Bessere neue Jahre?

Es liegt nahe, sich nach dem ziemlich verrückten 2020 ein besseres neues Jahr zu wünschen. Doch wie stellen wir uns das und die weitere Zukunft vor? Wie verwirrend diesbezüglich die Einschätzungen sind und dass eine positive Perspektive ökosozial sein müsste, zeigen die hier vorgestellten Bücher.

 

Hans Steiger

Ist das letzte Abstimmungswochenende verdaut? Bettina Dyttrich in der ‹Wochenzeitung› («Trotz allem ein Erfolg») und Min Li Marti bei uns («Sie bewegt sich doch») haben daraus das Beste gemacht, ohne die faktischen Niederlagen zum Sieg umzulügen. Trüber war in derselben WOZ ein Stimmungsbild mit Aktiven der Klimajugend. Viel verständliche Wut, auch Anflüge von Verzweiflung. In den Tagesmedien dominierte Corona, und das wird in den Jahresendkommentaren und Ausblicken kaum viel anders sein.

 

Zukünfte bis hin zu Zynismus

Manchmal helfen ja Bücher beim Ordnen der Gedanken. Ein eher verblüffender Titel in dieser verwirrenden Zeit: «Die Welt in 20 Jahren. Lebensqualität, Wohlstand und Umwelt.» Wer wagt heute noch solche Pro­gnosen? Nicht alle Texte scheinen taufrisch. Der eine oder die andere der Versammelten würde jetzt vielleicht absagen, wenn die Einladung des Energie-Instituts in Linz für einen Beitrag zu diesem Allerweltsthema käme. Einige räumen ein, nur Schlüsse aus Trends und Spekulationen liefern zu können. «Che sarà» … Diesen alten italienischen Schlager bringt Gerlinde Sinn ins Spiel. Was wird sein? Wir werden sehen. Sie orientiere sich bei ihren Einschätzungen stark an eigenen Werten.

Das gilt sicher auch für Claudia Kemfert, die als erste zitiert wird: «In den nächsten zwei Jahrzehnten wird Umwelt- und Klimaschutz zur Priorität Nummer Eins, auf deren Basis alles andere aufgebaut wird.» Deutschland jedenfalls werde 2040 «dekarbonisiert, digital und demokratisch» sein. Allgemein gibt es bezüglich Energiewende viel Zuversicht. Der in solchen Readern fast unvermeidliche E.U. von Weizsäcker liefert eine weitere Variante seiner technokratischen Vision, aus weniger Ressourcen mehr Wohlstand herauszuholen. Die für möglich gehaltenen Zukünfte bieten eigentlich allen etwas. Aus der Schweiz weist Bruno S. Frey, als Glücksforscher bekannt, immerhin auf ein vernachlässigtes Problem hin: das fehlende, teils auch doppelte Stimmrecht nicht im Herkunftsland lebender Menschen. Ob «gewichtete Stimmen» oder «Zufallsverfahren» die Demokratie stärken? Peinlich und schlimm Reiner Eichenberger, an der Uni Fribourg für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik zuständig, der unser Land als vorbildlich erfolgreich lobt und für 2040 «bessere Institutionen, bessere Politik, mehr Wohlfahrt» verheisst. Aufgrund des technischen Fortschritts werde «in den entwickelten Volkswirtschaften» das Pro-Kopf-Einkommen allgemein wachsen, «die Umwelt wird gesünder, aber es wird wärmer». Wer möchte zurück zu tieferen Temperaturen? «Kühltechnologie für geschlossene Räume, Autos und auch offene Plätze» entwickle sich rasend, «mit ganztags Gratisstrom aus Solarstrom» sei Kühlen kein Problem – «ausser für sehr arme Länder». Denen wäre auch beim Deichbau zu helfen. Das «wahre Problem» sei dort jedoch «nicht der Klimawandel, sondern die Armut und die dafür verantwortlichen schlechten Institutionen.» Wem der Zynismus auf globaler Ebene nicht reicht: Bei uns will Eichenberger die SBB – eine der «dümmsten heiligen Kühe» – zur SSB machen, der Schweizerischen Strassenbetreiberin. Das zu teure Schienennetz sei «relativ gerade und kreuzungsfrei», ideal für autonome Autos.

