Aktive Neutralität statt Aufrüstung

Die militärischen Aufrüstungstendenzen sind für die pazifistischen zivilgesellschaftlichen Organisationen besorgniserregend. Die Armee soll bis 2035 10 Milliarden mehr bekommen, der Vertrag für ein Atomwaffenverbot nicht mitunterzeichnet werden und die Neutralität wird neu ausgehandelt. Wie kämpft man in diesem Klima für den Frieden? Peter Weishaupt, Geschäftsleiter des Schweizerischen Friedensrats und die Sekretärin der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) Roxane Steiger im Gespräch mit Sergio Scagliola.  
Die militärischen Aufrüstungstendenzen sind für die pazifistischen zivilgesellschaftlichen Organisationen besorgniserregend. Die Armee soll bis 2035 10 Milliarden mehr bekommen, der Vertrag für ein Atomwaffenverbot nicht mitunterzeichnet werden und die Neutralität wird neu ausgehandelt. Wie kämpft man in diesem Klima für den Frieden? Peter Weishaupt, Geschäftsleiter des Schweizerischen Friedensrats und die Sekretärin der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) Roxane Steiger im Gespräch mit Sergio Scagliola.  

Die GSoA und der Friedensrat sind Teil einer Allianz, die diesen Sommer eine Initiative für den Beitritt der Schweiz zum Atomwaffenverbotsvertrag (TPNW) lanciert. Um was geht es?

Roxane Steiger: Die Allianz für ein Atomwaffenverbot lanciert im Sommer eine Initiative, damit die Schweiz endlich dem Atomwaffenverbotsvertrag beitritt. Dabei handelt es sich um einen Uno-Vertrag, der die Ächtung und das Verbot von Atomwaffen verlangt. Die Schweiz war an dessen Ausarbeitung massgebend beteiligt. Der Bundesrat will diesem Vertrag aber nicht beitreten – trotz einer parlamentarischen Motion von 2018, die ihn zur Ratifizierung auffordert. Im März hat der Bundesrat nun kommuniziert, dass er dem Vertrag weiterhin nicht beitreten wird. Da alle Mittel ausgeschöpft sind, lancieren wir nun eine Volksinitiative.

Wieso will die Regierung dem Vertrag nicht beitreten?

R.S.: Als Hauptgrund nennt ein dazu erschienener Bericht des Bundesrats die Kooperation mit der Nato. Das Argument: Im Extremfall könne es sein, dass nicht alle Kooperationsformen möglich seien. Lange standen auch andere Argumente im Raum, wie zum Beispiel die Vereinbarkeit mit anderen Abrüstungsverträgen, die sich jetzt aber nachweislich als falsch erweisen. Der Atomwaffenverbotsvertrag wäre komplementär zu bisherigen Abrüstungsbemühungen. 

Peter Weishaupt: Es wird nicht genau so gesagt, aber es ist wohl auch nicht im Interesse unserer Sicherheitspolitik im Zusammenhang mit der jetzigen Sicherheitslage. Die Nato wäre von einer Unterzeichnung nicht sehr begeistert 

Wer steckt denn hinter diesem Abkommen, diesem «Treaty»?

R.S.: Der TPNW wurde von 93 Staaten ratifiziert. Viele sind aus dem Globalen Süden, aber auch Österreich, Irland oder Malta haben unterzeichnet – europäische Länder, die wie die Schweiz bündnisfrei sind und Kooperationen mit der Nato haben. 

P.W.: Selbstverständlich sind die Atommächte nicht dabei. Was letztlich auch die Achillessehne dieses Vertrags ist, weil er schlussendlich symbolisch ist. Das macht es umso peinlicher für den Bundesrat, hier nicht dabei zu sein. Der Vertrag würde die Atommächte auf völlige Abrüstung verpflichten. Wichtig ist hier auch eine Unterscheidung: Der Atomwaffenverbotsvertrag ist nicht das Gleiche wie der Atomwaffensperrvertrag, den es schon lange gibt. Dieser verpflichtet die bisherigen Atommächte auch auf Abrüstung, der neue -Verbotsvertrag fordert hingegen, die Entwicklung, Produktion, Tests, Lagerung, Stationierung und den Erwerb, Transport und Einsatz (und auch die Drohung damit) von Atomwaffen zu verbieten. 

Was bringt ein Verbotsvertrag, wenn der Sperrvertrag nicht eingehalten wird?

P.W.: Es wäre eine Weiterentwicklung der generellen völkerrechtlichen Ächtung der Atomwaffen. 

R.S.: Die Nichtweiterverbreitung hat über den Sperrvertrag in einem gewissen Ausmass funktioniert, aber die Abrüstungsverpflichtungen nicht. Deshalb haben sich in der Uno jene Staaten zusammengeschlossen, die nicht nukleare Mächte sind – diejenigen also, die den Folgen der Entscheidungen anderer ausgesetzt sind. Es braucht einen Paradigmenwechsel, auch mit den nuklearen Mächten zusammen. Und ein Land wie die Schweiz hätte hier die Verantwortung, sie an Bord zu holen und eine Vorbildrolle einzunehmen. 

