Boulevard – *bulwaaarrhh*
Im Qualitätsjournalismus gab es bis anhin einige unumstössliche Regeln: Tatsachen werden möglichst ‹neutral› berichtet. Meinungen werden davon getrennt geäussert und entsprechend gekennzeichnet (oder finden wie hier in separaten Gefässen statt). Tragisches soll als schlichte Fakten und emotionslos präsentiert werden. Im Boulevard-Journalismus – englisch entlarvend gutter press genannt – gelten andere Regeln, allen voran Emotionalisierung um jeden Preis: mit reisserischen Titeln, riesigen Lettern, grauslichen Bildern, schauderhaften bis hin zu glatt erfundenen Geschichten.
Heute scheinen sich im Gerangel um Aufmerksamkeit die Grenzen zu verwischen. Jedes ‹ernste› Medium ist auch online und buhlt da um Klicks. Durch das Vehikel des Storytellings sickert unqualifizierte Meinung in jede Berichterstattung, etwa mit so genannten Newsscouts (neudeutsch für Gafferin), um die Emotionalisierung durch die Hintertür hereinzulassen. O-Ton: «Es war schauderhaft!». So lässt sich aus ‹spektakulären› Tragödien gefühlsduselig Kapital schlagen und ein paar zusätzliche Sekunden Lesezeit herausschinden. Ob das tatsächlich vor Ort jemand beobachtet hat, kann zudem niemand überprüfen.
Noch subtiler kann man rein durch die Wortwahl Wertungen in Texte einfliessen lassen. Oder indem man einseitig berichtet, z.B. nur Schlechtes, und den Rest verschweigt. Exemplarisch lässt sich das erneut an der öffentlichen Persona von Jolanda Spiess Hegglin beobachten, die 2014 an der Zuger Landammannfeier von Unbekannt sexuell ausgebeutet und von dritter Seite der Presse zum Frass vorgeworfen wurde. Daraus erwuchs ein Medienskandal, in dem sich Print und Online in Täter-Opfer-Umkehr, Verletzung von Privatsphären und blanker Häme überboten. Der Übergriff wurde als Sexaffäre bagatellisiert (Wortwahl). Dass die Geschädigte sich aus eigener Kraft aus dem Sumpf zog, dann ein einschlägiges Hilfswerk gründete und seither erfolgreich führt, wird verschwiegen (Einseitigkeit).
Gerade kürzlich gewann sie zum x-ten Mal einen Gerichtsprozess gegen eine dieser hartnäckigen Verleumderinnen (die ich in einer früheren Kolumne MiBi nannte). Und was lesen wir im scheinbaren Qualitätsblatt par excellence, der ‹alten Tante› NZZ (25.6.23)? «Affären sind Privatsache». Das evoziert erneut das Bild einer frivolen, freiwillig eingegangenen Eskapade. Denn einzig so eine Affäre wäre eindeutig privat. Sexuelle Übergriffe jedoch sind es nicht per se. Nur wenn diese – natürlich in abstractis – ans Licht kommen, können sie auch bekämpft werden. Wollte man die hier gemeinten Ereignisse aber überhaupt als Affäre bezeichnen, so wäre es selbstverständlich eine Medienaffäre, denn nur die Medien und ihre Zudiener haben gegen Sittlichkeitsgebote verstossen, indem sie private Details ans Licht zerrten, die das Opfer (und wohl auch der nicht festgestellte Täter) lieber unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgehandelt hätten. Dieser Medienskandal jedoch gehört öffentlich diskutiert. Den Opfern Schweigen aufzulegen, ist mafiös! Auch sie ist schon lange keine «lokale Angelegenheit» mehr, wie die NZZ weiter verharmlost. Denn auf Täterseite finden sich, gerichtlich mit Schuldsprüchen belegt, zwei der grössten Schweizer Medienhäuser bzw. ihre MitarbeiterInnen, nämlich Tamedia und der ‹Blick›. Solch tendenziöse Wortwahl entlarvt auch den im seriösen Kostüm daherkommenden Bullwuaaarrchh (*erbrech*).