- Mädchenhaus
«Alleine in Hannover gibt es mehr Mädchenhäuser als in der ganzen Schweiz»
Wieviele freie Plätze haben Sie aktuell im Mädchenhaus?
Maria Mondaca: Keinen. Das ist bei uns meistens so. Unsere sieben Plätze sind eigentlich dauerhaft besetzt. Der letzte Platz war zwei Tage frei und ist nun auch wieder besetzt. Wir erhalten viele Anfragen, die wir ablehnen müssen. Wir führen zwar eine Warteliste, aber nur, wenn wir in näherer Zukunft einen Austritt haben.
Wie geht es Ihnen damit, Mädchen in Not auf eine Warteliste verweisen zu müssen?
Bei mir führt das zu einem Gefühl von Hilflosigkeit und zu Frustration. Trotzdem bin ich froh, dass sich die Mädchen an uns wenden. Wir können sie vielleicht an andere Stellen vermitteln und versuchen, mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Dann müssen sie die Hürde, eine fremde Person anzurufen und ihre Geschichte zu erzählen, immerhin nur einmal nehmen.
Sie melden sich also wieder bei diesen Mädchen?
Wenn es gewünscht und möglich ist, ja. Die Mädchen können sich aber auch anonym an uns wenden und müssen keine Namen angeben. Zudem kann es sein, dass das Handy kontrolliert oder überwacht wird. Dann können wir nicht einfach jederzeit zurückrufen. Wir geben aber unser Bestes, um etwas anbieten zu können.
Wie entscheidet sich, wer einen Platz bekommt? Ist es «first come, first serve», oder schauen Sie die Dringlichkeit an?
Zuerst klären wir immer ab, ob die Indikation von häuslicher Gewalt gegeben ist. Sechs Plätze vergeben wir dann der Reihenfolge nach und der siebte Platz ist für Notfälle. Also wenn eine junge Frau zum Beispiel unmittelbar davor ist, verschleppt zu werden, wenn eine Zwangsheirat droht oder das Leben in Gefahr ist. Aber auch dieser Platz ist meist besetzt. Die Mädchen oder jungen Frauen können maximal drei Monate bei uns bleiben und in dieser Zeit muss enorm viel organisiert werden. Bei Minderjährigen arbeiten wir immer mit der KESB (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde) zusammen und die Eltern wie auch die Mädchen und jungen Frauen müssen angehört werden. Besonders in der Anfangsphase stehen viele Termine an. So ziehen wir meist auch eine Opferhilfeberatungsstelle bei oder schliessen uns mit der Fachstelle Zwangsheirat kurz. Alle Beteiligten müssen Entscheidungen treffen, die Zeit brauchen.
Wie sehen denn diese drei Monate im Mädchenhaus konkret aus? Kann die erfahrene Gewalt in dieser Zeit schon aufgearbeitet werden?
Unser Hauptziel ist nicht die Aufarbeitung, sondern die Stabilisierung. Wir können die Mädchen im ersten Moment auffangen und schauen, dass gewisse Sachen wieder möglich sind. Die Mädchen können in Ruhe schlafen, duschen und sich erholen. Wir bieten eine gewaltfreie Wohnsituation. Bei Minderjährigen müssen wir auch die Eltern informieren, dass ihre Tochter bei uns ist. Dann versuchen wir, Möglichkeiten aufzuzeigen, fragen, was sich die Mädchen wünschen, und zeigen auf, wie wir sie begleiten können.
Was für Anschlusslösungen kommen danach infrage?
Viele gehen wieder nach Hause. Der Druck auf diese Mädchen ist gross und manchmal vermissen sie ihre Familie. Falls sie noch in der Schule sind und nicht zu ihren Eltern wollen, gibt es betreute Jugendeinrichtungen, in die sie gehen können. Wenn sie bereits in der Lehre sind, gibt es auch die Möglichkeit einer WG oder eines begleiteten Wohnens, wo sie selbst wählen können, wie oft eine Sozialpädagogin bei ihnen vorbeikommt. Die jungen Frauen, die bereits volljährig sind und arbeiten, können auch in eine eigene Wohnung ziehen.
Im Mädchenhaus treffen junge Frauen zwischen 14 und 20 Jahren aufeinander, die traumatische Dinge erlebt haben. Wie funktioniert das Zusammenleben?
Es funktioniert schon sehr ähnlich wie eine WG. Aber die Alltagsabläufe der Bewohnerinnen unterscheiden sich stark. Die Jüngeren gehen noch in die Sekundarschule und die Älteren arbeiten und brauchen für ihren Alltag kaum Unterstützung. Die Jüngeren sind logischerweise noch weniger selbstständig. Aber dafür, dass sich die Mädchen nicht kennen und nicht wissen, mit wem sie da zusammenleben, gehen sie extrem respektvoll und tolerant miteinander um. Bei uns treffen unterschiedliche Kulturen oder unterschiedliche Vorstellungen der gleichen Kultur aufeinander. Das ist immer spannend. Ich finde, wir können vieles lernen von diesen Mädchen, die aus einer Notsituation an diesen Ort kommen und ihn dann gemeinsam positiv und wohlwollend gestalten.
Dürfen sie im Mädchenhaus auch besucht werden?
