Arbeitgeber:innen müssen Reallohnverlust verhindern

Prämienexplosion, Mietpreisanstieg, steigende Lebensmittelkosten: Seit drei Jahren sinken in der Schweiz die Reallöhne. Diese Entwicklung muss gestoppt werden. Andernfalls riskieren die öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber:innen das Funktionieren unseres Service public.

Die Preissteigerungen in den vergangen drei Jahren sind enorm und für die lohnabhängige Bevölkerung stark spürbar. Im August 2022 wies der vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) publizierte Landesindex der Konsumentenpreise (LIK) eine Teuerung gegenüber dem Vorjahresmonat von über 3,6 Prozent aus. Seit dreissig Jahren sind die Preise in der Schweiz nicht mehr so stark angestiegen. Übrigens ist davon auszugehen, dass die finanzielle Belastung für die meisten Haushalte hierzulande grösser ist, als es der LIK erahnen lässt. Und dies aus zwei Gründen: Einerseits unterschätzt er den Anteil der Miete an den gesamten Haushaltskosten bei Geringverdienenden. Bekanntlich erleben wir gerade einen massiven Anstieg der Mietkosten. Der Wohnkostenanteil wird also bei der Berechnung des Landesindexes der Konsumentenpreise zu tief gewichtet. Andererseits werden die Kosten für die Krankenkassenprämien nicht in den Index miteinberechnet. Seit vergangenem Dienstag ist klar: Die Haushaltsbudgets werdem auch 2024 durch die Prämienexplosion massiv belastet. Je nach Kanton steigen die Krankenkassenprämien um bis zu 10,5 Prozent.

Steigen die Preise, die Löhne jedoch nicht, ist ein Reallohnverlust die Folge. Die Rechnung ist einfach: Wir alle arbeiten und leisten exakt gleich viel wie vor dem starken Teuerungsanstieg. Aufgrund der Pandemie und arbeitsmarktlicher Entwicklungen haben die Belastungen am Arbeitsplatz teilweise gar zugenommen. Und dennoch können wir uns von unserem tagtäglich erarbeiteten Lohn weniger leisten. Die Konsequenz für Haushalte mit geringem Einkommen und für mittelständische Familien sind stark spürbar, die Ausgaben müssen gedrosselt werden. Solche Entwicklungen sind denn auch volkswirtschaftlich problematisch, denn der sinkende Konsum wirkt sich negativ auf unsere Wirtschaftsleistung aus. Der Grund für die steigenden Preise ist besonders ärgerlich. Nicht etwa zu stark gestiegene Löhne führen zur Teuerung, sondern die Profitbegierde der Vermögenden. Der oberste Schweizer Preisüberwachter Stefan Meierhans spricht ob diesen Umständen gar von einer Gierflation. Im Endeffekt bedeutet dies nichts anderes, als dass wir mit der Reallohneinbusse die Profite der Vermögenden bezahlen.

Gefordert ist einerseits die Politik. Es braucht zeitnah griffige Massnahmen, um die eklatante Steigerung der Mietpreise und Krankenkassenprämien zu stoppen. Zudem müssen die Institutionen des Service public gestärkt werden. Die Stimmbevölkerung hat diesen Herbst die Gelegenheit, die linken und progressiven Parteien, und damit die Kräfte, die den Kaufkraftverlust auf politischem Weg bekämpfen, zu stärken. Andererseits jedoch, und das ist der wirksamste und bedeutendste Hebel, sind die Arbeitgeber:innen direkt gefordert. Der Ausgleich des Kaufkraftverlusts durch effektive und spürbare Lohnmassnahmen, einst eine Selbstverständlichkeit, muss gewährt werden.

Gerade die öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber:innen sind unter Zugzwang. In Zeiten, in denen sich nicht mehr nach Belieben das notwendige Personal finden lässt, müssen die Arbeitsbedingungen stark sein. Dazu gehören faire und gute Löhne für gute Arbeit. Halten öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber:innen mit den Preisentwicklungen nicht Schritt, gehen sie ein untragbares Risiko ein: Sie finden nicht ausreichend Personal, um den Service public sicherzustellen. Zudem hat die öffentliche Hand Vorbildcharakter. Diese Verantwortung muss wahrgenommen werden.

