Ist die Zeit des Atomkraftwerke, hier Gösgen, bald vorbei oder werden dereinst in der Schweiz wieder neue gebaut? (Bild: Urs Keller / Ex-Press)

Aktuelle Neuigkeiten von vor 60 Jahren

Warum wollen Bundesrat, SVP und FDP das Neubauverbot für AKW aufheben? Und warum fahren wir besser, wenn ihnen das nicht gelingt?

Zum Auftakt drei Zitate: 1. «Die für die nächsten zehn Jahre erkennbare Entwicklung zeigt, dass der Ausbau für die Nutzung der noch verbleibenden Wasserkraft in der Schweiz seinem Ende entgegengeht. Die vermehrte Umstellung auf andere Energiequellen als die Wasserkraft beginnt zeitlich zu drängen; der auch für unser Land geeignet erscheinende Kraftstoff und Energiespeicher bildet die Kernenergie.» Dieses Zitat ist dem Bericht über einen Vortrag entnommen, zu dem die Freisinnige Partei Zürich 5 eingeladen hatte. Er ist in der NZZ vom 12. März 1964 erschienen.

2. «Die ausserordentlichen Verhältnisse im Winterhalbjahr 1962/63 haben der Diskussion über die zukünftige Deckung des schweizerischen Energiebedarfes starken Auftrieb gegeben. Es liegen zahlreiche Äusserungen von behördlicher und privater Seite zur Entwicklung der Energieversorgung, d. h. zu der im Mittelpunkt stehenden Frage vor, welche Energieart uns in Zukunft die notwendige Ergänzung der Elektrizitätsproduktion bringen wird.» Das Zitat stammt aus der NZZ vom 19. März 1964.

3. «Gemäss den Energieperspektiven 2050+ des Bundesamts für Energie steigt der Strombedarf (Landesverbrauch) je nach Szenario in der Schweiz von aktuell rund 60 Terawatt-Stunden (TWh) kontinuierlich auf schätzungsweise rund 70 bis 80 TWh im Jahr 2050. Grund dafür ist neben dem Bevölkerungswachstum, dass sich das Volk im Rahmen des Klima- und Innovationsgesetzes für die Klimaneutralität bis 2050 entschieden hat. Zur Dekarbonisierung ist die Schweiz auf grosse Mengen an zusätzlichem Strom angewiesen. Offen ist, ob der Ausbau der erneuerbaren Energien rasch genug erfolgen wird, um die wegfallenden Kapazitäten und den steigenden Strombedarf rechtzeitig decken zu können. Wichtig dabei ist, dass für ein stabiles Stromnetz genügend Energie im Schweizer Strommarkt vorhanden ist. Eine technologieoffene Haltung öffnet dabei den Fächer der Handlungsoptionen. Die Kernenergie könnte eine dieser Optionen sein.» Bei diesem Zitat handelt es sich um eine Passage aus dem Faktenblatt «Volksinitiative ‹Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)› und indirekter Gegenentwurf, Zahlen und Fakten zur Kernenergie in der Schweiz» des Bundesamts für Energie. Es ist in der entsprechenden Medienmitteilung des Bundesrats vom 28. August 2024 verlinkt (siehe dazu auch P.S. vom 6. September).

Ein Absatzmarkt muss her!

So wie es heute vom Bundesrat, von FDP und SVP tönt, tönte es also schon vor 60 Jahren: Der Stromverbrauch wird steigen, wir müssen sofort etwas dagegen tun, und es gibt eigentlich nur eine Herangehensweise, um das auch zu schaffen. Der Unterschied zu früher liegt auf der Hand: Der Neubau von AKW wurde 2017 per Volksentscheid verboten, und mit dem Ja vom vergangenen 9. Juni zum Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien haben die Stimmberechtigten auch 16 Wasserkraftprojekten zugestimmt. Zwischen 1969 und 1984 hingegen wurden fünf AKW gebaut, von denen alle ausser dem 2019 stillgelegten AKW Mühleberg immer noch in Betrieb sind. Dann stimmt es also, könnte man meinen, der Stromverbrauch scheint tatsächlich stark gestiegen zu sein. Warum hätten wir sonst heute – zumindest, wenn man SVP, FDP und Energieminister Rösti glaubt – wieder dasselbe Problem?

