Anerkennungsschwierigkeiten

Ein resultatmässig wieder einmal aushaltbarer Abstimmungssonntag ist eigentlich eine angenehme Sache und doch gab es einige kuriose Dinge demokratisch zu beschliessen. Der Abspaltungswunsch der Ustermer Ortsteile Nänikon und Werrikon hatte in der Vergangenheit bereits zu einigem Ärger im Oberland geführt, aufgeheizte Voten in Lokalmedien inklusive. Ganz grob zusammengefasst ging es darum, die zwei Weiler in die Gemeinde Greifensee aufzunehmen – die S-Bahn-Station heisst Nänikon-Greifensee, weil die beiden Orte zusammengewachsen sind, weshalb es auch um Schulwege, um Unternehmenssitze oder um Steuereinnahmen geht. Wie dem auch sei: Die Initiative «Zusammenführen, was zusammengehört» wurde abgeschmettert, weil die Ustermer Bevölkerung diesen Grundsatz so nicht unterschreiben konnte. Vielleicht ist mit dem kommenden Wochenende aber gerade ein passender Zeitpunkt gewählt, um den Ustermärt abzuhalten. Schliesslich gilt es für die Bevölkerung von Nänikon und Werrikon, ihre Wunden zu lecken – und als offizieller Teil der Ustermer Bevölkerung lebt es sich in diesem Kontext wohl doch besser als als Ausgangstourist im Zürcher Oberland. 

Meine eigentliche Lieblingsgeschichte, die am Abstimmungssonntag geschrieben wurde, entstand aber in Wassen im Kanton Uri. Dort sollten am Sonntag eigentlich zwei Personen in den Gemeinderat gewählt werden. Die Gemeinde hatte bereits in der Vergangenheit Mühe, die Sitze zu besetzen, und auch diesmal ist es nicht klar, ob das klappt. Immerhin: Zwei Personen wurden gewählt. Felix Baumann-Baumann bekam 24 Stimmen, Andreas Baumann-Zurfluh deren 13. Darüber wurden sie laut ‹20Minuten› von Gemeindepräsident Beat Baumann-Nogueira informiert. Sowohl Felix Baumann-Baumann als auch Andreas Baumann-Zurfluh hatten sich nie für die Wahl aufgestellt und wollen eigentlich auch nicht in den Gemeinderat von Wassen. 

Und trotzdem: eine Vorlage ist mir sauer aufgestossen. Die Initiative «Tschüss Genderstern» aus den Reihen der SVP wurde von der Stadtzürcher Bevölkerung mit 57 Prozent Nein-Stimmen zwar klar abgelehnt, und trotzdem hält sich meine Schadenfreude in Grenzen. Vielleicht ist es Fremdscham, für den Namen der Initiative, der nicht trockener und plumper sein könnte. Oder Fremdscham darüber, dass man über ein angebliches Sprachdiktat der Linken und über Politik in der Sprache klagt, dann aber Sprache über den politischen Weg zensieren will. Oder Fremdscham darüber, mir auszumalen, wie ich mich ein halbes Jahr in der Öffentlichkeit mit so einer Sache als Kernanliegen positionieren müsste. Es ist wirklich bemerkenswert, wofür Zeit, Mittel und Aufwand bereitgestellt werden: Dafür, der Stadtverwaltung zu verbieten, den Genderstern in behördlichen Texten zu verwenden. Beziehungsweise: Der Stadtverwaltung zu verbieten, generell Sonderzeichen innerhalb einzelner Wörter zu verwenden. Die Begründung: Behördentexte müssen klar, verständlich und lesbar sein. Aber nicht nur das, so sorgt man sich auch um die Barrierefreiheit, um grammatikalisch falsche Formen, um Rechtsunsicherheit und zu guter Letzt darum, dass Sprache nicht politisch sein darf. 

