Anti-Stau-Artikel hat noch kein Projekt verhindert

Tempo 30 auf der Rosengartenstrasse könnte am sogenannten Anti-Stau-Artikel scheitern, schrieb die NZZ kürzlich. In den knapp vier Jahren seit Inkrafttreten dieses Artikels ist ihm allerdings noch kein einziges von jährlich rund 50 Projekten der Städte Zürich und Winterthur zum Opfer gefallen.

 

Auf der Rosengartenstrasse soll Tempo 30 eingeführt werden, wie der Stadtrat vor einem Monat mitteilte. Er gibt mit diesem Entscheid, wie es in der Mitteilung vom 8. September heisst, «den EinsprecherInnen Recht, die auf der vierspurigen Achse Rosengarten-/Bucheggstrasse einen griffigen Lärmschutz verlangt hatten, und reduziert die Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h». Zudem wies der Stadtrat auf ein technisches Verkehrsgutachten hin, das ein externes Ingenieurbüro erarbeitet hatte. Es sollte die «Machbarkeit und Verhältnismässigkeit von Tempo 30 vom Wipkingerplatz bis zum Bucheggtunnel und vom Bucheggtunnel bis zur Schaffhauserstrasse» untersuchen. Das Gutachten, das auf der Website der Stadt einsehbar ist, kommt zu folgenden Schlüssen: Erstens würde die Einführung von Tempo 30 zu einer «deutlichen Lärmreduktion» führen. Zweitens würde sich die Fahrzeit für Autos «um höchstens 28 Sekunden auf die ganze Strecke verlängern». Und drittens: «Die Rosengarten-/Bucheggstrasse würde ihre Kanalisierungsfunktion als kantonale Hauptverkehrsachse auch mit Tempo 30 erfüllen. Der Verkehr auf Durchgangsstrassen ausserhalb des Stadtgebietes wird nicht beeinflusst.»

 

«Anti-Stau-Artikel wird immer berücksichtigt»

Am 6. Oktober erschien in der NZZ ein Artikel zu diesem Reizthema der Bürgerlichen. Bereits der Titel triefte vor schlecht kaschierter Schadenfreude: «Tempo 30 auf der Zürcher Einfallsachse am Rosengarten? Nicht so schnell, findet die Kantonspolizei – und pfeift den Stadtrat zurück.» Der Plan der Stadt drohe zu scheitern – «die Crux ist die Leistungsfähigkeit», schrieb die NZZ und verwies auf den 2017 von den Stimmberechtigten angenommenen Anti-Stau-Artikel in der Kantonverfassung. Dieser, Art. 104 Abs. 2bis, lautet wie folgt: «Der Kanton sorgt für ein leistungsfähiges Strassennetz für den motorisierten Privatverkehr. Eine Verminderung der Leistungsfähigkeit einzelner Abschnitte ist im umliegenden Strassennetz mindestens auszugleichen.» Die Verfassungsänderung trat per 1. Februar 2018 in Kraft.

Doch bei wie vielen Projekten musste Art. 104 Abs. 2bis Kantonsverfassung seit Inkrafttreten am 1. Februar 2018 im Kanton Zürich eigentlich beachtet werden? Und wie oft kam dabei heraus, dass sich ein geplantes Projekt trotz des Anti-Stau-Artikels problemlos verwirklichen liess – oder eben nicht? Lucia Frei ist stellvertretende Kommunikationsbeauftragte des Amts für Mobilität, das in der Volkswirtschaftsdirektion angesiedelt ist. Sie erklärt auf Anfrage, grundsätzlich müsse Art. 104 Abs. 2bis «bei allen Strassenbauprojekten auf Strassen mit überkommunaler Bedeutung gemäss Verkehrsrichtplan berücksichtigt» werden. Während ausserhalb von Zürich und Winterthur das kantonale Tiefbauamt für die Planung und Umsetzung von Strassenprojekten zuständig ist, hat der Kanton die Zuständigkeit für die überkommunalen Strassen in Zürich und Winterthur an die beiden Städte übertragen.