Ja, wir vergessen oft, dass selbst an Hochschulen höchst unterschiedliche Vorstellungen von Fortschritt vertreten werden. Eichenberger, notabene Stammgast bei ‹Weltwoche› und NZZ, ist nur ein relativ extremer Fall. Auch in der Schlussbilanz des Sammelbandes findet sich keine explizite Distanzierung von seiner Sicht, obwohl deren Grundton klar näher bei «Initiativen wie Fridays for Future» liegt: «Nahezu unbestritten und wissenschaftlich erhärtet ist, dass der fortschreitende Klimawandel eine Gefahr für Fauna und Flora darstellt.» Und dass wir diesen befördern.

 

Für nachhaltige Gerechtigkeit

Relativ breit ist das Spektrum auch beim Reader, den ich als Orientierungshilfe empfehle: «Zeitenwende? Zur Dialektik von sozialer und ökologischer Gerechtigkeit». Rote und grüne Akzente werden mit unterschiedlichen Gewichtungen gesetzt, und vor allem der Mix der Generationen macht die Lektüre spannend. Zuerst irritiert, dass Basis der Publikation ein Symposium im Frühjahr 2018 ist. Lange her! Es war ein Anlass zum 80. Geburtstag von Peter-Cornelius Mayer-Tasch, der mit gutem Grund als Pionier des Nachdenkens über globale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit gewürdigt wird. 1984 hat der Rechtsphilosoph und Politikwissenschaftler etwa eine Forschungsstelle für Politische Ökologie mitinitiiert. Aber die an den Anfang gestellte Betrachtung zum Kernthema ist «ein (sehr persönlicher) Rück-, Rund- und Ausblick». Er beginnt ohne Umschweife beim Geburtstag, «demselben Tag des Jahres 1938, an dem die Nazistiefel in Österreich einmarschierten, um dort ihr gerechtigkeitsvergessenes und friedloses Treiben fortzusetzen». Ein starkes Zeichen für den Ernst und die Richtung seines späteren Engagements.

Dass die meisten Beiträge in einer Zeit entstanden, als medial «das Bild der besorgt dreinblickenden Greta mit immer dem gleichen Transparent» dominant war und dieses «Millionen von Jugendlichen weltweit» bewegte, sorgt für Schwung. Immer wieder taucht die Symbolfigur auf, nicht nur bei Kommunikationswissenschaftler Schulz, der analysiert, «wie es das Klima schliesslich auf die politische Agenda schaffte». Zu spät? Krankheiten schwelten oft so lange, dass eine Therapie unmöglich werde, stellt Harald Seubert nicht als Mediziner, sondern als mit Philosophie und Theologie befasster Professor fest. Erst nach langem Verdrängen und Verzögern, wenn überhaupt, nähmen sich «Mandatsträger oder Lobbyisten ihrer an. Zu spät gekommene Ärzte». Teils wurden die Texte im Schatten von Corona ergänzt. In einem «Postskriptum» vom August 2020 steht, vereinzelt sei zwar «der Zusammenhang zwischen Umweltzerstörung, Klimawandel und Pandemie» gesehen worden, etwa in Verlautbarungen der Vereinten Nationen, aber er sei «zu komplex, um breitere öffentliche Aufmerksamkeit zu erhalten». Wie wirkt die jüngste Krise fort?

 

Ungehörtes muss sichtbar werden

Während ältere Herren gern einmal alte Griechen oder Goethe beiziehen, bringen Frauen feministische Gesichtspunkte ein, zeigen Bezüge zwischen Rassismus und nationalem Egoismus. Gemeinsam betonen Stalinski und Weber, beide in der politischen Bildung tätig, «die soziale Bedingtheit des Ökologischen». Lob erhalten Stars der global vernetzten Klimajugend, die an der UN-Klimakonferenz «unangekündigt» von der medialen Bühne zurücktraten und diese Vertreterinnen jener Regionen überliessen, die bereits jetzt oder in naher Zukunft besonders von ökologischen Katastrophen betroffen sind. Zu oft blieben die aufgrund der geografischen Lage und auch sonst Privilegierten im Zentrum. Ungehörte und Unsichtbare müssen einbezogen werden, um wirklich «Politik auf Augenhöhe» zu betreiben. 

