Alles bleibt beim Bisherigen
Am 4. Mai beginnt die neue Legislatur im Zürcher Gemeinderat. Einige bekannte Gesichter werden dann nicht mehr im Parlamentssaal Platz nehmen – sie wurden abgewählt. Das hat unterschiedliche Gründe.
Jede Schweizer Politkarriere, so zumindest die Erzählung, startet weit unten auf einer Wahlliste, entweder als aufstrebende Jungpolitikerin oder Listenfüller. Dieser Start ist fast immer erfolglos: Die Schweiz traut neuen Gesichtern nicht. Aber mit jedem Wahlgang, jeder Standaktion und jedem Auftritt an Parteiversammlungen wird das neue Gesicht bekannter, es rutscht über die Jahre langsam die Wahlliste hoch. Sitzt man dann endlich im Parlamentssaal, gehört man bei der nächsten Wahl zur illustren Gruppe der «Bisherigen» und muss sich – so das implizite Versprechen – keine Sorge um die Wiederwahl mehr machen. Diese Geschichte erzählen Joe A. Manser und Mark Richli im grossen Interview mit Nicole Soland (siehe S. 12–14). Doch heute gelte der «Bisherigen-Bonus» nicht mehr, so das Fazit der zwei abtretenden Gemeinderäte. Stimmt das? Das P.S. hat sich die Resultate der letzten Gemeinderatswahlen genauer angeschaut.
Sitzverluste als Hauptgrund
Der Bisherigen-Bonus funktioniert deswegen so gut, weil PolitikerInnen, die ein Amt bekleiden, besser vernetzt sind, mehr mediale Präsenz haben und auf einen Leistungsnachweis verweisen können. Der Bonus sichert zum einen das institutionelle Wissen, zum anderen ist er der Leimstoff, der Politiker für Jahrzehnte auf ihre Sessel klebt: Nach der Nichtwahl von Joe A. Manser ist Bernhard im Oberdorf (SVP) mit über 9000 Tagen der amtsälteste Gemeinderat.
Ein Blick in die Zahlen: Der Zürcher Gemeinderat zählt 125 Sitze, also potenziell 125 Bisherige. Davon traten 109 an den letzten Gemeinderatswahlen im Februar an, 92 wurden wiedergewählt. Bei 17 GemeinderätInnen half der Bisherigen-Bonus hingegen nicht weiter – sie hatten am 13. April ihre vorläufig letzte Gemeinderatssitzung. Grob gesagt gibt es zwei Gründe, warum ein Bisheriger nicht wiedergewählt wird: Die Partei verliert einen Sitz und ein Bisheriger muss über die Klinge springen. Oder die Bisherige wird auf der Liste von einem Neuling überholt.
Der erste Fall sei der mit Abstand häufigste, sagt Anke Tresch, Professorin an der Universität Lausanne und spezialisiert auf Abstimmungsverhalten in der Schweiz. «Wenn sich die politischen Kräfte verschieben, dann verlieren natürlich Bisherige ihren Sitz.» Das habe man etwa bei den Nationalratswahlen 1999 beobachten können, als die SVP auf Kosten kleiner Rechtsaussen-Parteien ganze 15 Sitze zulegte. Das zeigt sich auch im Fall der Zürcher Gemeinderatswahlen. So verlor etwa die SP insgesamt sechs Sitze, einen davon im Kreis 6. Dort wurden zwar auf allen drei Plätzen Bisherige wiedergewählt, aber trotzdem wurde mit Matthias Renggli ein Gemeinderat nach beinahe 2000 Tagen im Amt abgewählt. Wie ihm erging es acht anderen GemeinderätInnen, sie wurden nicht trotz des Bisherigen-Bonus, sondern aufgrund des schlechteren Abschneidens ihrer Liste abgewählt.
