Änderung zum Schutz der Kinder – oder der Kasse des Kantons?

Zur Änderung des Gesetzes über die Jugendheime und die Pflegekinderfürsorge hat nur die FDP die Nein-Parole gefasst. Dennoch ist die Vorlage umstritten, auch unter Linken: Der Winterthurer Sozialvorsteher Nicolas Galladé (SP) kämpft für ein Nein, Monika Wicki, SP-Kantonsrätin und Mitglied der Kommission für Bildung und Kultur, sagt Ja. Ihre Argumente legen die beiden im Gespräch mit Nicole Soland dar.

 

Zurzeit ist im Kantonsrat ein Entwurf für ein neues Kinder- und Jugendheimgesetz (KJG) in Bearbeitung. Hätte man, statt am 24. September über eine Änderung des bestehenden Gesetzes abstimmen zu lassen, nicht zuwarten können, bis das neue Gesetz abstimmungsreif ist?

Monika Wicki: Nein, zum Wohl der Kinder hätten wir nicht einfach zuwarten können. Das geltende Gesetz stammt aus dem Jahr 1962 und wurde damals sehr offen formuliert. Es weist Lücken auf, und es hat auch immer gewisse Fehlanreize geschaffen. So ist beispielsweise nicht explizit formuliert, welche Kosten die Gemeinden bei einer Heimeinweisung übernehmen. Dennoch war die Praxis über 50 Jahre lang klar: Kanton und Gemeinden übernahmen je ihren Anteil an den Kosten der Heimplatzierungen, und das ist auch gut so. Vor allem aber bei ausserkantonalen Platzierungen gab es Diskussionen. In Entscheiden von Verwaltungs- und Bundesgericht wurde festgehalten, dass es keine gesetzlichen Grundlagen für eine Kostenbeteiligung der Gemeinden bei Heimaufenthalten von Kindern gibt. Aufgrund dessen haben einige Gemeinden alle derartigen Zahlungen sistiert und die Unterlagen an den Kanton geschickt mit der Bemerkung, sie seien dafür nicht mehr zuständig. Andere haben Kinder aus privaten in kantonale Einrichtungen umplatziert, damit sie nicht mehr kostenpflichtig sind. Der Schutz der Kinder ist unter diesen Umständen gefährdet, wir mussten rasch handeln.

 

Wäre es nicht effizienter gewesen, die Arbeit am neuen KJG umso rascher voranzutreiben?

Wicki: Der Entscheid des Bundesgerichts hat unsere Kommission mitten in den Beratungen fürs neue KJG erreicht; damals war nicht absehbar, wie lange man noch brauchen würde, um ein gutes Gesetz auszuarbeiten. Und wir wussten nicht, wie rasch dieses dann bereit zur Umsetzung sein würde. Nun, wenn es im Kantonsrat zügig beraten wird und es kein Referendum gibt, sieht es so aus, als könnte es 2021 in Kraft treten. Doch bis dahin vergehen noch vier Jahre, in denen die Kinder umhergeschoben und die Eltern ungerecht behandelt würden, indem einige zahlen müssten und andere nicht. Wir mussten handeln und haben deshalb diese Zwischenrevision gemacht.

 

Es gab «einige» Sistierungen und Umplatzierungen – das tönt nicht danach, als hätte die Mehrheit der Gemeinden sofort alles über den Haufen geworfen. Eilt es tatsächlich so sehr?

Nicolas Galladé: Nein. Die Geschichtsschreibung der Kommission zeugt vom unkritischen Verhalten, das die Legislative der zuständigen Direktion gegenüber an den Tag gelegt hat: Sie gibt das wieder, was ihr von der kantonalen Verwaltung aufgetischt wurde.

 

Wie lautet denn Ihre Geschichtsschreibung?

Galladé: Man hat bereits vor sechs, sieben Jahren gesehen, dass es aufgrund interkantonaler Vereinbarungen nicht möglich ist, dass die Eltern und subsidiär die Gemeinden solche Kosten übernehmen müssen. Die kantonalen Behörden ignorierten dies. Also riefen die Gemeinden die Gerichte an. Und erhielten recht – immer bei diesen Themen.

 

Dann ist aus Sicht der Gemeinden doch alles gut?

Galladé: Eben nicht. Im November 2015 stand mit dem Urteil des Verwaltungsgerichts fest, dass die bisherige Praxis interkantonaler Platzierungen nicht mehr geht. 2016 doppelte das Bundesgericht nach, womit auch die Unterscheidung zwischen interkantonalen und innerkantonalen Platzierungen hinfällig wurde. Damit war klar, dass das alte Gesetz von 1962 definitiv nicht mehr funktioniert. Doch statt möglichst rasch das neue KJG zu bringen, machte man eine unnötige Gesetzesänderung.

