«Bei uns gibt es kein Oberwil-Lieli»

Heute Freitag findet die Wahlfeier für Regierungspräsident Mario Fehr statt. Darüber, wie der Sicherheitsdirektor seine Rolle an der Spitze der Regierung gestalten will, gibt Mario Fehr im Gespräch mit Nicole Soland Auskunft.

 

Regierungspräsident wird man zwar turnusgemäss, angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Kanton Zürich ist aber eher selten ein Sozialdemokrat dran: Was bedeutet Ihnen dieses Amt?

Nur ganz wenige, die aus einer normalen Zürcher Mittelstandsfamilie kommen – mein Vater wurde auf dem zweiten Bildungsweg Architekt, meine Mutter war kaufmännische Angestellte –, haben das Privileg, Regierungspräsident des Kantons Zürich zu werden. Das ist sicher der Höhepunkt meiner politischen Tätigkeit, und ich freue mich sehr auf dieses Jahr. Dies nicht zuletzt deshalb, weil ich finde, dass es unserem Kanton grundsätzlich sehr gut geht.

 

Inwiefern?

Die Sicherheit im Kanton Zürich ist so gut wie seit 30 Jahren nicht mehr, und wir haben eine viel gesündere Luft als vor 30 Jahren. Natürlich sind wir auch mit Herausforderungen konfrontiert: dem starken Franken, den Turbulenzen an den Wirtschaftsmärkten, der Gefahr des Terrorismus in Europa und nicht zuletzt der Flüchtlingsthematik, die uns alle beschäftigt. Aber unter dem Strich glaube ich, dass wir insgesamt auf einem sehr guten Niveau leben, und das möchte ich in diesem Jahr vermitteln.

 

Den Leuten vermitteln, wie gut es ihnen geht? Das tönt nach einer schwierigen Aufgabe.

Eigentlich nicht: Ich löse diese, indem ich an möglichst viele verschiedene Orte gehe und mit möglichst vielen verschiedenen Menschen rede. Und ich finde es nicht schwierig, sondern nötig, darauf hinzuweisen, wie gut es uns geht – und dass dies nicht das Verdienst einiger Weniger ist, sondern auf gemeinsamen Anstrengungen beruht.

 

Was, wenn die Leute entgegnen, angesichts der Flüchtlingsthematik hätten sie andere Sorgen?

Wir zeigen auf, dass wir unseren Job machen. Unsere Direktion ist ja in den verschiedensten Bereichen mit dem Thema konfrontiert: Das Sozialamt ist für das Zweiphasensystem der Unterbringung zuständig, das Migrationsamt regelt die ausländerrechtlichen Belange, und schliesslich ist die Kantonspolizei ebenfalls in den Vollzug involviert. Innerhalb des Kantons arbeiten wir in der Flüchtlingsthematik gut mit der Volkswirtschaftsdirektion, der Gesundheitsdirektion, der Direktion der Justiz und des Innern sowie der Bildungsdirektion zusammen. Als die Herausforderungen gegen Ende des letzten Jahres, als viele Flüchtlinge kamen, zunahmen, haben wir als Kanton unsern Job gemacht und bei den Gemeinden und in der Bevölkerung Vertrauen geschaffen. Bei uns gibt es kein Oberwil-Lieli.

 

Stimmt; dafür gibt es Leute, die im laufenden Abstimmungskampf über die Asylgesetzrevision öffentlich erklären, das neue Verfahrenszentrum auf dem Juch-Areal beherberge nur ‹einfache Fälle› und veröffentliche obendrein geschönte Zahlen, um die Leute so zu einem Ja zu bewegen.

Ich war von Anfang an für die Asylgesetzrevision. Sie lässt sich nicht ohne den Kanton Zürich verwirklichen. Die Stadt Zürich hat mit unserer Unterstützung das Testzentrum Juchhof eröffnet, und der Kanton Zürich vollzieht – das ist die andere Seite unseres Asylsystems – zwei Drittel der Ausschaffungen ab Flughafen Kloten. Ich bin überzeugt, dass das Asylsystem nur dann gut funktionieren kann, wenn man rasch entscheidet, wer hier bleiben darf, und dann alles macht, um diese Menschen zu integrieren. Umgekehrt gilt es auch, den Entscheid, dass jemand wieder ausreisen muss, zu vollziehen. Sonst ist das System nicht glaubwürdig.

 

Und was sagen Sie nun jenen, die Stadt und Kanton in Sachen Testzentrum offensichtlich nicht vertrauen?

Der Mix der BewohnerInnen des Testzentrums ist repräsentativ, und die veröffentlichten Zahlen stimmen. Halb Europa will sich das Zentrum zurzeit anschauen und sich informieren; ich war persönlich mit dem luxemburgischen Aussenminister dort und mit einer Delegation des bayrischen Landrats. Das Testzentrum ist zu einer Art Pilgerstätte für all jene geworden, die an einer Verbesserung der Asylsysteme Europas interessiert sind. Deutschland hat eine Asylgesetzrevision gemacht, die an unsere Asylpraxis angelehnt ist. Ich finde, die Schweiz muss sich nichts vorwerfen lassen; wir sind fair, aber auch konsequent.