Nein, das geht leider nicht. Der Standort ist geheim und es ist uns sehr wichtig, dass er das auch bleibt. Besonders die Sozialen Medien sind diesbezüglich eine Herausforderung. Die jungen Frauen erhalten von uns zwar ein Handy mit bestimmten Sicherheitseinstellungen, aber sie wollen natürlich auch auf Instagram und Snapchat aktiv bleiben. Auf den Bildern dort darf aber nie etwas zu sehen sein, das den Standort verrät.
Und wie gut funktioniert die Geheimhaltung des Standorts?
Erstaunlich gut, denke ich. Wir kriegen natürlich nicht alles mit, aber wir sind schon länger am gleichen Ort und er ist, soweit ich das beurteilen kann, immer noch anonym.
Sorgen Sie sich manchmal auch um Ihre eigene Sicherheit? Als Leiterin des Mädchenhauses sind Sie die einzige Person der Institution, die öffentlich sichtbar ist.
Sorgen würde ich nicht sagen. Ich habe sicher Respekt vor meiner Aufgabe, aber ich weiss auch, für wen ich das mache. Wenn ich mit Eltern telefoniere, deren Tochter von zuhause zu uns gekommen ist, kann ich nachvollziehen, dass sie wütend sind. Doch diese Mädchen haben einen Grund, wieso sie gegangen sind, und jedes Kind hat das Recht, ohne Gewalt aufzuwachsen. Das müssen die Eltern verstehen. Wir arbeiten parteilich für die Mädchen, hören ihnen zu, glauben ihnen und nehmen sie ernst.
Warum ist die Zeit im Mädchenhaus auf drei Monate limitiert?
Man kann sich das wie eine Notfallstation im Spital vorstellen. Da bleibt man ja auch nur vorübergehend. Die begrenzte Zeit hat aber auch einen anderen Nutzen: Durch die Notsituationen, in denen Mädchen zu uns kommen, entsteht in kurzer Zeit eine starke beidseitige Bindung zwischen den Mitarbeiterinnen und den jungen Frauen. Da gibt es einen gewissen Rahmen und es schafft Sicherheit, wenn klar ist, wie lange die Zeit hier dauert und dass danach eine Anschlusslösung kommen muss. Zudem können wir so auch mehr Mädchen aufnehmen.
Die Schweiz hat sich eigentlich vor acht Jahren mit der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention dazu verpflichtet, aktiv gegen Gewalt an Frauen vorzugehen und zusätzliche Unterbringungslösungen zu schaffen.
Es gibt schon seit dreissig Jahren in der Schweiz gleich viele anonyme Schutzplätze. Und zwar genau sieben bei uns in Zürich. Zwischenzeitlich gab es in Bern noch ein Angebot, aber das wurde aus finanziellen Gründen eingestellt. Es ist übrigens nicht nur die Istanbul-Konvention, die feststellt, dass wir zu wenige Plätze haben. Auch die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) hat die Situation analysiert und gesehen, dass es zu wenige Schutzplätze gibt. Ein Postulat der SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen hat zu einer Bedarfsanalyse geführt, die zum selben Schluss kam.
Ist es nicht frustrierend, wenn alle, die das Problem untersuchen, zum gleichen Schluss kommen und trotzdem nichts passiert?
Das ist schon sehr bedenklich. Immerhin kommen schon einmal alle zum selben Schluss. Das freut mich. Aber man muss auch bedenken: Wir sehen mit diesen Analysen nur die Menschen, die sich auch wirklich Hilfe holen. Alle, die leiden und sich nirgendwo melden, bleiben unsichtbar. Es ist nur die Spitze des Eisbergs, und nicht einmal das kriegen wir gelöst.
Das Mädchenhaus Zürich ist die einzige solche Einrichtung in der Schweiz. Kommen viele Mädchen aus anderen Kantonen zu Ihnen?
Mehrheitlich sind die Mädchen bei uns aus dem Kanton Zürich. Hier ist das Angebot bekannt und die Mädchen können weiterhin in die gleiche Schule gehen oder arbeiten. Für Mädchen aus dem Emmental, dem Toggenburg oder gar anderen Sprachregionen ist Zürich zu weit weg, auch wenn sie berechtigt wäre unser Angebot in Anspruch zu nehmen.
Wieviele Plätze bräuchte es denn schweizweit, wenn die sieben Plätze nicht einmal für Zürich reichen?
Wir gehen von etwa vierzig Plätzen aus, die auf verschiedene Orte in der Schweiz verteilt sein müssten. Das ergibt sich aus der Istanbul-Konvention und verschiedenen Analysen.
Also bräuchte es etwa sechsmal so viele Plätze, wie es aktuell hat?
So ziemlich. Ich war letztes Jahr in Deutschland für ein Mädchenhaustreffen in Hannover. Dort gibt es sicher fünf Angebote nur für das Bundesland rund um Hannover. Wenn man es auf die Schweiz überträgt, sind das schon in einem einzelnen Bundesland viel mehr, als die ganze Schweiz hat. Das macht es für uns auch schwierig. Wir wollen, dass junge Mädchen von unserem Angebot wissen, und wollen es bekannt machen. Aber wir wollen sie auch nicht abweisen müssen, wenn sie sich bei uns melden.
Dieser Artikel stammt aus der 1. Mai-Beilage zum Thema Sicherheit