Befähigen statt sanktionieren

Die neue «Strategie für die berufliche und soziale Integration» des Zürcher Sozialdepartements bringt unter dem Titel «Fokus Arbeitsmarkt 2025» nichts weniger als einen Paradigmenwechsel.

 

Was soll mit Stadtzürcher SozialhilfeempfängerInnen geschehen, die kaum Chancen haben, je wieder im ersten Arbeitsmarkt Fuss zu fassen? Sollen sie um jeden Preis und unter Androhung von Sanktionen in Qualifizierungsprogramme geschickt werden, auch wenn ihre Motivation den Chancen entsprechend ist, also gering bis inexistent? Nein, sollen sie nicht – beziehungsweise nicht mehr: Dieser Paradigmenwechsel steht im Zentrum der neuen Strategie für die berufliche und soziale Integration des Zürcher Sozialdepartements. Am Dienstag stellten Sozialvorsteher Raphael Golta und Mirjam Schlup, Direktorin der Sozialen Dienste, die unter dem Titel «Fokus Arbeitsmarkt 2025» zusammengefassten Massnahmen und Ziele der Strategie an einer Medienkonferenz vor.

 

Um wen geht es?

Raphael Golta legte dar, mit wem es die Sozialhilfe in Zürich zu tun hat: 15 Prozent der KlientInnen sind gesundheitlich beeinträchtigt, bekommen aber keine IV. 20 Prozent warten auf Arbeitslosengelder, IV etc. und beziehen zur Überbrückung Sozialhilfe. 10 Prozent beziehen Arbeitslosengelder und Sozialhilfe, und 10 Prozent arbeiten und beziehen zusätzlich Sozialhilfe, weil ihr Lohn nicht zum Leben reicht. Weitere 20 Prozent der SozialhilfeempfängerInnen sind Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren, und 5 Prozent betreuen kleine Kinder. Damit bleiben 20 Prozent, die arbeiten könnten, aber keinen Job haben. Rechnet man die 10 Prozent dazu, die Arbeitslosengelder und Sozialhilfe beziehen, kommt man auf die rund 30 Prozent aller SozialhilfeempfängerInnen, für welche die Integration in den ersten Arbeitsmarkt ein Thema ist.

 

Das, was diese Menschen verbindet, ist in der Regel ihre geringe berufliche Qualifikation – und die Arbeitslosigkeit bei Un- und Angelernten nimmt kontinuierlich zu. Gründe dafür sind einerseits ein starker Rückgang der Nachfrage nach Geringqualifizierten, weil deren Jobs zunehmend ins Ausland ausgelagert werden, und anderseits die Tatsache, dass unter anderem wegen des technischen Fortschritts und der Allgegenwart von Computern immer höhere Qualifikationen verlangt werden.

 

Ziel der Arbeitsmarktintegration dürfe es demnach nicht sein, möglichst viele Menschen möglichst rasch irgendwo zu beschäftigen, sagte Golta: «Wollen wir die Chancen von Geringqualifizierten auf dem ersten Arbeitsmarkt nachhaltig verbessern, so müssen wir ihre Qualifikation verbessern – innerhalb wie ausserhalb der Sozialhilfe. Ansonsten laufen unsere Bemühungen Gefahr, zum Nullsummenspiel zu verkommen.» Damit das nicht eintrifft, will das Sozialdepartement «am Puls des Arbeitsmarkts» sein. Zusammen mit PartnerInnen der öffentlichen Hand und der Privatwirtschaft sollen Menschen mit fehlender oder ungenügender Qualifikation dahingehend unterstützt werden, dass sie ihre Existenz (wieder) mit Erwerbsarbeit sichern können. Allerdings, fügte Golta an, müsse man auch akzeptieren, dass es nicht gelingen werde, für alle Betroffenen einen Platz im Arbeitsmarkt zu finden. Das heisse aber nicht, dass diese Menschen künftig aufgegeben und alleingelassen würden: «Wir unterstützen sie selbstverständlich weiterhin, jedoch nicht mit dem alleinigen Ziel vor Augen, sie wieder in den Arbeitsmarkt zu bringen.» Die neue Strategie für die berufliche und soziale Integration von Menschen, die Sozialhilfe beziehen, sieht denn auch vor, «Mittel und Wege neu zu denken, um die Arbeitsmarktchancen zu verbessern».