Pohl und Bayraktar, er wie sie bei den Grünen und beim Klimastreik aktiv, liefern dafür weitere Exempel. Die flachere Organisationsstruktur bei ‹Fridays for Future› möge zwar «inneffizient» wirken. Aber wenn nach langem Diskutieren und Abstimmen «ein Konsens über wesentliche strukturelle Veränderungen und inhaltliche Ausrichtungen» erreicht sei, erwiesen sich Positionierungen als gefestigt. Die dezentrale Graswurzelbewegung gebe der Nachhaltigkeit wieder mehr und neue Bedeutung. Gegenüber den Grünen baue sie zivilgesellschaftlichen Druck auf. «System Change, not Climate Change» wecke nicht zuletzt Erinnerungen an die noch junge Ökopartei der Achtziger, die grundlegenden Wandel wollte. Klimagerechtigkeit benennt ein aktuelles Ziel.

In ihrem Nachwort lässt Linda Sauer nochmals einen ziemlich alten Mann fragen: «Haben wir ernsthaft erkannt, dass etwas schiefläuft?» In dieser Welt, «in der es so viele Bauern ohne Land gibt, so viele Familien ohne Zuhause, so viele Arbeiter ohne Rechte, so viele Menschen, deren Würde verletzt ist?». Auch andere Lebewesen stünden unter ständiger Bedrohung. «Wir brauchen und wir wollen einen Wandel!» In unserem Leben, in unseren Gemeinden, bei unseren Löhnen, in unserem Alltag. Wir wollen keine Ökonomie, «die ausschliesst und ungleich macht, in der das Geld regiert anstatt uns zu dienen», denn «diese Ökonomie tötet». Wer hat ihn erkannt? Franziskus, der Papst, in La Paz. Sogar längst Verstorbene wie Bertolt Brecht oder Hannah Arendt kommen zu Wort, zuletzt Rose Ausländer, die als Lyrikerin wusste, dass die Kraft der Veränderung mit der Macht der Worte zusammenhängt. «Du kannst zaubern.»

 

Systemwechsel sind Machtfragen

Aber wie wechsle ich nun zum nächsten Buch? «Klima|x» von Andreas Malm. Originaltitel: «Corona, Climate, Chronic Emergency: War Communism in the Twenty-First Century.» Wäre das deutsch auf dem Cover zu lesen gewesen, hätte ich es wohl bleiben lassen. Doch der 1977 geborene Autor, stand in der Vorschau, forscht im schwedischen Lund am Institut für Humanökologie und ist seit fast zwei Jahrzehnten in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv. In diesem Frühjahr war er in Berlin zu Gast, wo an der Humboldt-Universität dieser Essay entstand. In seinem Dank bezieht er sich auf die Kritische Theorie, die dort ihren Ort habe. Naturbeherrschung «webe durch ihren Fortschritt immer mehr mit an dem Unheil, vor dem sie behüten wollte», zitiert er Adorno, und mit Horkheimer unterstreicht er die Forderung, dem «grenzenlosen Imperialismus» der menschlichen Gattung ein Ende zu setzen. Die scheinbar unendliche Gier des Menschen gehe «nicht unmittelbar aus seiner eigenen Natur hervor, sondern aus der Struktur der Gesellschaft».

Da also wäre anzusetzen, wenn wirksam gehandelt werden soll – von Corona bis zum umfassenden Komplex von Arten- und Klimaschutz. Und weil die verhängnisvolle Dynamik vom Kapitalismus ausgeht, ist der notwendige Systemwechsel eine Machtfrage, hat mit Klassenkämpfen zu tun. Dem ist schwer zu widersprechen. Wer den Gedanken des gern mit klassisch linkem Vokabular provozierenden Öko-Marxisten folgt, erkennt sogar die aktuelle Logik im von Lenin übernommenen Begriff des «Kriegskommunismus». Doch das Kopfschütteln bei dieser Kapitelüberschrift bleibt. Hinweise auf die Kriegsrhetorik, mit der Macron und andere vergleichweise radikale Corona-Massnahmen begründen, erinnern daran, wie wenig zur Beseitigung der ökologischen und sozialen Grundursachen der grösseren globalen Gefahren geschieht.

