Altpapier
Es ist immer das Gleiche, so kurz vor den Wahlen. Mein Gehirn verabschiedet sich in Richtung Panik, gänzlich absurde Szenarien erscheinen mir plötzlich durchaus möglich. 7 SVP-Regierungsräte? 20 SP-Sitze weniger im Kantonsrat? Oder sogar 25? Ich kann nur noch Wahlen denken, aber nicht mehr ganz klar.
Auf dem Weg auf den Spielplatz heute steigerte sich das Grauen ins Unermessliche, weil ich ausschliesslich unseren Flyer zuoberst auf all den Altpapierhaufen sah. Nur auf den Plakaten stierten mir Bürgerliche entgegen und nahmen mir das letzte Stück Hoffnung. In solchen Momenten fällt mir dann auch immer ein, was wir alles vergessen haben im Wahlkampf. Auf einen Schlag brechen die gigantischsten Wahlkampfideen über mich herein, Garanten für den sicheren Wahlsieg, jetzt leider zu spät. Ich hasse die letzte Woche vor dem Wahltag. Ich hasse sie sehr.
Diese Kolumne, ich kann nicht anders, handelt deshalb von Wahlen. Und von Demokratie.
Mir ist nämlich aufgefallen, dass Politik immer grusiger wird. Offenbar. Meine Nachbarin meinte kürzlich, sie finde das heikel, dass unser Vermieter, selber Kandidat, seinen Wahlflyer an alle in unserer Liegenschaft verschickt habe. Das gehe nämlich nicht, sich so Adressen, über die man in anderem Zusammenhang verfüge, zu Nutzen zu machen und in die Privatsphäre seiner Mieter einzudringen. Oder der Passant an der letzten Standaktion. Diese Omnipräsenz der Parteien in den letzten Wochen sei unerträglich. Kein Samstagseinkauf mehr, ohne dass man sich den Weg zum Migros-Eingang förmlich erkämpfen müsse durch all die Weibelnden hindurch, kein Morgen ohne Gratisapfel oder Schöggeli an der Tramstation. Bei der Telefonmobilisierung hatte ich einen am Draht, der sich fürchterlich darüber aufregte, dass man sozusagen noch in den eigenen vier Wänden im Pyjama mit Wahlkampf belästigt werde (ich wusste ehrlich nicht, dass er noch im Pyjama ist, ich hätte sonst sicher später angerufen). Und als ich unseren Wahlflyer auf meiner Runde in die Briefkästen verteilte, musste ich jemand Erzürntem erklären, dass der «Stopp Werbung»-Kleber eben gerade nicht für politische Informationen gilt.
Politik scheint also etwas Grusiges zu sein, mit dem man nicht belästigt werden möchte. Nicht daheim, nicht auf dem Weg zur Arbeit, nicht beim Einkaufen, eigentlich generell überhaupt nicht.
Nun.
Anderswo wird gestorben dafür, dass Wahlen überhaupt einmal stattfinden könnten. Anderswo, wo Wahlen immerhin stattfinden, stirbt man dann manchmal bei der Ausübung des Wahlrechts. Diese Feststellungen sind so trivial, dass es einem in den Fingern weh tut, wenn man es aufschreiben muss. Aber man muss, denn es ging vergessen. Damit meine ich noch nicht einmal die regelmässig beschämend tiefe Stimmbeteiligung. Es gehört zum Wahlrecht dazu, es nicht wahrzunehmen.
Ich meine damit die überhebliche Verblendung jener, die meinen, Demokratie falle einfach so vom Himmel. Die Arroganz, die sich einstellt, wenn man durch einen glücklichen Zufall in ein friedliches, stabiles Land hineingeboren wurde. Die Frechheit zu meinen, man hätte die Wohnung (also gut, das ist jetzt vielleicht ein blödes Beispiel), den Job, die Perspektiven, aus denen man wählen darf, wenn es diese grusige Politik nicht gäbe.
Ich verlange nicht viel, nur das: Dass man sich in diesem wohligen Land gefälligst nicht darüber aufregt, wenn man alle vier Jahre einmal durch Papier in Form von Flyern und Plakaten ein bisschen von dieser Demokratie belästigt wird. Eure Privatsphäre ist eine Errungenschaft genau dieser Politik. Ich finde, Schöggeli, Gratisäpfel, Flyer im Briefkasten und ein klingelndes Telefon sind ein kleiner Preis dafür, dass wir frei sind und wählen können.
Ach ja: auf dem Rückweg sah ich dann nur noch das Extrablatt auf den Altpapierstapeln. Vermutlich gewinnen wir also doch.