P.W.: Eigentlich wäre die Unterzeichnung ein Auftrag, der zweimal durch eine grosse Mehrheit im Parlament erteilt wurde, weshalb es für uns ein Witz ist, dass wir diese Initiative – sozusagen eine Durchsetzungsinitiative – überhaupt machen müssen. Das wäre nicht unsere Aufgabe.

Am TPNW sind auch Staaten mit Nato-Kooperationen beteiligt. Das hatte keine Konsequenzen bezüglich Zusammenarbeit, wie das hier befürchtet wird?

R.S.: Nein. So ist Österreich, das ebenfalls eine Kooperation mit der Nato pflegt dem Vertrag beigetreten. Sie argumentieren damit, dass wir die internationale Sicherheit nicht auf nukleare Abschreckung gründen können, da die Auswirkungen und Risiken zu hoch seien. Im Moment wird es aber oft so umgedreht, dass die nukleare Abschreckung das notwendige Übel ist, um sich vor Autokraten wie Putin zu schützen. Was man in dieser Argumentation vergisst ist, dass Atomwaffen Kriege nicht nur verhindern, sondern auch befeuern. So erfolgte der Angriff Russlands auf die Ukraine unter dem russischen atomaren Schutzschirm. 

 Kann man die Regierungsposition der Schweiz einordnen oder interpretieren? Ist das ein Kuschen vor der Nato?

P.W.: Ich glaube, es hat schon mit einem Kuschen vor der Nato zu tun… 

R.S.: …oder eben auch damit, dass man sich davor drückt, eine Diskussion darüber zu führen, was die Rolle der Schweiz sein soll. Die aussen- und sicherheitspolitische Rolle ist noch immer nicht geklärt. 

Letzte Woche hat die Sicherheitskommission ein Milliardenpaket für die Schweizer Armee und für den Wiederaufbau in der Ukraine vorgeschlagen. Es geht um insgesamt 15 Milliarden Franken – 10 für die Armee, 5 für die Ukraine-Aufbauhilfe. Ist das Teil dieses Paradigmenwechsels?

P.W.: Ja natürlich. Seit der Zeitenwende sieht die Lage in Europa ganz anders aus, in den Nato-Ländern sowieso. Neue Staaten sind ihr beigetreten. Putin hat erreicht, dass die Nato gestärkt wurde. In Polen, Deutschland und Frankreich zum Beispiel werden die Verteidigungsausgaben massiv erhöht. Das betrifft die konkrete Aufrüstung, aber auch das politische Klima. Die Rolle der USA ist hier auch wichtig, gerade seit Donald Trump erklärt hatte, Europa müsse endlich einen grösseren Teil an die Verteidigung beitragen und die USA würden da langfristig nicht mehr mitmachen, wenn das nicht geschehe. Das ist schon eine direkte Auswirkung. Obgleich ich der Meinung bin, dass wir in der Schweiz im Prinzip nicht direkt betroffen wären. Wir wären im Kriegsfall ohnehin ein Teil der europäischen Verteidigung. Die Sonderfinanzierung der Aufrüstung ist somit eine direkte Auswirkung des Ukrainekriegs.

Dieses Milliardenpaket kritisiert die GSoA als faulen Kompromiss…

R.S.: Es ist ein Kompromiss, der Ausdruck davon ist, was in den letzten Jahren alles debattiert wurde. Wir haben diese Zeitenwende bei der GSoA gespürt: So beschaffte der Bundesrat die F-35 Kampfjets, ohne unsere eingereichte Initiative abzuwarten. Auch die Errungenschaften der Waffenausfuhr-Korrektur-Initiative, die wir mitgetragen haben, sollen jetzt rückgängig gemacht werden. Die Bürgerlichen nutzen die Gunst der Stunde, um die Aufrüstungswünsche der Armee und Lockerungen beim Kriegsmaterialgesetz für die Rüstungslobby durchzusetzen. So ist die gesamte Diskussion in ein sehr militärisches Narrativ verfallen, ohne dass relevante Fragen zur Rolle und den Hebeln der Schweiz gestellt werden. Der aktuelle Vorschlag des Ständerates ist Ausdruck dieser Entwicklung. So war die Mitte vor einigen Monaten gegen die Schaffung eines ausserordentlichen Fonds für den Wiederaufbau der Ukraine. Aber unter der Bedingung, dass die Ausgaben für den Wiederaufbau der Ukraine mit doppelt so viel Geld für die Armee gekoppelt werden, ist sie den Deal eingegangen. Man kann nicht von Solidarität mit der Ukraine sprechen und dann einen solchen Kuhhandel eingehen. 

P.W.: Und als Klammer: Das mit dem F-35 wird die Regierung noch bereuen. Wenn du dir die Kriegsentwicklung anschaust: Ein derart überzüchtetes Gerät wie der F-35 kann in einem modernen Krieg von einer einfachen Drohne abgeschossen werden. 