Wicki: Tatsache ist, dass diese Gerichtsurteile Unsicherheiten bezüglich des Kindesschutzes schufen; es gibt momentan Heime, die nicht beitragsberechtigt sind und für welche die Eltern, bzw., wenn sie das nicht können, die Gemeinden den grössten Teil der Kosten übernehmen müssen, und es gibt beitragsberechtigte Heime, bei denen der Kanton alles übernehmen muss. Dass dies einen Einfluss auf die Entscheide der Gemeinden haben kann, ist doch sonnenklar. Es ist nicht in Ordnung, dass wegen der entstandenen Regelung die Familien unterschiedlich behandelt werden, dass die einen zahlen müssen und die andern nicht oder dass die Kinder von einem Heim ins andere geschoben werden. Es ist wichtig, dass mit der Gesetzesänderung die gemeinsame Finanzierung von Kanton und Gemeinden geregelt ist, so, wie es über 50 Jahre war und wie es auch im neuen KJG vorgesehen ist.

Galladé: Mit dieser Vorlage zockt man einfach die Eltern ab. Es gibt keinen anderen Kanton, der die Eltern sosehr schröpft bei Platzierungen wie der Kanton Zürich. Wenn die Gleichberechtigung darin bestehen soll, dass nicht nur die einen, sondern alle Eltern schweizweit in höchstem Masse belangt werden, finde ich das eine etwas seltsame Argumentation. Und die einzige Verunsicherung, die es im übrigen gegeben hat, ist folgende: Im letzten Sommer haben die Gemeinden innert zwei Tagen vom kantonalen Sozialamt auf der einen Seite und vom Amt für Jugend und Berufsberatung auf der anderen Anweisungen bekommen, die sich diametral widersprachen. Das hat bei den Gemeinden logischerweise zu Unsicherheiten geführt. Aufgrund der beiden Gerichtsentscheide hatten die Gemeinden keine rechtliche Grundlage, um Gelder zu sprechen. Operativ ist es aber nichtsdestotrotz tipptopp gelaufen: Wir haben uns darauf geeinigt, dass bei dringlichen Kindesschutzfällen einfach derjenige unbürokratisch zahlt, der den Fall als erster an die Hand nimmt. Mittlerweile haben wir auf der operativen Ebene eine glasklare Regelung, es gab noch nie so viel Rechtssicherheit, wie man jetzt hat – doch wir haben immer noch ein suboptimales Gesetz. Und dieses sollten wir grundlegend und rasch ändern. Mit dem KJG – und nicht noch einmal am alten Gesetz schräubeln.

 

Die Gesetzesänderung wäre somit gar nicht nötig?

Galladé: Nein, die Regelungen auf operativer Ebene würden gut noch ein weiteres Jahr funktionieren. Dann sollte einfach rasch das neue KJG in Kraft treten.

Wicki: Wie gesagt, die Gesetzesänderung war wegen des Kindesschutzes und der Gleichstellung der Familien absolut notwendig, wir haben das intensiv geprüft. Und es war wichtig, dass wir das KJG ohne Druck verhandeln konnten und können.

Galladé: Das neue KJG ist ein fachlich gutes Gesetz. Deshalb sollte es möglichst schnell eingeführt werden.

Wicki: Nicht nur auf das neue KJG trifft das zu. Auch mit der Gesetzesrevision entlasten wir die Gemeinden, nämlich dadurch, dass wir in der zweiten Lesung im Rat entschieden haben, auf den rückwirkenden Effekt der Revision zu verzichten. Das hat den Gemeinden bereits jetzt 60 Mio. Franken eingespart. Und im neuen KJG ist eine solidarische Finanzierung sowie eine Reduktion der Kosten der Gemeinden vorgesehen. Dies war nur möglich auszuhandeln, weil wir, durch die entschiedene Zwischenlösung, keinen Druck, keine Not hatten.

Galladé: Ich glaube, wenn man das genau angeschaut und sich von der Verwaltung nicht sosehr hätte vereinnahmen lassen, dann hätte man sich gesagt, wir haben eine Praxis, die rechtlich nicht in Ordnung ist, also müssen wir das alles nochmals nach den Regeln des gesetzgeberischen Verfahrens aufgleisen und dabei wie üblich die Gemeinden und die Sozialkonferenzen einbeziehen. Das machte man ja mit dem KJG. Nun höre ich, dass sich die Inkraftsetzung dieses KJG laufend verzögert.

Wicki: Dazu muss Bildungsdirektorin Silvia Steiner Auskunft geben, wenn wir im Kantonsrat das neue KJG verhandeln. Wir in der Kommission haben unsere Arbeit gemacht, und es war richtig, dass wir diese Gesetzesänderung eingeschoben haben.

Galladé: Nein, denn wir haben jetzt ein total kompliziertes Gesetz. Ein Gesetz, das man nicht erklären kann, ist schlecht, und ein Gesetz, das dazu führt, dass es teure Fälle gibt, welche die Gemeinden ganz allein tragen müssen, ist erst recht schlecht, weil es das Vertrauen ins ganze Sozialsystem zerrütten kann. Der Fall Hagenbuch ist zwar eine Skandalisierung, er hat sich nicht so zugetragen wie kolportiert, doch weil das Gesetz so kompliziert ist, konnte man das kaum erklären, und das ist schlecht. Mit dem neuen KJG, in dem das Gesamtkostenmodell mit allseitiger Beteiligung vorgesehen ist, ist so etwas nicht mehr möglich, und das ist gut so.

