Auf die Täter zeigen statt auf die Opfer

Am 30. Oktober lädt die «Medica Mondiale Foundation Switzerland» zu einem Abend mit der Fachärztin Monika Hauser, die vor 25 Jahren die Frauenrechtsorganisation «medica mondiale» gegründet hat (siehe Kasten). Über ihre Arbeit an der Seite von Frauen, die Vergewaltigung, Folter und anderer Formen sexualisierter Gewalt erlebt haben, gibt Monika Hauser im Gespräch mit Nicole Soland Auskunft.

 

Sie lasen im Herbst 1992 über die unzähligen Frauen, die im Krieg in Bosnien vergewaltigt wurden. Sie waren schockiert und empört, reisten nach Zentralbosnien – und bauten in Zenica ein Frauentherapiezentrum auf. Was hat Sie den Schritt von der Empörung zur Tat wagen lassen?
Monika Hauser: Die Empörung war mein Motor, sie gab mir Kraft, und letztlich war es keine Frage, ob ich mich für diese Frauen einsetzen sollte oder nicht. Es war klar; ich habe nicht lange darüber nachgedacht.

 

Sie reisten allein und ohne Plan direkt ins Kriegsgebiet?
Ich hatte keine Organisation im Rücken, doch eine feministische Historikerin vermittelte mir einen Kontakt zu einer Beratungsstelle in Zagreb. Im Dezember 1992 fuhr ich dorthin, besuchte Flüchtlingslager in Kroatien, und es ergaben sich erste Kontakte zu Frauen in Bosnien. Ich stellte rasch fest, dass es in Kroatien nebst der erwähnten Beratungsstelle weitere Hilfsangebote für Frauen gab, die im Krieg vergewaltigt und traumatisiert worden waren. In Zentralbosnien jedoch war das nicht der Fall, weshalb ich mich entschied, dorthin zu gehen.

 

Weshalb fuhren Sie ausgerechnet nach Zenica?
Ich lernte zwei deutsche Pastoren kennen, die nach Zenica wollten und mir anboten, mich mitzunehmen. Zenica erwies sich dann als ein guter Ort, denn die kroatische Frontlinie rückte erst im Frühling 1993 bis dorthin vor; Ende 1992 schien der Krieg noch vergleichsweise weit weg.

 

Was haben Sie dort als erstes unternommen?
Ich fand innert kurzer Zeit Psychologinnen, Ärztinnen und Pflegefachfrauen, die hoch motiviert waren: Gerade die Krankenschwestern hatten immer wieder miterlebt, wie sich schwangere Frauen umbrachten, weil der Chefarzt der Frauenklinik in Zenica keinen Schwangerschaftsabbruch vornehmen wollte. Anfang Februar 1993 hatte ich ein Team von 20 Fachfrauen beisammen, und im April eröffneten wir das Frauentherapiezentrum.

 

Es ist also möglich, kriegstraumatisierten Frauen und Kindern schon zu helfen, während noch Krieg herrscht?
Mittlerweile sagen wir, dass es ein Minimum an Stabilität und an Strukturen braucht, um Traumaarbeit machen zu können. Aber damals im Frühling 1993 war unser Projektaufbau nahezu gleichzeitig mit der Zuspitzung der Kriegssituation und der Entwicklung der kroatisch-bosnischen Frontlinie. Doch da waren wir schon mitten im Aufbau unseres Zentrums.

 

Wer hat eigentlich den Aufbau des Zentrums und die Arbeit der Fachfrauen finanziert?
Die Sendung «Mona Lisa» des Zweiten Deutschen Fernsehens hat im Herbst 1992 eine Million Deutsche Mark an Hilfsgeldern gesammelt. Diese waren teils für kroatische, teils für bosnische Frauen bestimmt. In Bosnien selbst gab es damals aber noch kaum Hilfsprojekte. So wurden die Sendungsmacherinnen auf unser Projekt aufmerksam, ich schrieb ein kurzes Konzept, und Anfang 1993 erhielt ich eine Viertelmillion D-Mark. Im Februar kaufte ich damit in Deutschland die gesamte Ausrüstung ein, vom gynäkologischen Stuhl übers Anästhesiegerät bis hin zu Medikamenten. Im 20-Tönner fuhr ich Ende März von der kroatischen Küste her nach Zenica. Die Strecke war unter Beschuss, der Fahrer musste oft auf kleine Strässchen durch den Wald ausweichen, doch wir hatten Glück und kamen durch. Ende 1993 wurde ich dann in den ARD-Tagesthemen zur «Frau des Jahres» gewählt. Daraufhin gingen weitere Spenden von rund 750 000 D-Mark ein.

