«Als Aktivistin denke ich utopischer, als wenn ich im Parlament sitze»

Die Stadtzürcher Grünen wählen im April eine neue Parteispitze. Der Vorstand schlägt als Nachfolge von Felix Moser einstimmig Anna-Béatrice Schmaltz vor. Die 30-Jährige soll die Partei jünger und diverser machen. Im Gespräch mit Lara Blatter erklären die beiden, inwiefern sich ihre Politmache unterscheidet und in welchen Bereichen sie sich doch einig sind.

Grüne Themen sind heute breiter abgestützt, als es sie noch vor zehn Jahren waren. Heute ist man keine Spielverderberin mehr, wenn man lieber Tofu statt Wurst isst. Auch die Bürgerlichen machen heute Klimapolitik. Müssen die Grünen wieder unbequemer werden?

Felix Moser: Wir sind nach wie vor unbequem. Ich denke beispielsweise an das von uns geforderte Feuerwerksverbot am Züri-Fäscht. Auf der anderen Seite ist es auch gut, dass verschiedene unserer Anliegen mehrheitsfähig geworden sind. 

Anna-Béatrice Schmaltz: Das Bewusstsein für die Dringlichkeit darf nicht verloren gehen. Hier sehe ich die Rolle der Grünen. Und es geht uns neben offensichtlichen grünen Anliegen wie
Hitzeminderung, Velowege, Biodiversität auch stark um soziale Fragen. Wir wollen eine lebenswerte und solidarische Zukunft für alle. 

Anna-Béatrice Schmaltz, Sie stehen für eine junge und feministische Generation von grünen Politiker:innen. Sofern Sie am 20. April gewählt werden – wie wird sich die Partei unter Ihrer Leitung ändern?

A-B. S.: Mir ist es wichtig, dass wir uns weiterhin gemeinsam für eine solidarische, klimagerechte und gleichgestellte Gesellschaft einsetzen. Das Präsidium ist auch eine repräsentative Aufgabe. Ich kann eine Vorbildfunktion übernehmen und andere junge Frauen motivieren, politisch aktiv zu werden.

Als junge Politikerin bringen Sie auch andere Ansichten in die Partei. Wo braucht es zwingend Anpassungen?

A-B. S.: Die politische Arbeit im Parlament müssen wir zugänglicher erklären. Die Menschen sollen besser verstehen, was im Gemeinderat entschieden wird und wie wichtig diese lokale Politik ist. Nur so werden auch unsere Visionen und Lösungen schlussendlich unterstützt. Und die Grünen müssen diverser und jünger werden. Mehr Menschen mit verschiedenen Lebensrealitäten müssen im Parlament vertreten sein. Es ist entscheidend, dass wir glaubhaft aufzeigen, dass die Grünen das Ziel verfolgen, eine konsequent feministische und antirassistische Partei zu sein.

Felix Moser, wie gehen Sie mit dieser Kritik um? Immerhin waren Sie sieben Jahre lang Präsident der Stadtzürcher Grünen. 

F. M.: Ich stimme Anna zu. Es ist auch innerhalb der Grünen wichtig, diese Themen immer wieder anzusprechen und Menschen entsprechend zu fördern. Immerhin sind Vorstand und Geschäftsleitung in den letzten sieben Jahren deutlich jünger und diverser geworden.

Wenn Sie an die letzten Jahre zurückdenken, worauf sind Sie stolz? 

F. M.: Viele grüne Themen sind mehrheitsfähig geworden, wir haben einiges erreicht. Ich habe zwei wahnsinnige Wahljahre miterlebt, beide Male haben wir zugelegt. 2019 waren wir bei den nationalen Wahlen mit 20 Prozent Wähler:innen-Anteil die zweitstärkste Partei in der Stadt Zürich. 

Unter Ihrer Leitung wurde im vergangenen Mai auch die Abstimmung zu Netto-Null bis 2040 angenommen. Wie soll die Stadt Zürich dieses Ziel Ihrer Meinung nach erreichen?

F. M.: Da, wo die Stadt handeln kann und muss, engagieren wir Grüne uns stark. Beispielsweise bei der Raumplanung, beim Verkehr, bei der Ernährung oder beim Ausbau erneuerbarer Energien.

A-B. S.: Sensibilisierung ist wichtig. Klimapolitische Massnahmen dürfen nicht bevormundend daherkommen, sondern auf Augenhöhe. Das Ziel von Netto-Null ist durch die hohe Zustimmung von knapp 75 Prozent gesetzt und klar. Jetzt müssen wir vor allem das Tempo anziehen. 

