Besser vorsorgen
Heutzutage noch gegen Handyantennen anstinken? Im Ernst jetzt? – Wer öffentlich Schäden durch Strahlung befürchtet, die ja nun neuerdings auch durch im Boden versenkte Handyantennen verursacht wird, der muss sich noch etwas nachqualifizieren. Vorab, wenn es, wie bei mir, um Haltungen geht, die offensichtlich bei vielen Leuten vom Radar geschlipft sind.
Zur Blütezeit der Umweltbewegung, damals, als auch die grünen Parteien entstanden, war der wissenschaftliche und technologische Mindset anders als heute: Vorsorgen war angesagt, das Vorsorgeprinzip war auch Grundlage der Gesetzgebung, was sich im damaligen Umweltschutzgesetz und seinen zahlreichen Ausführungsverordnungen niederschlug. Konsens war, gerade bei komplexen und wissenschaftlich nicht im strengen Sinn beweisbaren Phänomenen wie etwa dem Waldsterben oder dem Ozonloch, dass man es nicht auf den Tatbeweis ankommen lassen, sondern dafür sorgen wollte, dass ein Schaden gar nicht erst eintrat. Alles andere wurde als gigantischer Versuch am lebenden Menschen denunziert. Was die AustralierInnen übrigens an der eigenen Haut erfahren durften.
Ein solcher Versuch liegt auch bei der Antennenstrahlung vor. Ich verwette meinen durch ein Jahrzehnt Projektleitung in Umweltverträglichkeitsprüfungen gestählten Hintern, dass der Kausalbeweis bei dereinst auftretenden Krankheiten nicht geführt werden kann und es auch nicht wird. Denn das Problem liegt ja nicht, wie die Swisscom argumentiert, in der Anlagenstrahlung, also bei den Emissionen. Es geht darum, was sich an Strahlung beim einzelnen Menschen kumuliert, also um die Immissionen. Darum gibt es heute Schlagzeilen wie: «Gericht stuft Hirntumor durch Handy als Berufskrankheit ein». Natürlich, durch das Handy, nicht durch Antennen, aber genau darum geht es: Um die Kumulation von selbst verursachter Schädigung und Zwangsschädigung durch öffentliche Systeme, wobei die Haltung: «Du schadest dir ja selber auch durch das Handy, also dürfen wir dich ruhig noch etwas mehr verstrahlen» nur noch als Zynismus durchgeht.
Zudem: Haben wir uns eigentlich jemals darüber öffentlich unterhalten, wer überall und jederzeit Datentransfer braucht und zu welchem Preis? Damit ein paar Leute überall und jederzeit Pokémon GO spielen können, führen wir einen Menschenversuch mit Strahlung durch? Im Ernst jetzt? Klar, es gibt Anwendungen, die auf den ersten Blick relevanter erscheinen, etwas das Internet of Things. Aber auch das hat seine Tücken. Die Bundesstelle mit dem schönen Namen Melani warnt vor Gefahren, wenn jeder Lichtschalter, jeder Kühlschrank und jedes Heizöfeli am Internet hängt – oh, nicht etwa Krebs, sondern Hacking und Fremdmanipulation. Und kommt daher auf die glorios realitätsnahe Idee, regelmässige Software-Updates zu empfehlen, zudem komplexe Passwörter, Firewalls und separate Netzwerksegmente für alle Geräte, die mit dem Internet verbunden sind. Im Klartext: Die meisten von uns tun sich schon schwer, ihren TV zu programmieren, und nun sollen wir Software-Updates bei jedem Lichtschalter durchführen? Im Ernst jetzt?
So sieht ‹Fortschritt› heute also aus: Manipulierbar, potenziell gesundheitsschädigend, safe wie Tramfahren in der Grippesaison und eine enorme Datenschleuder. Daher brauchen wir wieder mehr Vorsorge in der öffentlichen Debatte. Man nennt das übrigens modern «Suffizienz» oder: die selbstbestimmte Frage nach dem Notwendigen und nach dem ‹richtigen› Bedürfnis. Und erst, wenn diese geklärt ist, lasse ich mich noch so gerne verstrahlen.