 

Nicht alle ziehen die Grenze zwischen einer konsequenten und einer zu harten Haltung am selben Ort.

Am letzten Dienstag formulierte ein Artikel im ‹Tages-Anzeiger› Kritik an den Befragungen in einigen Erstaufnahmezentren; es wurde unter anderem als problematisch vermerkt, dass es bei den Befragungen keine Aufsichtsinstanz gibt. Demgegenüber wurde das Testzentrum Juchhof als gutes Beispiel hervorgehoben, als Ort, an dem das Verfahren schnell und fair ablaufe – eben weil dort jedem, der um Asyl nachsucht, von Anfang an jemand zur Seite gestellt wird.

 

Die Freiplatzaktion Zürich empfiehlt dennoch ein Nein zur Asylgesetzrevision, unter anderem wegen der «extrem kurzen» Beschwerdefrist.

Die Freiplatzaktion hat grundsätzlich, wenn ich das richtig verstanden habe, die Haltung, dass alle hierbleiben dürfen. Diese Haltung kann man vertreten, aber sie dürfte kaum mehrheitsfähig sein. Als Kanton müssen wir in Zusammenarbeit mit dem Bund für rasche und faire Verfahren einstehen. Ich habe aber überhaupt kein Problem damit, wenn das Asylsystem und unsere Arbeit von links kritisiert wird.

 

Es sei denn, die Kritik kommt von den Juso…

Die Juso dürfen mich selbstverständlich jederzeit kritisieren, sie dürfen auch meinen Rücktritt fordern, aber sie sollten dafür politische Instrumente nutzen, statt Strafanzeigen einzureichen. Ich habe kein Problem mit Kritik von links, im Gegenteil: Manchmal ist sie sogar hilfreich. Wenn man jedoch nicht primär gesinnungsethisch handelt, sondern auch Verantwortung übernehmen muss, dann muss man sich überlegen, wie man das Asylsystem als Ganzes stabil halten kann. Denn nur wenn das System stabil ist und die Mehrheit darauf vertraut, dass diejenigen, die ein Recht auf Asyl haben, bleiben dürfen bzw. die andern gehen müssen, ist die Bevölkerung auch bereit, mit grossen Mitteln und mit viel Herz die Leute zu integrieren, die hier bleiben.

 

Ein anderes grosses Thema, mit dem sich die Regierung dieses Jahr beschäftigt, ist das Sparen. Im ‹Tagi› wurde bereits kritisiert, dass die Zusatzleistungen zur AHV/IV, für die Ihre Direktion zuständig ist, künftig nicht mehr an all jene ausbezahlt werden, die heute davon profitieren.

Bei diesem Beispiel geht es um eine Änderung des Zusatzleistungsgesetzes. Unser Sparbeitrag geht dahin, dass künftig Einzelpersonen mit einem Vermögen von mehr als 50 000 Franken und Verheiratete mit mehr als 100 000 Franken keine Zusatzleistungen mehr bekommen. Davon betroffen sind zwischen fünf bis zehn Prozent der BezügerInnen. Das ist sozialpolitisch verantwortbar.

 

Mussten Sie im Rahmen Ihres Sparauftrags auch Kürzungen vornehmen, die Sie als sozialpolitisch nicht verantwortbar einstufen?

Nein, das war nicht der Fall. Finanziell die grösste Reduktion zukünftiger Planwerte bringt die Leistungsüberprüfung für die Invalideneinrichtungen, denen wir für die Jahre 2017 bis 2019 gleichviel zahlen wie fürs Jahr 2016. Das bedeutet, dass die Auslastung der Heime im Wohnbereich von 95 auf 96 Prozent und bei den Tagesstrukturen von 95 auf 97 Prozent erhöht werden muss. Zudem wird die Anzahl der gemäss Bedarfsplanung neu zu schaffenden Plätze aufs absolut Notwendige gekürzt. Genehmigt der Kantonsrat bei der Budgetberatung unseren Vorschlag, dann müssen wir in diesem Bereich sonst keine Abstriche mehr machen; dies im Gegensatz zu andern Kantonen, die beim Sozialen teils beträchtliche Sparmassnahmen vorgenommen haben. Hätte nicht ein sozialdemokratischer Regierungsrat die Sozialdirektion im Kanton Zürich inne, wäre möglicherweise auch im Kanton Zürich bei den Behinderten gespart worden.

 

Dann hatte die NZZ also recht, als sie kürzlich einigermassen entrüstet schrieb, trotz des bürgerlichen Regierungsrats werde im Kanton Zürich gar nicht gespart?

