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Braucht es die Frischgeld-Kur für alte AKW?
Am 15. Dezember wird das AKW Leibstadt 40 Jahre alt. Am 5. Dezember fand aus diesem Anlass vor dem Bundeshaus eine Kundgebung statt. Dazu aufgerufen hatten die Ärztinnen und Ärzte von PSR/IPPNW Schweiz (siehe Kasten). Ihre Kolleg:innen der deutschen IPPNW richteten sich an einer gleichzeitig stattfindenden Kundgebung in Stuttgart an die verantwortlichen Behörden in den Umweltministerien von Baden-Württemberg und in Berlin.
In seiner Ansprache in Bern führte Dr. med. Claudio Knüsli, Vorstandsmitglied PSR/IPPNW Schweiz, gemäss auf der Website veröffentlichtem Manuskript aus, dass das AKW Leibstadt «für die Betriebszeit von 40 Jahren ausgelegt» gewesen sei. «Trotzdem plant man nun, das AKW über den 15. Dezember 2024 hinaus laufen zu lassen – für mehrere zusätzliche Jahrzehnte.» Jede Energieform berge ihre eigenen Risiken, fügte er an, «das Risiko der Atomenergie ist aus ärztlicher Sicht jedoch unverantwortlich hoch». Die 500 Ärztinnen und Ärzte sowie über 250 weitere Unterstützer:innen aus dem Gesundheitssektor aus der Schweiz und Deutschland, welche die Schweizer Sektion von IPPNW vertritt, verlangten in einem Offenen Brief vom Parlament und vom Energieminister Bundesrat Albert Rösti eine Umweltverträglichkeitsprüfung für das AKW Leibstadt.
Höhere nukleare Risiken
Die nuklearen Risiken seien heute höher als bei Baubeginn des AKW Mitte der 1970er-Jahre, führte Claudio Knüsli weiter aus: «Wurde das AKW damals mit blindem Zukunftsglauben noch auf der grünen Wiese gebaut, so sind heute die enormen Gefahren der Atomenergie nicht mehr zu übersehen.» Seit Baubeginn in Leibstadt habe unter anderem die Einwohnerdichte allein im Kanton Aargau um 70 Prozent zugenommen. Damit sei auch «die Zahl der Strahlenexponierten sowohl im AKW-Normalbetrieb wie bei potenziellen Unfällen» gestiegen. Tschernobyl und Fukushima hätten uns die gravierenden gesundheitlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen schwerer AKW-Unfälle vor Augen geführt: «AKW-Unfälle werden heute wegen Alterung der Nuklearanlagen, internationalen Konflikten, Terrorgefahr sowie angesichts der Überflutungsrisiken infolge des Klimawandels immer wahrscheinlicher.»
Vor allem aber sprach er ausführlich zum spezifischen Risiko eines AKW, nämlich der radioaktiven, genauer der ionisierenden Strahlung: «Wir Ärztinnen und Ärzte beraten Patientinnen und Patienten zu Röntgen- und nuklear-medizinischen Untersuchungen. Strahlenschutz gehört zu unserem Alltag und unserer Aus- und Weiterbildung. Es hat in den letzten 40 Jahren zahlreiche neue Forschungsresultate zu den Strahlenrisiken gegeben.» Der international festgelegte zulässige Dosisgrenzwert aus künstlichen, nichtmedizinischen Quellen sei mit einem Millisivert pro Jahr und Person «aus ärztlicher Sicht viel zu hoch angesetzt».
«Dauerhaft stilllegen»
Im Offenen Brief schreiben die Ärztinnen und Ärzte denn auch, mit Blick auf die gesundheitlichen Strahlenrisiken im Normalbetrieb eines Atomkraftwerks müsse die Nutzung der Atomenergie «umgehend» beendet und das AKW Leibstadt «dauerhaft stillgelegt» werden. Die «Studie zu Sicherheitsdefiziten des Schweizer AKW Leibstadt» von 2021 habe «dringlich auf zahlreiche Mängel und Sicherheitsdefizite dieses Altreaktors» aufmerksam gemacht. Das Ergebnis einer 2023 durch den AKW-Betreiber durchgeführten periodischen Sicherheitsprüfung sei der Öffentlichkeit bisher nicht zugänglich gemacht worden, schreiben die Ärztinnen und Ärzte weiter: «Zudem ersetzt sie nicht den Qualitätsstandard einer Umweltverträglichkeitsprüfung.»
