Berente keinen unter Dreissig?

Ein Affe, ein Vogel und eine Schildkröte sitzen unter einem Baum. «Wer zuerst oben ist, hat gewonnen», sagt der Affe, und – schwupp – sitzen er und der Vogel auf einem Ast. Die Schildkröte findet es nicht lustig. «Du musst dich halt mehr anstrengen», sagt der Affe.

Die ‹Rundschau› des Schweizer Fernsehens beleuchtete in einem Beitrag vom 21. Mai die steigende Zahl junger Menschen in der Schweiz, die wegen psychischer Probleme eine IV-Rente beziehen. Zu Wort kamen sowohl Betroffene wie Fachleute. Alle sind sich darin einig, dass eine Rente als abschliessende Lösung nicht befriedigend ist; junge Menschen wollen die Perspektive, ihren sinnvollen Platz in der Gesellschaft zu finden und auf eigenen Beinen zu stehen. Psychologe Niklas Baer meint, dass die Betroffenen zuwenig gefordert würden, eine gewisse Hartnäckigkeit sei angebracht; er schlägt vor, dass Menschen unter 30 Jahren von einer IV-Rente ausgeschlossen werden. Die Betroffenen wiederum können diesem Vorschlag wenig abgewinnen, sie versagen im Arbeitsmarkt nicht, weil sie sich zuwenig anstrengen, sondern weil es immer wieder Momente gibt, in denen sie die Anforderungen schlicht nicht erfüllen können. Thomas Pfiffner schliesslich, der Vizepräsident der IV-Stellen-Konferenz, wünscht sich, befristete Renten aussprechen zu können, so dass Betroffene Zeit haben, sich mit Unterstützung der IV ins Arbeitsleben zu integrieren. Er befürwortet auch die Idee, keine Renten an Menschen unter 30 zu sprechen, wendet aber ein, dass dann diese Renten durch andere, neu zu schaffende Leistungen ersetzt werden müssen. Diesen Vorschlag hat er auch beim Bundesrat für die nächste IV-Revision eingereicht.

Als grundsätzliche Problematik zeigt der Beitrag, dass die IV in der heutigen Form viel zu sehr auf körperliche Erkrankungen ausgerichtet ist. Wer sich ein Bein bricht, wird einige Zeit das Bett hüten müssen und schliesslich in einem linearen Heilungsprozess wieder zu voller Leistungsfähigkeit gelangen. Wer von einer Querschnittlähmung betroffen ist, wird irgendwann auf ein stabiles Gesundheitsniveau kommen und auf dieser Basis sein Leben anhand seiner Fähigkeiten neu planen können. Psychische Erkrankungen jedoch äussern sich in Wellenbewegungen; eine Zeit lang ist die betroffene Person vielleicht voll arbeitsfähig, zu anderen Zeiten wiederum können Rückschläge auftreten.

Es ist einerseits gut, dass diese Problematik bei der IV erkannt wurde. Frustrierend aber ist, dass weder der Psychologe noch der IV-Vizepräsident die heutige Struktur von Erstem und Zweitem Arbeitsmarkt infrage stellen. Wer nicht den stetig steigenden Anforderungen der Wirtschaft genügen kann, ist darauf angewiesen, im Zweiten Arbeitsmarkt eine geschützte Stelle zu finden, um für den Ersten fit zu werden. Bei einer Erkrankung, die sich in Wellenbewegungen äussert, ist Letzteres aber nur schwer vorstellbar. Die Folge ist dann eben, dass viele Menschen bereits im jungen Alter berentet sind. Für Menschen, deren Erkrankung nicht linear verläuft, wäre ein Arbeitsmarkt (und auch ein Bildungssystem) nötig, in dem wiederkehrende plötzliche Ausfälle kein Problem sind.

Die IV, zusammen mit der Politik, sollte auf einen inklusiven Arbeitsmarkt hinarbeiten, in dem Menschen mit persönlichen Einschränkungen ihren Platz finden, unabhängig davon, ob diese physischer oder psychischer Natur sind. Anstelle von lebenslangen Renten würde die IV die Ausfallzeiten kompensieren. Mit den dadurch frei werdenden Mitteln müsste sie die Unternehmen belohnen, die solche Stellen anbieten, und sie darin beraten, die Arbeit so zu organisieren, dass unerwartete Ausfälle tragbar sind. Dies wäre nicht nur ein Gewinn für Menschen mit psychischen Erkrankungen: Plötzliche Ausfälle kommen ja auch bei allen anderen vor, sei es wegen eines Beinbruchs oder weil das Kind krank ist und daheim bleiben muss.

Ich würde mir von den Fachleuten etwas mehr Kreativität wünschen. Die Idee, Menschen unter 30 von der IV auszuschliessen, ist ein Armutszeugnis, sie gleicht dem Affen, der sagt: «Du musst dich halt mehr anstrengen.»