Gemach, gemach: Strom zu produzieren ist das eine, ihn vernünftig einzusetzen, das andere. Was das konkret heisst, ist beispielsweise im Buch von Hanspeter Guggenbühl mit dem Titel «Energiewende. Und wie sie gelingen kann» (Rüegger Verlag, Zürich/Chur 2013) nachzulesen: «Im Jahr 1970 konsumierten Bevölkerung und Unternehmen 25 Milliarden Kilowattstunden (kWh) Strom (gleich 25 Terawattstunden/nic.), also weniger als halb so viel wie 2010. Die inländische Wasserkraft allein, so zeigt die nationale Elektrizitätsstatistik, erzeugte 1970 einen Fünftel mehr Strom, als die Konsumenten im Inland benötigten. Der kleine Anteil an Atomstrom, den das erste, 1969 eröffnete Atomkraftwerk Beznau I beisteuerte, diente damals lediglich dazu, den Stromexport zu erhöhen.» Und weiter: «Die Nachfrage nach Atomstrom schwoll erst in den folgenden Jahrzehnten an. Die Schweizer Stromwirtschaft förderte das Wachstum dieses Stromkonsums aktiv, indem sie mit der Quersubventionierung von Elektroheizungen und Elektroboilern aggressiv in den Wärmemarkt expandierte. Das Resultat dieser zurückliegenden Energiewende: Von 1970 bis 2000, also innerhalb von nur drei Jahrzehnten, hat die Schweiz ihren Stromverbrauch verdoppelt – und damit einen Absatzmarkt für die wachsende Menge an Atomstrom geschaffen.» 

Der Handel mit Strom ist somit grösser als der Konsum von Strom, und der Handel war zumindest bis Ende der Nuller-Jahre ein lukratives Geschäft, das Hanspeter Guggenbühl wie folgt schilderte: «So importiert die Schweizer Stromwirtschaft Elektrizität aus französischen Atom- oder deutschen Kohlekraftwerken; dies vorwiegend nachts, wenn Nachfrage und Marktpreise tief sind. In dieser Zeit können die inländischen Produzenten ihre Wasserkraft in Stauseen speichern. Zudem wird ein Teil des Wassers mit importiertem Strom in die Stauseen hinaufgepumpt. An Werktagen hingegen, wenn die Nachfrage steigt, lässt die Schweiz das gespeicherte Wasser kurzzeitig auf die Turbinen rauschen und erzeugt einen Überschuss an Spitzenstrom für den Export.»

Die Nuller-Jahre sind vorbei: Wasser hochzupumpen und dann zu turbinieren, wenn die Nachfrage gross ist, also zum Beispiel über Mittag, wenn überall gekocht wird, funktioniert nicht mehr so gut: Mittagszeit ist Solarstromzeit. Und der grösste Vorteil der neuen erneuerbaren Energien liegt auf der Hand: Die Sonne scheint gratis, und der Wind weht gratis. Wer auf Photovoltaik und Windstrom setzt, muss nie mehr Öl oder Gas (oder Uran aus Russland…) kaufen. 

Atomstrom killt die Erneuerbaren

Die Schweiz ist allerdings keine Insel, die ihre Stromversorgung ganz allein und innerhalb ihrer Grenzen organisieren muss. Das war weder in der Vergangenheit der Fall noch wird es in Zukunft sein: Wir sitzen nicht nur geografisch mitten in Europa, sondern sind auch ins europäische Stromnetz eingebunden. Das kann man beispielsweise auf der Webseite der nationalen Netzgesellschaft Swissgrid nachlesen (siehe auch P.S. vom 2. Juni 2023): «Der Netzbetrieb ist eine grenzüberschreitende Aufgabe. Die vorausschauende Planung und die Überwachung des Netzes nimmt Swissgrid gemeinsam mit den Netzbetreibern im Ausland wahr.»

Die Standardfrequenz im elektrischen Netz Europas beträgt 50 Hertz. Damit die Frequenz immer stabil bleibt, muss das Gleichgewicht zwischen Produktion und Verbrauch elektrischer Leistung immer gegeben sein. Ist der Verbrauch elektrischer Leistung geringer als die Produktion, so ist die Frequenz höher; ist der Verbrauch grösser als die Produktion, so ist die Frequenz tiefer. «Die Plattform Wide Area Monitoring ermöglicht es Netzbetreibern, die Stabilität von Stromnetzen über grosse Entfernungen zu überwachen. Sie verbindet Messstationen in ganz Europa: von Portugal bis in die Türkei und von Dänemark bis nach Sizilien. (…) Swissgrid überwacht über das Wide Area Monitoring laufend die Vorgänge im europäischen Stromnetz und erkennt, in welche Richtung die Energie fliesst. Das unterstützt Swissgrid dabei, Transportkapazitäten zu planen und das eigene Netz im Gleichgewicht zu halten.»

Wird viel Strom aus erneuerbaren Quellen gleichzeitig eingespeist, könnten die Stromnetze dies unter Umständen nicht verkraften, ohne überlastet zu werden. Sind also die Schimpftiraden von SVP-Vertreter:innen gegen den angeblichen «Flatterstrom» berechtigt? Vorab: Ob Wind-,­ Solar- oder AKW-Strom durch die Leitungen fliesst, ist diesen grundsätzlich egal. Muss ein AKW wegen eines Problems unerwartet heruntergefahren werden, ist das ebenfalls schlecht für die Stromnetze, denn dann fehlt plötzlich Strom, mit dem fix gerechnet worden war. Die Leistung von AKW vom Normalbetrieb aus kurzfristig zu reduzieren, ist umgekehrt nicht so einfach. Also werden, wenn es hart auf hart kommt, stattdessen Windturbinen abgestellt. Damit fliesst weniger Windstrom im Netz, als eigentlich möglich wäre. So gesehen erstaunt es nicht, dass Windkraftgegner:innen und Atomlobbyist:innen häufig gemeinsame Sache machen, auch wenn sie das der Öffentlichkeit kaum unter die Nase reiben. Kurz: Die sicherste Methode, um eine funktionierende Stromversorgung mit erneuerbaren Energien zu verhindern, besteht darin, am Atomstrom festzuhalten.