 Die GSoA wirft dem Bundesrat eine Nato-Annäherung durch die Hintertür vor. Wie hängt das mit unserer Rüstungspolitik zusammen?

R.S.: In den letzten Jahren gab es viele Entwicklungen und Beschlüsse, wie die Beschaffung des F-35, die Teilnahme an Sky-Shield oder der Beschluss zum TPNW, die die Schweiz in eine gewisse Richtung lenken, wie sie ihre Aussen- und Sicherheitspolitik ausgestaltet. Das findet nicht in einem breiten Diskurs statt, sondern es handelt sich um Beschlüsse des Bundesrats, die über die Köpfe der Bevölkerung hinweg gefällt werden. Das kritisieren wir. 

Und was macht man nun damit? Für die Zukunft der pazifistischen Bewegung? Was ist nötig, was ist naiv?

 P.W.: Ich sehe unsere Rolle im Moment darin, im Diskurs um das Thema Sicherheit zu informieren. Wir haben schon lange den Fokus auf die Stärkung des internationalen Rechts gelegt, vor allem in Bezug auf die Uno. Für uns ist wichtig, dass sich die Schweiz im Sicherheitsrat engagiert, dass die kollektive Sicherheitsordnung gestützt auf die Uno-Charta und das Völkerrecht eine Alternative zu den militärischen Ausrichtungen ist. Für uns muss der Einsatz für die Menschenrechte im Zentrum stehen. Das bedingt auch einen Auseinandersetzung mit der Neutralität. Neutralität gibt es nicht – das Kriegsverbot der Uno gilt ohnehin. So ist das Konzept der Neutralität nicht mehr sinnvoll. Für uns heisst das auch, dass wir die Blochersche Neutralitätsinitiative zum Absturz bringen müssen, die sich im Grunde genommen nur gegen Sanktionen gegen Russlands Angriffskrieg richtet. Denn Sanktionen sind eine Möglichkeit, nicht-militärischen Druck auszuüben. Sie richten sich auch nicht gegen das russische Volk, sondern gezielt gegen dessen Oligarchie und Rüstungsindustrie. Die Schweiz ist an 36. Stelle bei Investitionen und Geldern, die für die Ukraine freigegeben werden – alle anderen europäischen Länder machen viel mehr. Man fragt sich international immer mehr, warum wir so wenig machen. Nicht nur bezüglich Durchsetzung der Sanktionen, sondern auch bei finanziellen Transaktionen. So könnten wir ja zum Beispiel die eingefrorenen russischen Gelder für den Wiederaufbau in der Ukraine verwenden.

R.S.: Bei uns liegt der Fokus auch auf Kriegsprävention: Was muss geschehen, dass Kriege nicht ausgeübt werden? Ein weiteres Kernanliegen ist, einen weiteren Sicherheitsbegriff zu etablieren. Sicherheit ist nicht die Armee, Sicherheit umfasst Umweltschutz, soziale Sicherheit und Konzernverantwortung. Gerade in Bezug auf die Ukraine haben wir grosse Fragen zum Rohstoffhandelsplatz und unserem Finanzplatz zu klären. Und auch die Stärkung und Durchsetzung von Völkerrecht und Menschenrechten sind gerade in Bezug auf die Situation in Israel/Palästina sehr aktuell. Es ist eine erschreckende Entwicklung, dass in einer so akuten Situation der UNRWA keine Gelder gezahlt werden sollen, unabhängig davon, zu welchen Schlüssen eine unabhängige Untersuchung kommt. 

Die Neutralität muss also neu ausgehandelt werden. Wie verhindert man, dass aus Neutralität eine Starrheit wird?

R.S.: Die Neutralität ist im Schweizer Kontext extrem verfestigt und wird in absehbarer Zeit bestehen bleiben. Wir müssen die Aushandlung dieses Begriffes nutzen, um die Sicherheitspolitik mitzugestalten. Ich plädiere für eine aktive Neutralität, im Sinne einer militärisch neutralen Schweiz, die sich aktiv für die Einhaltung und Durchsetzung von Völkerrecht und Menschenrechten engagiert.  

P.W.: Mir wäre lieber, wenn sich der Neutralitätsbegriff irgendwie auflöst. Es weiss auch niemand mehr, was genau damit gemeint ist. Er steht auch nicht in unserer Verfassung – was auch der Witz an dieser Neutralitätsinitiative ist. Zum ersten Mal würde damit die Neutralität in der Verfassung auftauchen. Wichtig ist einfach, dass wir nicht kollektiv resignieren. Es gibt Möglichkeiten. Wenn man aufgrund der Drohung Putins mit Atomwaffen den Dritten Weltkrieg heraufbeschwört und dass wir alle untergehen, rechtfertigt das den Krieg und fordert implizit eine Kapitulation der Ukraine. Den Weltkrieg verhindern, indem die Ukraine kapituliert? Diese Art von Stimmung hat nicht viel mit Pazifismus zu tun.