 

Corona als Teil der globalen Krise

Um dem Buch gerecht zu werden: Ich habe beim Lesen viel gelernt, vor allem über das Umfeld von Corona, die sogenannten Zoonosen allgemein, vermutete und bewiesene Bezüge zwischen Pandemien und Biodiversitätsverlust. Immer brutaler hat der Mensch den Lebensraum anderer Arten bedrängt, eingeengt und zerstört, Tiere in Käfigen gestresst. Nicht nur Wildtiermärkte in China und anderswo sind «Brutstätten für Parasiten», machen Mikroben resistenter. «Tausende inzüchtige Tiere unter ein Dach zu zwängen, stellt mit Sicherheit kein Heilmittel dar.» Die von der kapitalistischen Dynamik getriebene industrielle Ausbeutung und weltweit ausgedehnte Warenketten sichern eine schnelle Übertragung von Seuchen. Mit den in der Not verhängten punktuellen Lockdowns werden weder der explosiv steigende CO2-Ausstoss noch die anderen Trends nachhaltig gebremst.

Wo sind Kräfte, die kommende Kata­strophen abwenden könnten? Erstaunlich klar setzt der Autor auf staatliche Eingriffe mit Verboten und Eigentumsbeschränkung. Er anerkennt anarchistische Einwände, hält ihnen aber den Zeitdruck entgegen. Kommunismus? Real wären davon allenfalls Restbestände vorhanden. Der weitgehend reformistischen Linken, die immer hoffe, «dass die Zeit für uns arbeite», begegnet er mit Ironie. Sie müsste «weit über sich hinauswachsen», um nicht auch noch ihre Minimalziele aufzugeben. «Damit soll keineswegs gesagt werden, dass tatsächlich existierende sozialdemokratische Verbände keine tragende Rolle spielen können.» Bei dieser Passage dachte ich spontan an die «Service-public-Revolution», die Beat Ringger und Cédric Wermuth als Antwort auf Corona, Klima und Kapitalismus, «die Krisen unserer Zeit», skizzierten.

Wie sich Malm selbst die zu seiner Theorie passende Praxis vorstellt, ist vielleicht seinem zweiten, ergänzenden Buch zu entnehmen, das im November erschien: «Wie man eine Pipeline in die Luft jagt. Kämpfen lernen in einer Welt in Flammen.» Ich werde mich auch auf diesen intellektuellen Streit einlassen, obwohl diesmal schon der Umschlag dümmlich-bürgerschreckend wirkt. In der Ankündigung wird nachgedoppelt: «Müssen wir Gewalt anwenden, um unsere Zukunft zu retten? Eine brisante Streitschrift.» Doch die Leseprobe bestätigt, dass darin auch ernsthaft argumentiert wird.

 

Die Welt in 20 Jahren. Lebensqualität, Wohlstand und Umwelt. Hrsg. von Manuela Prieler u.a. Metropolis Verlag für Ökonomie, Gesellschaft und Politik, Marburg 2020, 254 Seiten, 34.90 Franken.

 

Zeitenwende? Zur Dialektik von sozialer und ökologischer Gerechtigkeit. Hrsg. von Franz-Theo Gottwald, Peter-Cornelius Mayer-Tasch und Linda Sauer. Metropolis, Marburg 2020, 236 Seiten, 28.90 Franken.

 

Andreas Malm: Klima|x. Aus dem Englischen von David Frühauf. Matthes & Seitz, Berlin 2020, 264 Seiten, 21.90 Franken. Im gleichen Verlag als Ergänzung erschienen: Wie man eine Pipeline in die Luft jagt. Kämpfen lernen in einer Welt in Flammen. 211 Seiten, 25.90 Franken.

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