Ich meine, die Antwort irgendwo gelesen zu haben. Aber ich kann mich nicht erinnern und es interessiert mich auch nicht wirklich, genau herauszufinden, ob ein verwaltungsweites Verbot, Sonderzeichen innerhalb von Wörtern zu setzen, auch hiesse, dass zum Beispiel keine Bindestriche mehr gemacht werden dürften. Aber die Begründung setzt dank ihrer Erwartung den Deckel drauf und macht die Frage relativ uninteressant. «Texte von Behörden müssen sachgerecht, klar und verständlich für alle sein», heisst es bei den Initiant:innen der Initiative. Ich bin sicher, der Genderstern ist das Hauptproblem, wenn es um die Verständlichkeit von Behördentexten geht …

Die Initiant:innen sorgen sich auch um die Barrierefreiheit, um Schwierigkeiten für Personen mit Migrationshintergrund und um Rechts- und Bedeutungsunsicherheiten. So wird zum Beispiel geklagt: «Ist die Formulierung ein*e Ärzt*in geschlechtsneutral oder geschlechtsspezifisch gemeint?» Ich verstehe die Frage beim besten Willen nicht – und sie demontiert das Argument, das sie zu stützen versucht, eigentlich selbst. Denn die Initiant:innen wollen anstatt des Gendersterns das generische Maskulinum. Der Arzt wäre also erst recht nicht als geschlechtsneutral oder geschlechtsspezifisch zu erkennen. Dem gegenübergestellt: Arzt/Ärztin beschreibt ein Individuum, Ärzt:in das Berufsfeld. Und ob der Umlaut nun fehl am Platz ist oder nicht, ist mir persönlich egal, wenn die Alternative semantisch ungenau ist. Diese Art von Sprachkonservatismus ist eine besonders seltsame.

Ich fühle mich zurückversetzt in meine Zeit am deutschen Seminar der UZH.  Sprachliche Geschlechtmarker habe ich von Beginn weg eigentlich nie als ideologischen Einfluss verstanden, sondern als semantische Optimierung. Natürlich sind die Hintergründe, also die emanzipatorischen Bewegungen bedeutender Personengruppen, relevant für den gesellschaftlichen Diskurs über Sprachwandel. Sprache ist nunmal grundsätzlich identitätsbildend. Warum nur Tradition eine angemessene Begründung für Sprachwandel sein soll, kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen. Warum es die Wissenschaft nicht sein soll, erst recht nicht.

Immerhin wurde die Sapir-Whorf-Hypothese bereits vor 70 Jahren aufgestellt. Sie erkennt Sprache als «guide to social reality» und stellt die – in der Sprachwissenschaft breit akzeptierte – These auf, dass Sprache die Wahrnehmung, Erfahrung, Wertung und somit die Kultur einer Sprachgemeinschaft wesentlich beeinflusst. Also, dass Sprache einen direkten Einfluss auf Denkweisen, Wertesysteme und Verhalten hat. Wenn sich eine ältere Generation über den Wortschatz der jüngeren echauffiert, nehmen wir als Beispiel viele Anglizismen in der Jugendkultur, dann ist das nicht Ausdruck davon, dass die hiesige Sprachkultur unterwandert wurde, sondern in erster Linie davon, dass die hiesige Sprache nicht alle Nuancen ausdrücken kann. 

Genauso ist es mit sprachlichen Geschlechtmarkern wie dem Genderstern. Viele Sprachgemeinschaften nutzen Kategorisierungssysteme, die nicht auf zwei biologische Geschlechter ausgelegt sind, weil ein binäres Kategorisierungssystem der Geschlechter auch in der Kultur der jeweiligen Sprachgemeinschaft nicht existiert. Die deutsche Sprache kennt das nicht: Sie ist nicht in der Lage, Geschlechterdiversität mittels generischem Maskulinum auszudrücken. Nicht die Einführung eines Zeichens, sondern das Festhalten an Sprachtradition ist rein ideologisch, ähnlich wie es auch die ablehnende Haltung der Regierung ist, den dritten Geschlechtseintrag nicht einführen zu wollen. Es wäre ein bedeutende Zugeständnis. Die Verwendung des Zeichens ist lediglich das Minimum eines Zugeständnisses in Bezug auf Inklusion und bringt keineswegs mehr Schutz oder Sicherheit für die betroffene Personengruppe. Wenn schon hier ein derartiger Aufstand veranstaltet wird, wie sieht es dann aus, wenn es um effektive Anerkennung von verschiedenen Geschlechtsidentitäten und -Realitäten geht?