Schliesslich wird im Brief noch darauf hingewiesen, dass die Schweiz rechtlich gebunden sei, «eine weitere Betriebszeit des alten Atommeilers in Leibstadt nur nach einem den internationalen Rechtsnormen verpflichteten Verfahren zu gestatten». Dabei seien im Rahmen einer Umweltverträglichkeitsprüfung die «bisherigen Schwachstellen und Mängel» zu identifizieren, «die auch die Risiken durch Terror, Kriegseinwirkungen und veränderte Klimabedingungen aufzeigen». Mit einer länderübergreifenden Öffentlichkeitsbeteiligung müssten sodann «alle Resultate daraus» bei einer Entscheidung über eine weitere Betriebsfortsetzung berücksichtigt werden, halten die Ärztinnen und Ärzte fest.
«Internationale Abkommen verletzt»
In einer gemeinsamen Medienmitteilung vom 6. Dezember knüpfen die Schweizerische Energiestiftung SES, Greenpeace Schweiz und der Trinationale Atomschutzverband Tras an die Forderungen der Ärztinnen und Ärzte an. Die drei Organisationen informieren darüber, dass Anwohner:innen des AKW Leibstadt am 5. Dezember beim Bundesverwaltungsgericht eine Beschwerde gegen das Bundesamt für Energie (BFE) wegen «Rechtsverweigerung» eingereicht haben: «Nach internationalem Recht hätte die Schweiz die Umweltverträglichkeit aus eigenem Antrieb prüfen müssen, bevor das AKW Leibstadt in zehn Tagen den Langzeitbetrieb aufnimmt. Im Februar 2024 hatten Anwohnende ein entsprechendes Gesuch an das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation Uvek gerichtet. Das Uvek bzw. das BFE sind bisher nicht auf das Gesuch eingetreten.»
Damit schaffe das Uvek «Fakten, verletzt internationale Abkommen und übergeht die Betroffenen», heisst es in der Medienmitteilung. Und weiter: «Die Weigerung, auf das Gesuch der Anwohnenden einzugehen, steht im Kontrast zur Art, mit welcher Bundesrat Albert Rösti versucht, die Atomkraft in der Schweiz wiederzubeleben. Mit grossem Tempo strengt er demokratische Prozesse an, um das AKW-Neubauverbot zu streichen. Hingegen werden beim Langzeitbetrieb des AKW Leibstadt internationale Abkommen, kritische Stimmen und demokratische Rechte von Betroffenen ignoriert.» Denn die Umweltverträglichkeitsprüfung diene dazu, «nachteilige und grenzüberschreitende Auswirkungen des AKW-Langzeitbetriebs auf Mensch und Umwelt zu erkennen und mögliche Alternativen aufzuzeigen». Sie beinhalte auch die Konsultation der betroffenen Bevölkerung: «Dazu hat sich die Schweiz unter den Aarhus- und Espoo-Konventionen verpflichtet, worauf sich die Beschwerdeführenden berufen. Da das AKW Leibstadt in wenigen Tagen in den Langzeitbetrieb übergeht, hätte das Uvek also schon längst eine Umweltverträglichkeitsprüfung veranlassen müssen.»
Ablaufdatum für Beznau steht
Nun gab es letzte Woche aber nicht nur eine Kundgebung zum AKW Leibstadt: Die Axpo gab gleichentags bekannt, dass Block 2 des Kernkraftwerks Beznau noch bis 2032 und Block 1 noch bis 2033 am Netz bleiben wird. Dafür werde sie weitere 350 Millionen Franken investieren, hält die Axpo in ihrer Medienmitteilung vom 5. Dezember fest: «Somit wird Beznau im Jahr 2033 auf 64 Jahre zuverlässige und CO₂-arme Stromproduktion zurückblicken können.» Auf ihrer Webseite betont die Axpo übrigens auch, für die angekündigten Investitionen ins AKW Beznau erhalte sie keine Subventionen vom Bund: «Die Investitionen wird die Axpo aus laufender Geschäftstätigkeit finanzieren.» Und das machen die Aktionäre mit? Aber sicher: Die Axpo ist bekanntlich vollständig im Besitz der öffentlichen Hand. Die grössten Aktionäre sind der Kanton Zürich mit einem Aktienanteil von 18,342 Prozent und die Elektrizitätswerke des Kantons Zürich EKZ mit 18,410 Prozent.
