Bellerive-Gstürm

Es tobt ein Verkehrssturm in Zürich. An dessen Ursprung steht der Versuch, auf der Bellerivestrasse nur zwei statt vier Spuren für den motorisierten Individualverkehr und dafür beidseitig Velospuren zur Verfügung zu stellen, den Stadtrat Richard Wolff für kommenden April angekündigt hat. Anlässlich der Gemeinderatsdebatte mit Schwerpunkt Tiefbau vom 2. September berichtete er über den aktuellen Stand der Dinge (siehe P.S. vom 4. September). Er erinnerte unter anderem daran, dass im Quartier seit 2019 ein Beteiligungsverfahren läuft, an dem nebst dem örtlichen Quartier- und Gewerbeverein und AnwohnerInnen auch Verkehrsverbände wie ACS und VCS teilnehmen. Zwei von drei geplanten Workshops hätten bereits stattgefunden, der dritte habe wegen Corona auf Mitte Dezember verschoben werden müssen. Dann erwähnte Wolff, gemäss Studien wäre das heutige Verkehrsaufkommen auch mit einer solchen Spurreduktion zu bewältigen. Der Grund dafür sei einfach: «Leistungsbestimmend sind nicht die vier Spuren, sondern es ist das Bellevue – dort ist der Flaschenhals.»

 

Bereits am 3. September gaben KMU- und Gewerbeverband Kanton Zürich, Gewerbeverband der Stadt Zürich, Gewerbeverein Seefeld, TCS Sektion Zürich und ACS Sektion Zürich in einer gemeinsamen Medienmitteilung mit dem Titel «Stadtrat Wolff missbraucht Beteiligungsverfahren Bellerivestrasse als Feigenblatt» bekannt, sich «mangels echter Einflussmöglichkeiten» aus dem Beteiligungsverfahren zurückzuziehen.

Immerhin über einen Punkt herrscht nach wie vor Konsens: Die Strasse muss saniert werden. Pläne, die noch während Filippo Leuteneggers Zeit als Tiefbauvorsteher entstanden, wurden im Sommer 2017 aufgelegt. In einer Medienmitteilung der Stadt vom 8. Oktober 2018 – unterdessen ist Wolff Tiefbauvorsteher geworden – mit dem Titel «Bauprojekt Bellerivestrasse wird neu ausgearbeitet» heisst es, gegen diese Pläne seien «diverse Einsprachen, Anträge aus der Bevölkerung und Vorstösse aus dem Gemeinderat» eingegangen: «Anträge aus dem Quartier fordern unter anderem durchgehende Velostreifen, Spur- und Temporeduktionen (…). Zur Prüfung der Machbarkeit und für die Erstellung eines Verkehrsgutachtens betreffend Spurreduktionen hat das Tiefbauamt eine Studie in Auftrag gegeben.»

Um diese sowie eine weitere Studie dreht sich der aktuelle Wirbel. Auf der Front des ‹Tagi› vom letzten Freitag heisst es, «Experten warnen vor Stau auf der Bellerivestrasse». Zwei «bisher unter Verschluss gehaltene» Studien zeigten die Folgen des Spurabbaus. Es werde eine «hoch belastete Verkehrssituation» prophezeit; bereits kleinere Störungen könnten «zu langen Rückstausituationen führen».

Die Propheten, aus deren Feder das stammt, waren offensichtlich noch nie an der Bellerivestrasse. Oder was haben wir dort heute, wenn nicht dieselbe «hoch belastete Verkehrssituation» wie an vielen anderen Orten in der Stadt auch?

Die NZZ hingegen zieht folgendes Fazit: «Falls überhaupt, ist ein Spurabbau ohne Verkehrskollaps nur ab Kreuzstrasse und nur bis Horneggstrasse denkbar. Allenfalls wäre zwischen Bellevue und Kreuzstrasse ein dreispuriges Regime möglich, weil dort stadtauswärts eine Spur abgebaut werden könnte, aber gemäss Bericht von B+S würde dies neue Probleme aufwerfen.»