 

Am 4. April 1993 startete «Medica Zenica» mit der Einweihung des Frauentherapiezentrums. Wie erfuhren die Frauen im kriegsversehrten Bosnien von diesem neuen Zentrum?
Es gab von Anfang an recht viele Medienberichte, denn es war ja das einzige Projekt seiner Art in Zentralbosnien. Wir machten aber auch selbst Medienarbeit, wir informierten im Radio über unser Zentrum und hielten Medienkonferenzen ab. Wir gingen das Tabuthema Vergewaltigung offensiv an und wiederholten unsere Botschaft an die Menschen in Bosnien immer wieder: Ihr solltet mit dem Finger auf die Täter zeigen, nicht auf die Opfer, die überlebt haben. Diese müsst ihr wieder in die Gesellschaft integrieren, statt sie zu stigmatisieren und auszugrenzen.

 

Setzte dieses offensive Vorgehen keine Proteste ab?
Doch, aber es gab nur wenige Proteste. Ich erinnere mich etwa an eine Demo von Veteranen: Sie fuhren in Rollstühlen vor unser Zentrum und erklärten, nicht wir beziehungsweise die Opfer von sexualisierter Gewalt sollten Geld bekommen, sondern sie, die Veteranen. Grundsätzlich aber haben uns die Politik, die Medien und die Gesellschaft respektiert. Wir hatten einen guten Ruf, der nicht zuletzt daher rührte, dass wir uns mit der Bevölkerung solidarisierten. Es fehlte damals an Essen und an Medikamenten; Zentralbosnien sollte ausgehungert werden. Wenn es uns gelang, kleine Transporte durchzubringen, dann teilten wir mit dem Krankenhaus vor Ort und spendeten dem Pflegepersonal und den PatientInnen Lebensmittel.

 

Wie kam es zur Gründung des Vereins «medica mondiale» und wie arbeitet der Verein heute?
Ich habe den Verein «Medica Zenica» vor Ort zusammen mit den bosnischen Kolleginnen gegründet. Und in Deutschland wurde rasch klar, dass wir auch dort einen Verein brauchten, nicht zuletzt wegen der Spendengelder. Diesen Verein haben Frauen, die uns unterstützten, und mein Partner gegründet. Als ich 1994 zurück war, suchten wir uns erst mal ein grösseres Büro. Seither haben wir den Verein professionalisiert, und er ist stark gewachsen; zurzeit arbeiten 60 Frauen bei medica mondiale in Köln.

 

 

Wie sind die weiteren Frauentherapiezentren entstanden, die medica mondiale unter anderem in Kosovo und Albanien, in Afghanistan, in Liberia, Burundi und der Demokratischen Republik Kongo eröffnet hat?
Das hat zum Teil die Geschichte bestimmt: Im Kosovo waren es die gleichen Täter wie in Bosnien, und auch hier waren Vergewaltigungen wieder Teil einer Kriegsstrategie. In Afghanistan konnten wir erst anfangen, als die Taliban weg waren. Dann nahmen wir gemeinsam mit Aktivistinnen vor Ort die Arbeit auf, und heute sind dort über 70 Kolleginnen tätig. Nachdem uns die deutsche Regierung angefragt hatte, ob wir zusammen mit der Welthungerhilfe ein Projekt in Liberia starten möchten, begannen wir auch dort als erstes, einheimische Kolleginnen zu suchen. Gemeinsam mit ihnen starteten wir im Osten Liberias ein Projekt. Dort sind heute ebenfalls rund 70 Kolleginnen beschäftigt, und medica Liberia funktioniert seit zwei Jahren selbstständig.

 

Sie bauen demnach Ihre Projekte mit dem Ziel auf, sie dereinst in die Selbstständigkeit zu entlassen?
Ja genau. Wir bauen jedoch nicht nur Projekte selber auf, sondern wir unterstützen auch kleine, lokale schon bestehende Frauenorganisationen. Unsere Arbeit ist der Nachhaltigkeit verpflichtet; das beinhaltet nicht zuletzt, die Frauen vor Ort dabei zu unterstützen, sich selber zu helfen. Mit den Projekten im Osten des Kongos, in Burundi, Ruanda oder Uganda pflegen wir einen regelmässigen Austausch, und wir legen grossen Wert sowohl auf Training und Supervision der Fachkräfte wie auch auf politische Lobbyarbeit durch die Menschen vor Ort. Eine unserer Strategien besteht denn auch in der laufenden Qualifizierung dieser Fachkräfte. Wir vermitteln ihnen den stress- und traumasensiblen Ansatz, den wir im Laufe der Jahre entwickelt haben. Dabei geht es hauptsächlich darum, zusätzlichen Stress für die betroffenen Frauen zu vermeiden, einer Reaktivierung von Trauma-Symptomen vorzubeugen und letztlich die Frauen und Mädchen zu stärken und zu stabilisieren. Die erste Regierung, die uns von sich aus dazu eingeladen hat, an ihr staatliches Gesundheits­personal dieses Wissen zu vermitteln, war übrigens die kurdische Regierung im Nord-Irak.