Dass Art. 104 Abs. 2bis stets beachtet werden muss, hat in den knapp vier Jahren seit Inkrafttreten jedoch nicht dazu geführt, dass Strassenprojekte reihenweise daran gescheitert sind – im Gegenteil: «Es gibt kein Projekt, das auf Stufe Genehmigung als nicht konform mit diesem Artikel beurteilt wurde», erklärt Lucia Frei. «Im Rahmen der Projekterarbeitung findet jeweils auf verschiedenen Stufen ein Austausch zwischen den kantonalen und städtischen Fachpersonen statt», fügt sie an: «Dabei werden Projekte unter Berücksichtigung aller relevanten Einflussfaktoren und Vorgaben laufend angepasst und weiterentwickelt. Der Anti-Stau-Artikel fliesst also in jede Projekterarbeitung mit ein, und  die Konformität mit dem Verfassungsartikel konnte stets auf Fachebene bereinigt werden.»

 

Negative Auswirkungen auf das Nationalstrassennetz?

Bleibt die Frage, weshalb es dann, wie die NZZ im erwähnten Artikel vom 6. Oktober zum Rosengarten festhält, beim Kanton «viele Fragezeichen zu dieser geplanten Temporeduktion» gibt? Im Artikel heisst es gar, «die Kantonspolizei hat dem Zürcher Stadtrat gemäss Informationen der NZZ sogar klipp und klar mitgeteilt, dass sie Verkehrsanordnungen auf der Rosengartenstrasse ohne ihre Zustimmung als unzulässig erachtet».

Lucia Frei führt dazu aus, dass die signalisierte Geschwindigkeit aus Sicht der Volkswirtschaftsdirektion unter Umständen Auswirkungen auf die praktische Leistungsfähigkeit einer überkommunalen Strasse haben kann: «Entsprechend hat die dafür zuständige Kantonspolizei in einem Schreiben zuhanden der städtischen Dienstabteilung Verkehr da­rauf hingewiesen, dass sie Verkehrsanordnungen auf der Rosengartenstrasse gemäss § 28 der kantonalen Signalisationsverordnung als unzulässig erachtet. Dies, weil gemäss Kantonspolizei negative Auswirkungen auf das angrenzende Nationalstrassennetz nicht ausgeschlossen werden können.» § 28 der kantonalen Signalisationsverordnung hält Folgendes fest: «Die städtischen Behörden holen die Zustimmung der Kantonspolizei ein, bevor Verkehrsanordnungen verfügt werden, die den Verkehr auf Durchgangsstrassen ausserhalb des Stadtgebietes beeinflussen können.»

 

«Keine negativen Effekte»

§ 28 der kantonalen Signalisationsverordnung ist nicht gleich Art. 104 Abs. 2bis Kantonsverfassung, und laut dem städtischen Gutachten (siehe oben) wäre der Verkehr auf Durchgangsstrassen ausserhalb des Stadtgebietes nicht betroffen: Wo genau liegt also das Problem? Bei der Medienstelle des städtischen Sicherheitsdepartements heisst es, «über die öffentlich bekannten Informationen hinaus erteilt die Stadt Zürich zum Thema aktuell keine Auskünfte».

Öffentlich bekannt ist aber, dass Regierungsrätin Carmen Walker Späh und Stadträin Karin Rykart im März 2019 ihre für Verkehrsfragen zuständigen Ämter beauftragt hatten, die Wirksamkeit von Tempo 30 zu überprüfen. Fazit der im Juni 2020 veröffentlichten, von Stadt und Kanton gemeinsam durchgeführten Wirkungsanalyse: «Die Einführung von Tempo 30 führt auch auf stärker frequentierten Strassen zu den gewünschten Ergebnissen. Die erzielte Lärmreduktion (…) liegt – wo eine entsprechende Geschwindigkeitsreduktion erreicht werden konnte – im wahrnehmbaren Bereich. Ausser der leicht verlängerten Reisezeit für öV und MIV konnten keine negativen Effekte festgestellt werden.»

Zurück zum Anti-Stau-Artikel: Auf der Webseite des Kantons findet sich eine «Anwendungshilfe» zu Art. 104 Abs. 2bis, datiert vom 8. März 2021. Sie liefert das passende Schlusswort: «Ein absoluter Vorrang der Kapazitätserhaltung ist nicht mit dem Bundesrecht vereinbar.»

 

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