Dies mag nach einem dystopischen Zukunftsbild klingen, ist aber bereits heute spürbar. In der Stadt Zürich beispielsweise bei den VBZ. Die zu dünne Personaldecke beim Fahrdienstpersonal, dem Rückgrat des öffentlichen Verkehrs, führt zu einer angespannten Situation. Dies spüren die Busfahrer:innen und Trampilot:innen deutlich, da sie immer wieder Dienste an arbeitsfreien Tagen übernehmen müssen, da ihre Kolleg:innen krankheitsbedingt ausfallen. Ein Teufelskreis, denn durch die zusätzliche Belastung steigen die gesundheitlichen Risiken, was wiederum zu vermehrten Ausfällen führt. Spürbare Folgen hat dies aber auch für die Fahrgäste. Immer wieder fallen einzelne Kurse aus. Die Wartezeit auf den nächsten Bus oder das nächste Tram verlängert sich immer wieder. Anfang 2023 gipfelten die Umstände in der monatelangen Einstellung des 15er-Trams. Zürich ist mit solchen Entwicklungen nicht allein. In St. Gallen kam es bei den Verkehrsbetrieben in den vergangenen Jahren zu Massenkündigungen. Auch hier sind die Löhne tief und der gewährte Teuerungsausgleich nahezu lächerlich.

Leider beschränkt sich die Anspannung nicht nur auf die Nahverkehrsbranche. In den Spitälern fehlt es an Pflegepersonal. Der Grund: Die Fachpersonen brennen unter der Mehrbelastung aufgrund der knappen Personalbestände aus. Die Folge sind weitere Ausfälle. Und auch hier leiden nicht nur die Arbeitnehmer:innen. Die Wartezeiten in den Notfallzentren werden länger, die Qualität der erforderlichen Leistungen sinkt trotz des grossen Engagements des Personals. Ähnliches lässt sich im Bildungssektor beobachten. Wir erleben einen akuten Lehrpersonenmangel. Dies hat Auswirkungen auf die Bildungsqualität. Auch hier ist selbstredend nicht das Engagement des Personals ein Problem, sondern das enorme Arbeitsvolumen.

Die Erfahrungen aus dem letzten Jahr zeigen, dass die Arbeitgeber:innen leider nicht ohne weiteres dazu bereit sind, die Reallohneinbusse bei den Arbeitnehmer:innen zu verhindern. Vielmehr wird es für das Personal unerlässlich sein, sich zu organisieren und adäquate Lohnmassnahmen zu erkämpfen. Das es dazu bereit ist, zeigen die starken Mobilisierungen der letzten Zeit. Vergangenen Sommer drohte das Zürcher Flughafenpersonal damit, zu streiken. Am Flughafen Genf kam es zu Beginn der Sommerferien effektiv zu einem Streik. Auch in den Streik getreten ist das Personal der Kantonsverwaltung Waadt Anfang diesen Jahres. Am 16. September versammelten sich zehntausende Arbeitnehmer:innen vor dem Bundeshaus zu einer Demonstration gegen die Reallohneinbusse.

Die Arbeitnehmer:innen haben genug von Ausreden, weshalb der Kaufkraftverlust nicht zu verhindern sei. Wer kein weiteres Verständnis mehr hat für Ausflüchte, Fehlkalkulationen und Missmanagement, muss sich organisieren und für sein gutes Recht kämpfen. Mancherorts ist der Geduldsfaden bereits gerissen, an anderen droht dies in naher Zukunft zu geschehen. Die Arbeitgeber:innen, gerade die der öffentlichen Hand, sind in der Pflicht zu handeln. Andernfalls drohen weitere Destabilisierungen des Service public.

* Micha Amstad, Zentralsekretär VPOD

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