Die Axpo habe für ihren Entscheid zum AKW Beznau «umfangreiche Abklärungen» getroffen, heisst es in der Medienmitteilung vom 5. Dezember weiter, und «in allen Überlegungen stand der Aspekt der Sicherheit an oberster Stelle». Sie habe zudem seit Inbetriebnahme «über 2,5 Milliarden Franken in die Nachrüstung und Modernisierung der beiden Kraftwerksblöcke» investiert. Ins Kernkraftwerk Leibstadt wurden seit Inbetriebnahme 1984 über 1,5 Milliarden Franken für «Instandhaltung, Erneuerung und Modernisierung» investiert, und bis 2032 seien «weitere Investitionen von gehen einer Milliarde Franken» geplant. Die Axpo betont ausserdem den «grossen Beitrag an die Versorgungssicherheit»: Das Kernkraftwerk Beznau produziere seit 1969 «pro Jahr sicher und klimafreundlich rund 6 Terawattstunden Strom mit einem hohen Winteranteil». Das entspreche dem Verbrauch von 1,3 Millionen Vierpersonenhaushalten. Da erstaunt es auf den ersten Blick nicht, dass die NZZ vom 6. Dezember titelt, «Wann geht der Schweiz der Strom aus?». Es drohe eine «mittelfristige Versorgungslücke», heisst es im Artikel. Holen wir also die schweizerische Elektrizitätsstatistik 2023 hervor und lesen darin folgendes: «Im Jahr 2023 lag der Stromendverbrauch in der Schweiz mit 56,1 Milliarden Kilowattstunden (Mrd. kWh) unter dem Niveau des Vorjahres (-1,7 Prozent). Die inländische Erzeugung (nach Abzug des Verbrauchs der Speicherpumpen) betrug 66,7 Mrd. kWh. Der physikalische Stromexportüberschuss lag bei 6,4 Mrd. kWh.» In eine für diese Grössenordnung gebräuchlichere Masseinheit übersetzt, steht in der Statistik also, dass der Verbrauch bei 56,1 Terawattstunden lag. Die inländische Erzeugung betrug 66,7 Terawattstunden und der Stromexportüberschuss 6,4 Terawattstunden. Will heissen: 2023 exportierte die Schweiz mehr Strom, als das AKW Beznau pro Jahr liefert. Hier noch eine weitere Zahl, dieses Mal von der Webseite des schweizerischen Fachverbands für Sonnenenergie (swissolar.ch) zur Photovoltaik: «Die per Jahresende 2023 installierte Leistung liegt bei über 6200 Megawatt, was 2024 eine Jahresstromproduktion von rund 6 Terawattstunden ermöglicht.»
Für die Versorgung oder für den Export?
Rein von der Menge her gesehen sind sechs Terawattstunden weniger Atomstrom also kein Problem. Die inländische Stromproduktion aus erneuerbaren Quellen erfolgt allerdings nicht gleichmässig übers ganze Jahr hinweg verteilt, während der Strom am ehesten im Winter knapp werden kann. Dennoch gehen wegen des Abschaltens eines alten AKW nicht gleich die Lichter aus: Vor nicht allzu langer Zeit, im März 2018, ging Block 1 des AKW Beznau wieder ans Netz. Dies, nachdem er seit dem 15. März 2015 stillgestanden war, wie man zum Beispiel online beim ‹Blick› nachlesen kann: «Bund gibt grünes Licht für Uralt-AKW. Beznau I geht wieder ans Netz», lautet der Titel des am 6. März 2018 publizierten Artikels. Grund für den langen Stillstand waren 925 Materialfehler, die im März 2015 in der Stahlwand des Reaktordruckbehälters entdeckt worden waren. Daraufhin musste die Axpo nachweisen, dass diese Fehler in Form von Einschlüssen in der Wand des Druckbehälters «keinen negativen Einfluss auf die Sicherheit haben», berichtet der ‹Blick› mit Verweis auf damals gemachte Äusserungen des eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (Ensi).
