- Post Scriptum
Bei aller Freude
«Bei aller Freude sind Kinder nun einmal nicht bequem.» Ich lese den Satz einige wenige Minuten, nachdem ich fassungslos aufs Sofa sinke. Hinter mir liegt ein Kindergeburtstag mit Sechsjährigen, die eine beispiellose Konfetti- und Papierschlangenverwüstung hinterlassen haben. An meinen Füssen kleben Carambar, Sugus und Tortenresten fest, im Bad steht ein Fahrrad. Ich sinke aufs Sofa, auf einen nicht ganz ausgetrunkenen Caprisonnebeutel, der sich nun warm und feucht über meinen unteren Rücken verteilt. Ermattet kann ich nur noch auf dem Handy scrollen, finde einen Artikel und dort den Satz: «Bei aller Freude sind Kinder nun einmal nicht bequem.» Ich fühle mich verstanden. Ich lese augenblicklich den ganzen Text. Und lerne gleich ein paar neue Wörter. Bevölkerungsverfall. Netto-Todes-Zone. Ersetzungsrate. Geburtendürre.
Ja, wir sterben aus. Sagt zumindest der amerikanische Demograf Nicholas Eberstadt. Die Weltbevölkerung schrumpft. Die Geburtenrate in Deutschland sank auf 1,3 Kinder pro Frau. Um die Bevölkerung weltweit gleich gross zu halten wie jetzt, müsste jede Frau 2,1 Kinder gebären. Das ist die Ersetzungsrate. Da liegt Deutschland aber deutlich darunter, wie die ganze EU, die seit 2012 eine sogenannte Netto-Todes-Zone ist: 2022 gab es auf vier Todesfälle nur drei Geburten. Und das Drama, so Eberstadt, liegt darin, dass die Geburtendürre eine weltweite ist. China hat im Schnitt noch 1 Kind pro Frau, Südkorea ist bei 0,7. Bleibt das so, schrumpft die Bevölkerung jährlich um 3 Prozent, in einem Jahrhundert gäbe es schliesslich keine Südkoreaner:innen mehr. Das ist der Vorgeschmack des Bevölkerungszerfalls.
Jetzt löst das Verschiedenes aus in mir. Ein klein wenig erinnert mich die wiederkehrende Diskussion um den dramatischen Geburtenrückgang an die schwindenden Ölreserven während meiner Schulzeit. Damals hiess es, die Ölreserven würden nur noch für 50 Jahre ausreichen. Das hing ein wenig wie ein Damoklesschwert über uns allen. Es blieb aber interessanterweise dabei, immer reichte es noch für ungefähr 50 Jahre. Auch jetzt ergibt eine kurze Recherche: Ölreserven für ungefähr 46 Jahre.
Zudem kommt mit der Diskussion um den Geburtenrückgang auch zuverlässig die Frage, wer uns pflegt im Alter. Die Autorin des Artikels in der NZZ hält dazu fest: «In Südostasien befindet sich die ‹Babyproduktion› im freien Fall. Thailand hat mehr Tote als Geburten. Das sind leider die Länder, aus deren Geburtenüberschuss wir unser Pflegepersonal rekrutieren wollen.» Das tönt für mich, als könnten wir nun doch keine Sklaven importieren, weil sie leider nicht mehr in der nötigen Anzahl geboren werden. Vielleicht wäre jetzt auch ein guter Zeitpunkt, um über eine Pflegelösung nachzudenken, die nicht darin besteht, arme, junge Menschen aus fernen Ländern dafür auszubeuten.
Schliesslich nerve ich mich aber vor allem über die Aussage, dass es eigentlich unverständlich sei, warum gerade in Deutschland die Geburten zurückgehen, «trotz staatlichen, teilweise gebührenfreien Kitas, Elternzeit, finanziellen Zuwendungen». Niemand hat deswegen mehr oder überhaupt Kinder. Die erwähnten Leistungen sind nötig, um Beruf und Familie einigermassen zu vereinbaren. Aber darum geht es nicht, das Problem liegt anderswo. Denn für eine Karriere wird noch immer die totale Selbstaufgabe verlangt. Am Anfang einer Familienplanung steht nicht die Frage, ob der Kitaplatz dereinst gratis sein wird. Sondern jene nach dem Druck, dem man sich selbst aussetzen will. Es geht um die «Tendenz zur Selbstverwirklichung und Bequemlichkeit». Der Demograf hält sie für schlecht, ich halte sie gerade für etwas Gutes. Ich halte es für einen sehr legitimen Wunsch, neben dem Beruf auch noch ein Leben haben zu wollen, sei es eines mit Kindern oder nicht. Ich halte es für ein Recht, eine Karriere haben zu wollen, ohne dafür auf alles andere verzichten zu müssen. Die Wirtschaft sieht das anders, und auch in unseren Köpfen sitzt noch die Vorstellung, dass ein einfacheres Leben kein anständiges Leben sei. Wollen wir das ändern? Das ist eine unbequeme Frage, bei aller Freude.