Steigender Bedarf oder Angstmache?

Wie sieht es heutzutage aus mit dem angeblich stetig steigenden Bedarf an Strom? Bevölkerung und Wirtschaft zusammen beanspruchten Stand 2010 innerhalb der Schweiz jährlich rund 60 Milliarden kWh in Form von Elektrizität, dies bei einer Bevölkerungszahl von rund acht Millionen Menschen (siehe Guggenbühl). Das Bundesamt für Energie teilte am vergangenen 18. April folgendes mit: «Im Jahr 2023 lag der Stromendverbrauch in der Schweiz mit 56,1 Milliarden Kilowattstunden (Mrd. kWh) unter dem Niveau des Vorjahres (-1,7 Prozent). Die inländische Erzeugung (nach Abzug des Verbrauchs der Speicherpumpen) betrug 66,7 Mrd. kWh. Der physikalische Stromexportüberschuss lag bei 6,4 Mrd. kWh.» Gleichzeitig nahmen gemäss dieser Medienmitteilung sowohl das Bruttoinlandprodukt (provisorisches Ergebnis: + 0,7 Prozent) wie auch die Bevölkerung (+ 1,26 Prozent) und die Heizgradtage (+ 1,8 Prozent) zu, und hierzulande leben heute nicht mehr acht, sondern rund neun Millionen Menschen. Nach stetig steigendem Stromverbrauch tönt das nicht gerade. Aber glaubt man dem Bundesrat, ist immerhin klar, wer Schuld daran ist, falls der Strombedarf künftig trotzdem übermässig stark steigen sollte, siehe oben: das Bevölkerungswachstum und die Tatsache, dass sich das Volk für die Klimaneutralität bis 2050 entschieden hat.

Zu teuer? Wirklich?

Wenn SVP, FDP und Bundesrat nun nach neuen AKW rufen, dann steckt offensichtlich mehr dahinter als ‹nur› die Absicht, die Menschen zu verunsichern und zu versuchen, sie dereinst zu einem Ja zu neuen AKW zu überreden. Die AKW-Fans spielen ein altbekanntes Spiel, es geht so: Wer sich selbst in eine unangenehme Situation gebracht hat, befreit sich am einfachsten daraus, indem er oder sie sich als Opfer darstellt und «haltet den Dieb!» schreit. Wer sich viele Jahre lang darauf verlassen hat, dass sich mit AKW-Strom für den Export und fürs Hochpumpen und anschliessendes Turbinieren gutes Geld verdienen lässt, hat ein Problem. Wer angesichts von immer mehr Solar- und Windenergie die «Subventionitis» anderer Länder anprangert und an seinem Modell festhält, wird früher oder später abgehängt. Kurz: Wer spät und/oder falsch reagiert, andere dafür verantwortlich macht und gleichzeitig von neuen AKW träumt, hat es nicht leicht…

In der ‹NZZ am Sonntag› vom 13. Oktober wird die angeblich drohende Deindustrialisierung der Schweiz beklagt: Stahl Gerlafingen drohe das Aus, weil der Strom zu teuer sei, heisst es im Lead. Im Artikel steht dann, hierzulande sei nicht in erster Linie die Energie zu teuer geworden, sondern die «staatlich festgelegten Netznutzungsgebühren» seien stark angestiegen. Wir müssten aufpassen, dass wir nicht in die gleichen Zustände schlitterten wie in Deutschland, wird FDP-Nationalrat Simon Michel zitiert. Gleichzeitig erfahren wir, dass der Medtech-Unternehmer in Schwerin eine neue Produktionsstätte baue: «Diese Ypsomed-Fabrik wird eine eigene Windfarm und grosse Solaranlagen haben.» Zum Standort Schweiz erklärt Michel: «Die Wirtschaft braucht keine Energiesubventionen, sondern bezahlbaren Strom.» Ein weiterer Unternehmer wird zitiert, SVP-Nationalrat Franz Grüter, Verwaltungsratspräsident der IT-Firma Green: Rechenzentren seien die neuen Fabriken des digitalen Zeitalters. Sie würden in den nächsten Jahren sehr viele Stellen für Hochqualifizierte schaffen, was eine «grosse Chance für die Schweiz» sei.

Anscheinend lässt es sich sowohl in Deutschland mit eigener Windfarm gut geschäften wie auch in der Schweiz, wo Green mit dem Metro Campus Zürich drei neue Hochleistungsdatacenter für Cloud-Anbieter baut und die Abwärme in einen Wärmeverbund einspeist. Dennoch kritisieren gemäss ‹NZZ am Sonntag› beide den Atomausstieg, weil dadurch angeblich der Strom verteuert wird …