Dass es zu langsam vorwärts geht, sagt auch der neueste UNO-Bericht. Wie schaffen wir mehr Tempo?

A-B. S.: Der Ball liegt nun bei der Stadt, also bei der Verwaltung. Die Departemente müssen einen Plan ausarbeiten und das Tempo erhöhen. Beispielsweise muss der Ausbau von Solarenergie vorangetrieben und nicht ausgebremst werden. Im Parlament forderten wir zusammen mit SP, GLP und EVP, dass zehn Prozent des Strombedarfs in der Stadt bis 2030 durch Solarenergie gedeckt werden sollen. Davon sind wir noch meilenweit entfernt. Die Stadt muss nun ambitioniert vorangehen.

Gegenüber Tsüri.ch haben Sie, Anna-Béatrice Schmaltz, erzählt, dass Sie feministische Themen in die Politik brachten. Inwiefern hängen für Sie Feminismus und Klimakrise zusammen? 

A-B. S.: Kurz gesagt: Die Klimafrage ist sehr eng mit der Vision einer diskriminierungs- und gewaltfreien Gesellschaft und einer lebenswerten Zukunft verknüpft. Gerade Frauen und queere Menschen sind überdurchschnittlich von den Folgen der Klimaerhitzung betroffen – besonders im globalen Süden.

Die Klimakrise und der Feminismus werden in den nächsten Jahren viele Menschen bewegen. Im Sinne der Genfer Flüchtlingskonventionen gibt es keine Klima- oder Umweltflüchtlinge. Was kann Zürich als grösste Schweizer Stadt dagegen unternehmen?

F. M.: Klimaflucht wird uns in vielen Bereichen in den kommenden Jahren herausfordern. Die Hauptverantwortung liegt aber beim Bund. Trotzdem kann die Stadt Zürich ihren Teil leisten und als grösste Schweizer Stadt grüne Projekte mit Vorbildcharakter anreissen. 

A-B. S.: Migration gab es schon immer. Wenn Menschen ihre Heimat aufgrund von schlechten oder gefährlichen Lebensbedingungen auch wegen der Klimakrise verlassen müssen, ist das ein Problem, für das auch wir hier im globalen Norden eine massgebliche Mitverantwortung haben. Wir müssen unseren Beitrag zur Abwendung der Klimakrise leisten und dabei auch innovative Lösungen ausprobieren.

Wir beklagen uns über unvollständige Velorouten und diskutieren im Gemeinderat über Feuerwerk und elektronische Werbeflächen. Kleine Probleme, wenn man bedenkt, dass die Klimakrise eine globale, gesellschaftliche Krise ist. 

A-B. S.: Klar, die aufgezählten Dinge sind kleine Schritte. Aber wir müssen auf jeder Ebene voran­gehen und als Partei können wir dadurch eine glaubhafte Vision einer grünen Zukunft präsentieren. 

Eine Vision für die Akademiker:innen unter uns? Immerhin sind Lebensmittel aus dem Bioladen nicht gerade günstig, und nicht alle wohnen so nahe an ihrem Arbeitsplatz, dass sie mit dem Velo zur Arbeit fahren können. Betreiben wir nicht einfach Klimaschutz für die Reichen und Privilegierten?

F. M.: Die Sorgen und Ängste der Menschen müssen wir ernst nehmen, sie abholen und ihnen Wissen zur Verfügung stellen – egal, wie arm oder reich sie sind.

A-B .S.: Wir müssen als Gesellschaft aufhören, zu individualisieren. Häufig wird gesagt: «Kauf ökologische Kleider und regionales Gemüse.» Das können sich aber nicht alle leisten. Dabei sollten doch Dinge, die dem Klima am wenigsten schaden, am einfachsten und günstigsten erhältlich sein. 

Der Gemeinderat ist heute jünger und weiblicher denn je. Das kann auch zu Spannungen innerhalb einer Partei führen. Mit 54 und 30 Jahren stehen Sie für zwei Generationen. In welchen Momenten spüren Sie diesen Wandel?

F. M.: Durch die jungen Mitglieder in unserer Fraktion sind viele neue Themen aufgekommen. Wir sind breiter und diverser aufgestellt und das führt zu internen Diskussionen, aber auch zu Vorstössen und Resultaten – das tut uns gut.

A-B. S.: Und eure Erfahrung ist für uns wertvoll. Ich persönlich schätze den Austausch mit älteren Kolleg:innen sehr. Aber trotz der Zunahme an Frauen im Parlament sind meine Kolleginnen und ich noch immer untervertreten. Auch in unserer Fraktion.

