- Kultur
Biedersinn
Das Boulevardtheater spiegelte schon immer den Alltag seines Publikums, um es sanft und liebevoll letztlich zu massregeln. Der französische Dramatiker Georges Feydeau übersteigerte diese Anklage der bürgerlichen Doppelmoral in seinen Stücken frei und offen ersichtlich in eine plakative Lachhaftigkeit, die immer im Desaster münden muss und in ihrer intrinsischen Unglaubwürdigkeit als platter Witz endet. Das Neumarkt ist nicht das Bernhardtheater, entsprechend verschieden das jeweilige Publikum, weshalb Rebekka Kricheldorfs «Ein nacktes Ohr am Hasenbein der Liebe oder Wie man wider Willen Klötze floht» im Neumarkt (oder der Gessnerallee) spielen muss, wo sich der zeitgeistige Biedersinn versammelt. Selbstredend im Selbstverständnis der eigenen moralischen Überlegenheit, womit es sich als Abbild der damaligen Bourgeoisie, ergo ebendieses Biedersinns empfiehlt. Kricheldorfs «Ein nacktes Ohr…» wirkt übertrieben strunzdoof und unglaubwürdig, weshalb alle jede Ähnlichkeit mit einer der Figuren weit von sich weisen können, um ja nicht zu tief betroffen in ein affektives Beleidigtsein kippen zu müssen. Genau das thematisiert der Abend im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung in Inhalt wiewohl Form und löst Begeisterungswogen aus. Was wiederum leise Zweifel nährt … Matthias Huser (Regie) und das Kollektiv ortreport (Bühne) sowie Sophie Reble (Kostüme) ergänzen sich kongenial zum Triumvirat der Komplettveräppelung, das dem Schauspielquartett Chady Abou-Nijmeh, Anouk Barakat, Martin Butzke und Lisa Ursula Tschanz einen glitschigen Teppich ausrollt, worauf diese so gekonnt ihre Pirouetten drehen, Haken schlagen und – you name it – auf die Fresse fallen können, als wärs eine Meisterleistung. Dass hier zuletzt ein zeitgeistig wortklauberisch achtsames Publikum über den eigens empfundenen Reflex einer Schadenfreude lacht, ist richtig lustig.
«Ein nacktes Ohr am Hasenbein der Liebe oder Wie man wider Willen Klötze floht», bis 17.1.26, Theater Neumarkt, Zürich.