 

Sie setzen sich auch in Deutschland für Überlebende sexualisierter Gewalt ein: Wo liegt hier der Schwerpunkt Ihrer Arbeit?
In Deutschland machen wir keine direkten Beratungen, doch wir haben von Anfang an politische Lobbyarbeit geleistet. Aufklärungsarbeit ist auch im Westen nach wie vor nötig als Antwort auf die Stigmatisierung und Ausgrenzung der Opfer sexualisierter Gewalt. Wir verfolgen zudem stets einen emanzipatorischen Ansatz. Wir wollen Frauen stärken, dass sie eigene Lebensperspektiven für sich aufbauen können und nicht erneut in Abhängigkeit geraten. Keine Frau ist nur ‹Opfer›, sondern sie kann zum ‹Change Agent› werden, zum handelnden Subjekt, das sich für bessere Verhältnisse einsetzt und so selbst zur gesellschaftlichen Bewusstseinsveränderung beiträgt.

 

Was macht medica mondiale für jene Frauen, die aus Kriegs- und Krisengebieten nach Deutschland geflüchtet sind?
Als 2015 knapp eine Million Menschen hier ankamen, haben wir in einem Pilotprojekt in Nordrhein-Westfalen über 1000 Personen im stress- und traumasensiblen Ansatz aus- und weitergebildet – Gesundheitspersonal, SozialarbeiterInnen, Mitarbeitende in Flüchtlingszentren, PolizistInnen. Nebst dem Umgang mit traumatisierten Personen lehrten wir sie auch, für sich selbst zu sorgen: Menschen, die täglich zuhören, was geflüchtete Menschen an Schrecklichem zu berichten haben, werden ebenfalls traumatisiert. Zudem besteht die Gefahr, dass eigene Erfahrungen sexualisierter Gewalt, die möglicherweise viele Jahre zurückliegen, wieder hochkommen. Dieser niedrigschwellige nicht-klinische Ansatz, für geflüchtete Menschen wie auch für ihre Betreuerinnen und Betreuer zu sorgen, fehlte in Deutschland, und er fehlt auch grossenteils in der Schweiz.

 

In einem Interview, das Sie diesen Sommer dem Kölner ‹Domradio› gaben, bezeichneten Sie die Unterbringung von geflüchteten Menschen in sogenannten Ankerzentren als «Verbrechen». Weshalb?
Hier in Westeuropa sollten wir geflüchtete Menschen aufnehmen und alles tun, um sie gut zu integrieren. Dazu müssten sie aber zum Beispiel dezentral in Wohnungen leben können, nicht in Lagern, oft weit ab und sogar neben Mülldeponien. Was ist mit uns los, dass wir Menschen in solche Lager stecken und sie noch weiter demütigen und retraumatisieren? Wa­rum ist uns nicht klar, dass diese Menschen genauso Unterstützung brauchen wie die Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg? Wir sind so reich, wir können uns das leisten! In den Nord-Irak sind viel mehr Menschen geflüchtet, und was haben die kurdischen BewohnerInnen dort gemacht? Sie haben den Geflüchteten ihre Häuser geöffnet und sie unterstützt, selbst wenn es darauf hinauslief, dass 20 Menschen in einer Wohnung lebten und sie das wenige Essen teilen mussten. Natürlich führte das auch zu Spannungen. Dennoch sollten wir alles tun, damit diese Menschen ins Leben zurückfinden – und zwar auch für uns selbst.

 

Wie meinen Sie das?
Abgesehen von ihrem puren Menschenrecht auf Hilfe ist es viel klüger, wenn wir diese Menschen unterstützen und gut ausbilden. Wir haben ein enormes Problem mit der Demografie – aber wir schicken Familien mit fünf Kindern, die bereits eingeschult oder gar schon in der Ausbildung sind, zurück in den Kosovo… Umgekehrt sollten wir die vielen Menschen, die wieder zurückwollen, hier gut ausbilden, damit sie dereinst gut gerüstet sind für den Wiederaufbau ihrer Heimat. Das würde uns allen viel mehr bringen, als die geflüchteten Menschen hier demütigend zu behandeln. Diese ganze Abschottungspolitik wird uns eines Tages um die Ohren fliegen, davon bin ich überzeugt. Sie ist menschenfeindlich und zu kurz gedacht – immerhin tragen unsere westlichen Regierungen eine Mitverantwortung: Sie exportieren Kriegsmaterial, und unsere neoliberale Wirtschaft schafft doch erst die Ursachen, weswegen die Menschen fliehen müssen.

 

 

Monika Hauser in Zürich:

Am Dienstag, 30. Oktober lädt die «Medica Mondiale Foundation Switzerland» zu einem Filmabend mit Monika Hauser ins Kino RiffRaff in Zürich. Um 18 Uhr wird der Dokumentarfilm «Monika Hauser. Ein Porträt» gezeigt. Der Film erzählt aus der Entstehungsgeschichte von medica mondiale und begleitet die Gründerin auf verschiedenen Stationen im Kampf gegen sexualisierte Gewalt. Anschliessend moderiert Léa Burger ein Gespräch mit Monika Hauser. Platzzahl beschränkt; Anmeldung bis 23. Oktober erbeten an:
info@medicamondiale.ch

 

Weitere Infos und Spendenkonto unter
medicamondiale.ch

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