Wicki: Ja, da sind wir uns einig.

 

Wo klemmts denn noch?

Galladé: Ich habe das Gefühl, dass man mit dieser Gesetzesänderung Zeit zu gewinnen versucht, was mich beunruhigt. Bis im Juni hiess, es, das KJG würde 2019 in Kraft treten, im Juli hiess es 2020 und in der Abstimmungszeitung lese ich «frühestens 2021».

Wicki: Seit mindestens sechs Jahren laufen die Arbeiten am neuen KJG. Es gab einen Entwurf, der ging in unsere Kommission, es gab Verhandlungen, kurz: Diese Wege sind nun mal lang, und das weisst du genau.

Galladé: Das neue KJG zeigt, wie maximal lang man machen kann, und die Gesetzesänderung, über die wir am 24. abstimmen, zeigt, wie «zu schnell» man machen kann.

Wicki: Es geht ja auch nicht um dasselbe: Das KJG ist umfassend, es hat ein völlig neues Finanzierungsmodell drin, es regelt alles von Familienbegleitung bis Strafvollzug. Das hat seine Zeit gebraucht. Was aktuell im bestehenden Gesetz angepasst werden soll, sind lediglich zwei Paragraphen gegen die Gefährdung der Kinder und die Ungleichbehandlung der Familien, die zurzeit aufgrund des Bundesgerichtsentscheides herrscht.

Galladé: Ich finde es gut, dass man sich Zeit genommen hat für das neue Gesetz. Was ich seltsam finde, ist dies: Jetzt, wo es behandlungsreif vorliegt und bald vom Kantonsrat behandelt werden kann, kommt es einem in den Sinn, dass es doch nicht per 1. Januar 2019 eingeführt werden kann. Pointiert gesagt: Der Kanton ist 50 Jahre lang schwarzgefahren, während die Gemeinden ohne gesetzliche Grundlage Beiträge bezahlt haben. Jetzt wurde der Kanton erwischt – und was sagt er dazu? Er hält nicht nur fest, dass er die Billette der Vergangenheit nicht bezahlen will, sondern möchte auch noch ein Generalabo für die Zukunft bekommen.

Wicki: Es geht nur darum, es so zu machen, wie wir es bisher gemacht haben. Wir in der Kommission sind der Meinung, dass das Gesetz mit den neuen Paragraphen im Sinne des Schutzes der Kinder und der Gleichbehandlung der Familien richtig war und gut ist, weil es die bisherige Praxis weiterführt und so im Übergang zum neuen KJG das Bewährte fortführt.

Galladé: Und ich glaube weiterhin, dass euch diese beiden Aspekte unlauter berichtet wurden. Man hat sich operativ geeinigt, es läuft seit einem Jahr alles hervorragend auf der operativen Ebene – und jetzt will man nochmals alles ändern.

Wicki: Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir die bestehende Regelung weiterführen wollen, und wir hatten eine grosse Mehrheit dafür.

Galladé: Dass ihr euch im Kantonsrat einigt, ist das eine, doch es gibt auch noch andere Akteure: Die Gemeinden und Sozialhilfekonferenz, die aus fachlichen Gründen mehrheitlich ablehnen, was nun zur Abstimmung kommt.

Wicki: Mag sein – aber sicher nicht aus fachlichen Gründen!

Galladé: Doch, fachlich ist der Fall klar: Man ändert im fachlich schlechten alten Gesetz genau die zwei Punkte, die man ändern muss, damit der Kanton finanziell wieder besser dasteht. Fachlich verbessert man damit nichts.

Wicki: Nein, es ist eine Weiterführung dessen, was beide Seiten seit 50 Jahren gelebt haben. Dass die Gemeinden den Rechtsweg beschreiten, statt miteinander zu reden und sich zu einigen, ist nicht richtig. Die Gemeinden werden durch die Gesetzesänderung nicht mehr belastet als vorher. Im neuen KJG wird der Kostenverteiler gar noch zugunsten der Gemeinden geändert, was für euch eine Kostenersparnis von 15 Millionen Franken bedeutet, also viel Geld, aber ihr habt immer noch etwas dagegen.

 

Was passiert bei einem Ja am 24. September, was bei einem Nein?

Wicki: Bei einem Ja kann die bestehende Praxis weitergeführt werden, Kanton und Gemeinden finanzieren die Heimplatzierungen gemeinsam. Auf dieser Basis können wir dann gut in die kommende Kantonsratsdebatte zum neuen KJG einsteigen. Bei einem Nein bin ich mir nicht sicher, ob die Mehrheiten für das KJG, die wir erarbeitet haben, bestehen bleiben oder nicht. Es besteht die Gefahr, dass der ausgehandelte Kompromiss wieder auseinanderfliegt und das neue KJG, so, wie vorgesehen, doch nicht kommt.

Galladé: Wichtig ist, dass das neue KJG dereinst mit all seinen fachlichen Verbesserungen so durchkommt, wie es nun vorliegt. Gibt es am 24. September ein Ja, dann ist der nächste Rechtsfall programmiert.

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