Allein

In einem über zweistündigen Parforceritt entlang der in jeder Hinsicht überwältigenden Gefühlsachterbahn verarbeiten die Choreographin Crystal Pite und der Autor Jonathon Young mit dem Tanztheater «Betroffenheit» den tragischen Verlust eines Kindes.

 

 

Worte sind nicht genug. Und trotzdem muss formuliert werden, was nicht fassbar ist. Der Zusammenarbeit von Crystal Pite und Jonathon Young ging sechs Jahre vor der Uraufführung die reale Tragödie voraus, dass Jonathon Young und seine langjährige Partnerin Kim Collier die gemeinsame 14-jährige Tochter bei einem Brand verloren hatten. In Worten fanden die Kanadier einzig den deutschen Begriff «Betroffenheit» für ausreichend trefflich. Aber richtiggehend eindringlich kann nur die darstellende Kunst umreissen, welche Gefühlsachterbahnen Eltern – und mittelbar ihr direktes Umfeld – dermassen durchschütteln, dass an ein Morgen nicht zu denken ist.

 

The show must go on

Allein kauert Jonathon Young in einem kalten Hinterhof. Elektrische Leitungen werden zu bedrohlich nicht voraussehbar agierenden Giftschlangen. Der Sicherungskasten spart nicht mit Vorwürfen, derweil die Zweckbeleuchtung mit Wackelkontakt mit Allerweltsratschlägen hausiert. Hinter der Flügeltüre muss die Bühne sein, auf der allabendlich die eigene Existenz mit schweisstreibender Show gesichert wird. Allein die Kraft, sich zu erheben fehlt. Die Worte der elektrischen Geräte beginnen sich endlos zu wiederholen, im Kreis zu drehen. Die fünf TänzerInnen versuchen in grellster Karnevalsfröhlichkeit, Ablenkung zu ermöglichen und suchen, den Trauernden mit ihrem hemmungslosen Schabernack, als wären sie aufziehbare Tanz-äffchen, mit in einen Sog aus der Düsterkeit der Gefühle und Gedanken zu ziehen. Für einen vorbeieilenden Augenblick scheint diese freundschaftliche Hilfsattacke sogar zu helfen, doch ähneln zu viele der Tanzbewegungen einer mit Trunkenheit umschreibbaren Gefühlslage und werfen ihn zurück in die Mélange aus Trauer, Wut, Selbstvorwürfen, Fragen und deren unaufhörliche Wiederholungen. Er wünscht sich die Möglichkeit, sich in «the Room» irgendwo ganz tief in sich drin zurückzuziehen. Äusserlich ist das eine kleine rote Box auf Rädern. In der Sehnsucht soll es ein Schutzraum sein: Ohne Zeit, ohne Gefühl, ohne irgendwas. Hauptsache, es hört auf.

 

Nach der Pause wechselt das Bühnenbild auf die Innensicht dieser roten Box und der Tanz holt sich die Bühnendominanz zurück. Er sieht in Vexierbildern die Vervielfachung der Silhouette einer jungen Frau und glaubt in einem Augenblick, die zutode gekommene Tochter wäre zum Greifen nah und die Tragödie hätte niemals stattgefunden. Im Handumdrehen suggeriert die exakt gleiche Szenerie – unterstützt durch die Musikspur – eine Heimsuchung albtraumhaften Verlorenseins. Die TänzerInnen nehmen ihn in ihre Mitte, sorgen sich sorgsam zärtlich und ihn gegen alles äussere in Schutz nehmend um ihn, doch fallenlassen kann er sich nicht. Zu dominant hält ihn das Trauma im Würgegriff. Weder diese empathische Hilfe von aussen noch das wutentbrannte Rausbrüllen von Ausweglosigkeit helfen auf Dauer. Auch die Verdoppelung der Wahrnehmungsverfremdung durch den trotzig herbeigeführten Rausch vermag einzig dämpfend auf den Schmerz einzuwirken, ergänzt aber über kurz oder lang die unüberschaubare Intensität an Gefühlswirren nur noch um ein weiteres Element und vergrössert damit letztlich die Not.

 

Ein anderer werden

«Betroffenheit» ist inhaltlich wie formal ungeschminkt herb. Aber entgegen der Erwartung überaus feinfühlig austariert, sodass der finale Eindruck einen keinesfalls erschlägt. Erschöpft vielleicht, aber das ist der baren Dauer und der konstant hochtourigen Wechselspiele von einander zuwiderlaufendem Gefühlschaos zuzuschreiben. Und vermutlich entspricht diese annähernd nachvollziehbare Endlosschlaufe erst durch ihre real anstrengende Dauer der tatsächlich durchlittenen Qual. Die darstellenden Künste – hier die Kombination von Tanz und Theater – nehmen hier gleichermassen die Ventilfunktion der stellvertretenden Verarbeitung für den Trauernden im Prozess der Kunstherstellung wie auch der emotional entschlüsselbaren Übersetzung für ein Publikum beim Zusehen ein und empfehlen sich damit als Methode, Hoffnung und Halt in ausweglos scheinenden Situationen. Er wird wieder aufrecht stehen. Er wird wieder mittanzen. Aber er wird ein anderer werden. «Betroffenheit» wird als das eindrücklichste und ergreifendste Kunst-Stück der diesjährigen Tanzbiennale «Steps» in Erinnerung bleiben. Gerade weil sich das Stück nachgerade kopfüber in den denkbar dunkelsten Abgrund stürzt und dort dank der professionellen Virtuosität der körperlichen Aufarbeitung seelisch erlittener Grausamkeit nicht untergeht. Das schwermütigste Mitgefühl, das dieser fulminante Abend auslöst, ist die Erkenntnis, wie allein der Mensch doch ist. In der abgründigsten Trauer, aber auch im grössten Glück.

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