 

Vier Zielgruppen

Was man sich unter diesen Mitteln und Wegen vorstellen muss, erläuterte Mirjam Schlup. Wer sich neu bei der Sozialhilfe anmeldet und als potenziell arbeitsfähig eingestuft wird, absolviert wie bisher zuerst einmal die Basisbeschäftigung an der Aemtlerstrasse. Dieses Programm dauert vier Wochen und dient dazu, abzuklären, über welche Fähigkeiten diese Menschen verfügen, welche Defizite es anzugehen gilt und wie es um ihre Motivation steht. Gearbeitet wird beispielsweise in der Küche, im Hausdienst, in der Velowerkstatt oder im Recycling. Nach diesem Einstieg werden sie aufgrund ihrer Arbeitsmarktfähigkeit und ihrer Motivation neu einer von vier Zielgruppen zugeteilt. In die erste kommen Menschen, die kaum (mehr) Chancen auf dem Arbeitsmarkt und entsprechend geringe Motivation haben. Sie dürfen in einem Programm arbeiten, müssen aber nicht. In der zweiten Gruppe sind jene, die motiviert sind, wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen, sich aber in entsprechenden Programmen erst die nötigen Fähigkeiten aneignen müssen. Die dritte Gruppe umfasst jene, die arbeiten können und motiviert sind; hier lautet das oberste Ziel, eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt zu finden. In die vierte Gruppe kommen schliesslich jene, die laut Einschätzung aufgrund der Basisbeschäftigung im ersten Arbeitsmarkt tätig sein könnten, aber nicht motiviert sind. Sie müssen weiterhin mit Sanktionen rechnen.

 

Mirjam Schlup fasste zusammen: «Wer eine hohe Motivation für ein Programm oder eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt mitbringt, hat keinen Zwang nötig; bei diesen Menschen setzen wir auf Freiwilligkeit und Eigenmotivation.» Ein «besonderes Augenmerk» richte man zudem darauf, dass die 18- bis 25-Jährigen einen Berufsabschluss machen.

 

Raphael Golta erinnerte zum Schluss noch daran, dass Sanktionen allfällig vorhandene Motivation beeinträchtigen können: Die bisherigen Erfahrungen zeigten, dass die meisten SozialhilfeempfängerInnen «etwas Sinnvolles tun» wollen – und zwar von sich aus. Sanktionierung binde zudem finanzielle und personelle Mittel, die man besser in die Beschäftigung der Menschen investiere. Die neue Strategie für die berufliche und soziale Integration wird ab Mitte 2018 umgesetzt. Bereits ab Anfang Jahr wird zusätzlich eine Bildungsstrategie erarbeitet.

 

In ihrer Stellungnahme hält die SP der Stadt Zürich fest, Stadtrat Golta mache die Sozialhilfe «fit für die Zukunft». Mit der «Früherkennung von Risikogruppen und der gezielten Vermittlung von beruflichen Qualifikationen» setze er am richtigen Ort an, und «genau so richtig» sei auch das «Abrücken von der sinnlosen pauschalen Sanktionierung im bisherigen System». Auch die AL schreibt unter dem Titel «Fehler der Vergangenheit korrigiert», sie begrüsse diesen «überfälligen Schritt». Dass die als qualifiziert, aber nicht motiviert eingestuften Menschen weiterhin sanktioniert werden könnten und dass damit ‹gute› und ‹schlechte› Sozialhilfebeziehende unterschieden würden, lehne die AL jedoch «dezidiert» ab. Ganz anders tönt es bei der FDP: «Paradigmenwechsel in der Sozialhilfe weist grosse inhaltliche Lücken, falsche Anreize und ein Kostensteigerungspotenzial in der Verwaltung auf», titelt sie ihre Medienmitteilung. Sie fordert unter anderem, dass das Sanktionswesen «wie bis anhin beibehalten» wird.

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