Ausser man tut es

Dies ist eine Weihnachtskolumne, und sie geht so: Heute habe ich mich an die Sendung «…ausser man tut es» erinnert. Sie heisst jetzt «mitenand» und porträtiert Menschen und Organisationen, die sich für andere einsetzen. Sie tun Gutes.

 

Eingefallen ist mir das, weil ich in die virtuelle Runde gefragt habe, worüber ich diese Kolumne schreiben könnte. Der Vorschlag dieses einen Facebookfreundes hat mich dann nicht mehr losgelassen. Ich solle doch etwas zu Verdingkindern, Heimkindern, administrativ Versorgten und anderen Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen
schreiben. Er sagt dies als Betroffener und auch als ein Mensch, der 2013 den Prix Courage für sein Engagement gegen das Vergessen erhielt. Walter Emmisberger berichtet über sein eigenes Leben und über das von anderen mit ähnlichem, und doch immer wieder ganz eigenem, schrecklichem Schicksal. Einmal hat er ein selbst gemachtes Video gepostet, auf dem ein Kind auf dem kalten Boden liegt, in den Armen einer mit Kreide gezeichneten Frau, und es fragt: «Mutter, wo bist du?» Ich konnte es nicht zu Ende schauen und habe mich geschämt, dass ich etwas nicht ansehen kann, was andere während Jahren und Jahrzehnten erleiden mussten.

 

Ein guter Freund meiner Eltern war Verdingbub, und als ich damals davon erfuhr, sah ich ihn mit anderen Augen. Ich beobachtete ihn und konnte nicht verstehen, warum dieser Mann trotzdem lachte, trotzdem lebte, arbeitete, eine Familie gründete und irgendwie gross wurde – wieso das alles ging, wenn man doch als Kind weggegeben wurde. Selber noch Kind, war es mir unerklärlich, wie ein so geschädigter Mensch so unbeschädigt wirken konnte. Ich habe ihn für seine Stärke bewundert und tue es noch heute. Aber ich weiss nicht, was er denkt, wenn er allein ist, ich weiss nicht, was er heute noch verdrängen oder verarbeiten muss, und ich weiss vor allem nicht, was Weihnachten ist für ihn. Denn ich liebe Weihnachten. Und es ist mir bewusst, dass es sehr einfach ist, Weihnachten zu lieben, wenn man noch keine dramatischen Schicksalsschläge erleben musste, wenn man nicht allein ist und eine grosse Familie hat, mit der man sich gut versteht. Ich kann mir den Luxus leisten, Weihnachten auch schon kurz nach den Sommerferien zu lieben, wenn die Schoggisamichläuse neben der Sonnencrème stehen. Aber dieses Familienfest, das man vor irgendeinem geschmückten Baum und in einem heimeligen Zimmer mit reichlich Essen und Trinken verbringen sollte, muss fürchterlich sein für all jene, die nicht so Glück hatten und haben. Ich weiss nicht, wie dieser Freund meiner Eltern es geschafft hat, eine Kindheit ohne Zuhause zu überstehen. Aber ich bin ziemlich sicher, dass es deshalb gelang, weil da Menschen waren, die geholfen haben.

 

Sie tun dies, indem sie ihre Zeit, ihre Menschlichkeit und ihre Kraft mit anderen teilen. Geld haben sie meistens keines oder nur wenig. Und wenn es jetzt auch unoriginell  klingen mag, in der Weihnachtszeit über Menschen und Organisationen zu schreiben, die helfen, Leid zu mildern, dann sei es so. Denn wenn es auch andere gibt, die sich manchmal schämen, dass sie ein Elend nicht mal aus Distanz ertragen können, wenn es andere gibt, die gerade an Weihnachten ganz besonders an jene denken, denen es nicht so gut geht, dann gibt es Dümmeres, als das schlechte Gewissen mit irgendeiner Form der Unterstützung zu beruhigen. Ein Bekannter meinte kürzlich, es sei ausgesprochen heuchlerisch, nur wegen ein paar Kerzen und Lichterketten plötzlich da und dort zu spenden.

 

Ich sehe das nicht so. Es gibt Menschen wie Walter Emmisberger, die dafür sorgen, dass Unrecht nicht vergessen geht, auf dass es sich nicht wiederhole. Und sie haben es alle verdient, dass man an sie denkt und sie unterstützt. Sei es einmal oder auch häufiger. Hauptsache, man tut es.

 

 

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