Es dauerte dann länger als erwartet, nämlich ganze drei Jahre, bis die Axpo diesen Nachweis erbracht und das Ensi ihn geprüft und akzeptiert hatte. Was aber geschah in diesen drei Jahren? Fragte die NZZ bange, wann der Schweiz der Strom ausgehe? Litten wir gar alle unter einer «Stromlücke»? Auskunft gibt auch hierzu die Elektrizitätsstatistik: Von 1980 bis und mit 2023, also in einem Zeitraum von 44 Jahren, exportierte die Schweiz in 36 Jahren mehr Strom, als sie importierte. In acht Jahren importierte sie mehr Strom, als sie exportierte, so auch in den Jahren 2016 und 2017. Die im Inland benötigte Strommenge war so oder so stets verfügbar. Merke: Strom produzieren und mit Strom handeln (sprich: damit Geld verdienen …) sind zwei Paar Stiefel.
Besser in Erneuerbare investieren
Angesichts der hohen Kosten für den Weiterbetrieb alter AKW stellt sich zudem die Frage, ob es nicht gescheiter wäre, gleich ganz vom Atomstrom wegzukommen. Die Schweizerische Energiestiftung jedenfalls hält in ihrer Medienmitteilung vom 5. Dezember einerseits fest, sie begrüsse den Entscheid, das AKW Beznau stillzulegen. Das älteste noch betriebene AKW der Welt entspreche «in zahlreichen Aspekten nicht mehr zeitgemässen Sicherheitsstandards». Andererseits sei die Stromproduktion von Beznau für die Schweiz nicht mehr nötig: «Dank der Energiestrategie 2050 und dem Stromgesetz wird sogar die Winterstromproduktion von Beznau bereits vor der Stilllegung vollständig durch den Zubau von Solaranlagen auf Infrastrukturen im Inland wettgemacht sein.» SES-Geschäftsleiter Nils Eprecht wird in der Medienmitteilung denn auch wie folgt zitiert: «Der Entscheid, Beznau stillzulegen, ist nach der deutlichen Annahme des Stromgesetzes folgerichtig. Der beschleunigte Ausbau der Erneuerbaren ermöglicht es, den Atomausstieg fortzusetzen. Angesichts der Risiken, die von Atomkraftwerken ausgehen, ist dies ein guter Entscheid für die Schweiz.»
Die Grünen Schweiz geben mit ihrer Medienmitteilung vom 5. Dezember gleich im Titel den Tarif durch: «In die Energiewende statt in Atomstrom investieren!» Die Zürcher Nationalrätin Marionna Schlatter erklärt darin, das «Uralt-AKW Beznau» sei ein «Sicherheitsrisiko» für die Schweiz, und sie betont: «Je schneller es vom Netz geht, desto besser! Die 350 Millionen für den Weiterbetrieb bis 2033 wären besser in die Energiewende investiert. Allein die Energieverschwendung braucht heute mehr Strom, als das AKW Beznau produziert.»
Für soziale Verantwortung, gegen Atomenergie
Gemäss Webseite wurden die «Physicians for Social Responsibility», die Ärzt:nnen für Soziale Verantwortung (PSR) 1962 in den USA gegründet. 1980 wurde in Genf die Organisation «International Physicians for the Prevention of Nuclear War», die ÄrztInnen zur Verhütung eines Atomkrieges (IPPNW), ins Leben gerufen. Am 25. Juni 1981 folgte die Gründung der PSR/IPPNW Schweiz. Nach und während des Kalten Krieges setzten sich PSR/IPPNW vor allem für die nukleare Abrüstung ein. 1991 weiteten die IPPNW ihr Engagement auf alle Kriege aus.
«Seit ihrer Gründung bekämpfen die PSR/IPPNW Schweiz die zivile Nutzung der Kernenergie, die eng mit der militärischen verbunden ist und ein ungelöstes Abfallproblem hinterlässt», schreiben sie auf ihrer Webseite weiter, und: «Im Jahr 2000 hat auch der Vorstand der IPPNW International erstmals eine klar ablehnende Haltung gegenüber der zivilen Nutzung der Atomenergie eingenommen.» 1984 erhielten die IPPNW den Unesco-Friedenspreis und 1985 den Friedensnobelpreis. Sie sind als offizielle Nichtregierungsorganisation (NGO) an den Vereinten Nationen in New York und Genf akkreditiert, und die PSR/IPPNW Schweiz vertreten IPPNW International offiziell in Genf.