Das Fazit der einen Studie, des Verkehrsgutachtens von B + S AG Ingenieure und Planer, die für die Bellerivestrasse elf Varianten untersucht haben, lautet wie folgt: «Der Bericht gibt bewusst keine Empfehlung zur Bestvariante ab. Alle Varianten (unter Ausnahme der Varianten A1 und C1) können voraussichtlich leistungsneutral betrieben werden. Sämtliche Varianten weisen verkehrliche Vor- und Nachteile auf, die schlussendlich gegeneinander abgewogen werden müssen. Abgesehen davon sind auch lärmtechnische und städtebauliche Aspekte zu berücksichtigen, die im Rahmen dieses Verkehrsgutachtens nicht vertieft werden konnten. Je nachdem welche Variante weiterverfolgt wird, wird die Durchführung vertiefter Abklärungen empfohlen.» Dies ist dann auch passiert: In der zweiten Studie von der EBP Schweiz AG wurden vier Varianten mittels Verkehrsflusssimulation verglichen und zwei zur Weiterbearbeitung empfohlen.

 

Mal ehrlich: Haut Sie das aus den Socken? Beweist das die Richtigkeit folgenden Satzes aus dem ‹Tagi›: «Bisher geheime Gutachten kommen zum Schluss, dass der Abbau von Fahrspuren vermehrt zu Staus führen könnte – ein Widerspruch zu den Aussagen von Stadtrat Richard Wolff»? Nun, das Ganze nennt sich Politik, schon klar, und der ‹Tagi› darf selbstverständlich schreiben, was er will.

Dennoch: Es gibt Gesetze betreffend Lärmschutz und Luftverschmutzung, die auch viele Jahre nach ihrer Einführung noch nicht eingehalten werden. Es gibt die angenommene Städteinitiative und diverse angenommene Veloinitiativen, aber keine angenommene städtische Initiative zur Förderung des Autoverkehrs. So gesehen also ein klarer Fall: Nix zu motzen, liebe Bürgerliche, wir wollen das Velo fördern!

Aber natürlich ist das höchstens die halbe Wahrheit. Denn die kantonale Anti-Stau-Initiative wurde zwar nicht angenommen, aber der Gegenvorschlag dazu. Seither steht in Artikel 104, Absatz 2bis der Kantonsverfassung, dass eine Verminderung der Leistungsfähigkeit einzelner Abschnitte des Staatsstrassennetzes «im umliegenden Strassennetz mindestens auszugleichen» ist. Und das läuft in der Stadt Zürich nun mal darauf hinaus, dass an Staatsstrassen zu rütteln beziehungsweise sie velotauglicher, fussgängerinnenfreundlicher und lebenswerter zu gestalten, so gut wie unmöglich ist. Zürich kann noch so Velostadt werden wollen – solange das Auto gesetzlich garantierte Vorfahrt auf den Staatsstrassen auf Stadtgebiet hat, ist das schwierig. Und zwar selbst dann, wenn neun von elf Varianten für eine Spurreduktion auf einer Staatsstrasse wie der Bellerivestrasse «voraussichtlich leistungsneutral betrieben» werden könnten.

 

Im Grunde genommen geht es weder um die Interpretation von Studien noch um das, was Stadtrat Wolff gesagt hat oder nicht. Es geht darum, ob das Auto auch in Zeiten des Klimawandels die heilige Kuh bleiben soll, die es seit ungefähr einem halben Jahrhundert ist – oder ob wir heute vielleicht doch eher mehr Velos als Autos brauchen, mehr Grün als Grau? Nein, das ist leider keine rhetorische Frage, darüber müssten wir erst abstimmen. Und weil Ohren oder Lungen keine Stimme haben, wage ich lieber keine Prognose, wie das herauskäme.

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.