Niederlassung als Voraussetzung für seine Geschäfte kämpfen (lange vergeblich), landete in der Arbeitserziehungsanstalt und dann zweimal in der Psychiatrie. Eine Ausreise nach Südamerika, die ihm die Gemeinde Brunnadern anbot, hatte er abgelehnt. Er wurde einmal vom Anstaltsdirektor Otto Weller in Pfäfers und einmal von August Forel im Zürcher Burghölzli begutachtet und war damit mitten in der psychiatrischen Auseinandersetzung um die Frage der Homosexualität. Recht vereinfacht gesagt (die beiden Buchautoren führen dies sehr differenziert und ausführlich aus), kommen die beiden Psychiater zum Schluss, dass es eine angeborene und auch eine erworbene Homosexualität gebe. Bei Jakob Forster sei sie angeboren und sollte somit wie eine Krankheit toleriert und nicht bestraft werden. Allerdings sei darauf zu achten, dass die Angeborenen nicht Gelegenheit erhielten, andere Männer zu verführen. Was praktisch zu einem rigorosen Jugendschutz führte. Die letzten 20 Jahre verbrachte Jakob Forster in relativer Ruhe und in gesicherten Finanzverhältnissen in Zürich – meist im Aussersihl. Er prägte die Geschichte der Homosexualität in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wesentlich mit. Wie, weisen die beiden Autoren überzeugend nach.
Philipp Hofstetter, René Hornung: Der Urning. Verlag Hier und Jetzt, 2024, 383 S., ca. 45 Fr.