Wir haben hauptsächlich die normalerweise kontinuierlich ansteigende Kurve der Ausgaben für die nächsten Jahre etwas flacher gestaltet. Doch die erwähnte Massnahme bei den Zusatzleistungen ist tatsächlich eine Sparmassnahme; das kann man nicht wegdiskutieren. Ebenfalls eine Sparmassnahme ist es, dass wir die Drogenhilfe, die wir früher mitfinanzierten, neu ganz den Gemeinden überlassen. Aber was wir bei den Behindertenheimen vorschlagen, ist ein Einfrieren der Leistungen auf einem guten Niveau; ich habe alles daran gesetzt, dass wir hier keine Leistungen zurückfahren.

 

Zurück zu Ihrem Amt als Präsident: Sie freuen sich bestimmt schon darauf, als Sozialdemokrat in einer bürgerlichen Regierung den Stichentscheid fällen zu dürfen.

Den braucht es höchstens, wenn jemand fehlt… Im Ernst: Die Regierung funktioniert anders, niemand markiert im Präsidium den Boss. Alle wissen, dass die Präsidenten von heute die einfachen Regierungsräte von morgen sind. Was ich aber tun kann, ist, an verschiedenen Orten Verfahren in eine gute Bahn zu lenken oder zu sagen, hier braucht es einen vertieften Dialog oder dort müssen wir noch etwas länger nachdenken. Aber die Regierung ist kein Ort klarer Fronten; ihre Mitglieder sind nicht nur in einer Partei, sondern haben auch verschiedene kulturelle Interessen oder kennen sich, teils schon sehr lange, aus einem anderen Zusammenhang. Gerade bei der Leistungsüberprüfung 2016 zeigt sich das: Die Regierung hat einen Gesamtwurf gemacht, der letztlich weder den Beifall der bürgerlichen Parteien noch der Linken bekommen hat, woraus ich schliesse, dass er recht gut gelungen ist. Er zeigt übrigens auch, dass die fünf Bürgerlichen nicht ständig die beiden SozialdemokratInnen niederstimmen: Die Mehrheiten wechseln.

 

Die Leistungsüberprüfung 2016 war allerdings erst ein Schritt; bald folgt die Unternehmenssteuerreform III. Spätestens dann dürfte es vorbei sein mit der Harmonie innerhalb der Regierung.

Die Unternehmenssteuerreform III wird frühestens in den Jahren 2022 bis 2024 wirksam. Auch was sie betrifft, spürt man, dass die Regierung – wenn denn mal klar ist, was tatsächlich auf uns zukommt – keinen Kahlschlag in einer Direktion anstrebt, sondern einen Konsens, für den alle etwas hergeben müssen: Unsere Regierung ist sehr konsensorientiert und aufgabenfokussiert.

 

Zusammengefasst: Sie haben einen richtigen ‹Schoggijob› und keine Probleme in Sicht?

Es ist viel schwieriger, sachgerechte Lösungen zu finden, die den realen Begebenheiten gerecht werden, als einfach auf der Ideologieschiene zu fahren. Man kann nicht regieren, wenn man stur auf der eigenen Ideologie fährt und nur umsetzen will, was den eigenen Vorstellungen entspricht. Natürlich stehen wir mit der Leistungsüberprüfung und der Unternehmenssteuerreform vor Herausforderungen, und auch die Sicherheit beschäftigt uns stets von neuem. Zudem kann niemand in Europa abschätzen, wie sich die Flüchtlingsthematik weiterentwickeln wird.

 

Aber Sie blicken so oder so zuversichtlich in die Zukunft?

Der Kanton Zürich ist gut vorbereitet: Wir haben eine sehr tiefe Arbeitslosigkeit, insbesondere auch eine sehr tiefe Jugendarbeitslosigkeit, und wir haben ein hervorragendes Berufsbildungssystem mit allen Weiterbildungsmöglichkeiten. Denken wir etwa an die Leute, die vor rund zwanzig Jahren aus dem Balkan zu uns gekommen sind: Sie haben sich sehr schnell integriert. Ihre Kinder besuchen heute die Fachhochschulen – oder sie machen uns im Hinblick auf die Fussball-Europameisterschaften Hoffnung. Ich habe junge Albaner gefragt, wie sie sich den Ausgang der Partie zwischen Albanien und der Schweiz vorstellen, und die Antwort lautete, am liebsten wäre ihnen ein Unentschieden: Das ist doch die schweizerischste Antwort, die man sich vorstellen kann. Diese Integration in kurzer Zeit – das soll uns mal ein Land nachmachen!

Für mich ist klar: Wer hier bleiben darf und hier ankommen will, der kann es auch schaffen. Aber er muss wollen; das finde ich ganz wichtig. Wer keinen Integrationswillen zeigt oder wer nicht arbeiten will, den lehnt unsere Gesellschaft ab – zu Recht, finde ich.

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