Bei der Abstimmung über das Kaufangebot für den Uetlihof, einer Vorlage des Grünen Stadtrats Daniel Leupi, haben Sie, Felix Moser, Ja gestimmt, Dominik Waser als junger Parteikollege Nein. Sind junge Politiker:innen radikaler in ihrer Haltung?

F. M.: Der Uetlihof ist ein schlechtes Beispiel für diesen Generationen-Gap. Markus Knauss etwa war auch dagegen. Es ging um andere Einschätzungen und Werte, nicht ums Alter. Es gibt Themen, wo wir Grüne nicht immer einer Meinung sind, das führt zu Diskussionen und ist auch gut so. Die jungen grünen Politiker:innen sind bestimmt radikaler, wenn es um ihre Ziele und Vorstellungen der Gesellschaft geht. Vielleicht sind wir Älteren auch realistischer oder etwas kompromissbereiter. 

Gemeinsam mit Martin Busekros, Selina Walgis, Yves Henz, Dominik Waser sitzen Sie, Anna-Béatrice Schmaltz, für die Grünen im Gemeinderat. Sie sind jung und kommen aus einer aktivistischen Ecke. Bremst die parlamentarische Politik den Aktivismus nicht aus?

A-B. S.: Nein. Der Aktivismus stellt ambitioniertere Forderungen und holt andere Menschen ab. Der Switch von der Aktivistin zur Politikerin gelingt mir gut. Als Aktivistin denke ich utopischer und übergeordneter, als wenn ich im Parlament sitze. Das breche ich dann auf konkrete Forderungen und Lösungen herunter und bringe sie in den Gemeinderat. Die Politik im Rat ist langsamer, wir suchen Mehrheiten und sind auf Kompromisse aus, suchen den Austausch auch zu den Bürgerlichen. Würden wir aber nur im Parlament unsere Arbeit machen, kämen wir als Gesellschaft nicht vorwärts – es braucht den Aktivismus. 

Bei den Kantonsratswahlen gingen die Grünen mit minus drei Sitzen als grösste Verliererin hervor. Viele junge Menschen gehen nicht wählen oder abstimmen. Wie können Sie als Partei, die wohl der eher jungen Klimabewegung nahe steht, mehr Menschen mobilisieren?

A-B. S.: Menschen mobilisieren, ist die König:innendisziplin der Politik. Wir müssen junge Menschen und verschiedene Lebensrealitäten noch sichtbarer machen, nur so fühlen sie sich repräsentiert und wählen uns oder stimmen grün. 

F. M.: Darum versuchen wir auch immer, möglichst viele junge Menschen auf den Listen zu haben. So waren wir zum Beispiel mutig und stellten letztes Jahr Dominik Waser als 25-Jährigen als Stadtratskandidaten.

Bereuen Sie diesen Schritt?

F. M.: Nein, durch Waser fühlen sich so hoffentlich Menschen, die sich in einem ähnlichen Lebensabschnitt befinden wie er, besser repräsentiert, und er hat ja ein sehr gutes Resultat erreicht. Zudem zeigt es, dass wir die Überalterung in der Politik ernst nehmen und aktiv angehen.

Auf nationaler Ebene hat eure Partei dieses Jahr ein grosses Ziel: e inen grünen Bundesratssitz. Wie können Sie als städtische Partei dazu beitragen?

F. M.: Indem wir weiterhin mutig sind. Dadurch können wir hoffentlich genügend Wähler:innen mobilisieren. Es wird wahrgenommen, was wir Grüne in Zürich, der grössten Schweizer Stadt, bewegen und wie wir bei Abstimmungen und Wahlen abschneiden.

Bei den Grünen Kanton Zürich stehen Sie, Anna-Béatrice Schmaltz, ebenfalls auf der Nationalratsliste. Ihre Chancen stehen nicht schlecht, zumal Sie auf Platz eins hinter den Bisherigen gelistet sind. Wollen Sie die Grünen auch national feministischer und radikaler machen?

A-B. S.: Ja, ich bringe neben den Themen Klimaschutz und Biodiversität auch feministische Positionen wie Gewaltprävention, Antidiskriminierung, Anerkennung von Sorge- und Betreuungsarbeit und Anliegen der queeren Community in die Politik. Das ist gerade auch im Nationalrat wichtig. Ich kann die Grüne Fraktion damit gut ergänzen. Und ich freue mich, die Themen auch im Wahlkampf einbringen zu können.  

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