Überholt
Der zweite Fall, also dass jemand auf der Wahlliste von einem Neuling überholt wird, sei deutlich weniger häufig, sagt Politikwissenschaftlerin Anke Tresch. Und trotzdem gibt es sie – die Bisherigen, die auf der Liste nach unten gerutscht sind. Markus Merki von der GLP ist einer davon: Als Bisheriger startete er im Kreis 11 auf Listenplatz 3, landete auf Platz 5 und wurde abgewählt. Und das, obwohl seine Partei insgesamt zugelegt hat. Er glaube aber nicht, dass der Bisherigen-Bonus im Allgemeinen an Bedeutung verloren habe, sagt Merki auf Anfrage. «Das muss man von Fall zu Fall anschauen.» Und in seinem Fall habe er auf einer Liste mit der Stadtratskandidatin Serap Kahrimann und dem Radiomoderator Patrick Hässig kandidiert – beides Neulinge, beide gewählt. Prominenz-Bonus anstatt Bisherigen-Bonus also?
Auch Urs Helfenstein (SP) führt an, dass auf seiner Liste im Kreis 4+5 mit Fanny De Weck eine Person kandidierte, die in der Wählerschaft durchaus bekannt sei. Nur: Helfenstein wurde sogar von zwei Neulingen überholt. Das ist umso überraschender, weil Urs Helfenstein zweiter Vizepräsident war, also 2023 das Gemeinderatspräsidium bekleidet hätte. Helfenstein klingt am Telefon deswegen auch ernüchtert. «Ich bin wohl dem sehr starken Frauenbonus bei der SP zum Opfer gefallen.» Er verweist auf eine Erhebung der ‹NZZ am Sonntag›. Gemäss dieser hat die SP bei den letzten zwölf Kantonsratswahlen 31 Sitze verloren – 30 davon waren von Männern besetzt. Auch Markus Merki bemerkt, dass viele Männer von den Listen weggestrichen würden, auch bei der bürgerlichen GLP. «Ich weiss nicht, ob das eine gute Entwicklung ist.» Tatsächlich zeigt die Erhebung des P.S.: Von den Bisherigen, die von Neulingen überholt und so abgewählt wurden, waren alles Männer, viele davon Linke. Man habe bereits bei den Nationalratswahlen 2019 beobachten können, dass prominente linke Männer nicht mehr gewählt worden seien, erklärt Anke Tresch von der Universität Lausanne. «Das hat damit zu tun, dass die linken Parteien Frauen stärker in den Vordergrund stellen und das Gender der Kandidierenden für linke Wählerinnen eine grössere Bedeutung hat.»
Die Macht der Männer
Nun ist das Gender der Kandidierenden nicht erst seit neuem ein wichtiges Kriterium für WählerInnen: Zwischen 1848 und 1971 war es sogar das einzige Kriterium, das darüber entschied, wer politisch mitbestimmen darf – und wer nicht. Noch vor den Wahlen vom 13. Februar machten Männer 67,2 Prozent der GemeinderätInnen aus, in der neuen Legislatur sind es deren 60 Prozent. Dass also Männer bei den abgewählten Bisherigen übervertreten sind, ist wenig überraschend. Pascal Lamprecht, selber ein SP-Mann, der auf der Wahlliste überholt wurde, führt neben dem Prominenten-Bonus und dem Frauen-Bonus denn auch noch weitere Gründe an, warum ihm der Bisherigen-Bonus keine Wiederwahl garantiert hat. So sei unterschiedlich gut mobilisiert worden: Junge Frauen seien stärker an die Wahlurne gegangen als Personen in seinem Alter. «Das hat sicher mit dem Zeitgeist zu tun, aber dass ich zu wenig mobilisieren konnte, nehme ich natürlich auf meine Kappe.»
Was ist also das Fazit? Erstens: Der Bisherigen-Bonus lebt. Zweitens: Wenn ein Bisheriger abgewählt wird, ist es meistens ein linker Mann. Das kann man als ungerechten Frauen-Bonus oder als historische Aufholleistung betrachten. An der Dominanz der bisherigen Männer im Zürcher Gemeinderat ändert das freilich wenig.
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