- Reich der Mitte
Absolute Mehrheit für eine Partei: Ist das klug?
Es war ein bitterer Moment für den amtierenden Urner Sicherheitsdirektor Dimitri Moretti, als er am frühen Nachmittag des 21. April von seiner Nicht-Wiederwahl erfuhr. Im zweiten Wahlgang unterlag Moretti seinen beiden Konkurrenten, Georg Simmen von der FDP und Hermann Epp von der CVP-Die Mitte. Nach acht Jahren Regierungstätigkeit kann Dimitri Moretti sein Amt ab Sommer nicht mehr weiterführen. Bitter ist das Ergebnis auch für seine Partei, die SP. Die Linke wird künftig in der Zentralschweiz damit bloss noch im Kanton Luzern Einsitz in einer Kantonsregierung haben – dies mit Ylfete Fanaj von der SP.
Die Grünen des Kantons Uri hatten vor der Wahl darauf hingewiesen, dass die Vielfalt der Meinungen und der Bevölkerungsgruppen bei der Zusammensetzung der Regierung genau so wichtig sei wie die Vertretung der Regionen. «Eine Juristin und ein Jurist, zwei Landwirte und ein ehemaliger Unternehmer sind bereits gewählt», schrieben die Grünen vor dem zweiten Durchgang. «Sie repräsentieren aber nur einen kleinen Teil der Urner Bevölkerung.» Die Grünen empfahlen in ihrer Mitteilung Dimitri Moretti zur Wahl, weil er als ehemaliger Sekundarlehrer, Lohnabhängiger und Linker eine ganz andere Sicht in das Gremium einbringen könne. Nach dem zweiten Wahlgang ist aber zu konstatieren, dass nun neu ein weiterer Jurist und ein Versicherungsfachmann in die Urner Regierung einziehen werden.
Die Urner CVP-Die Mitte hatte im Vorfeld stets beteuert, es sei nicht ihr Anspruch, vier von sieben Sitzen in der Regierung anzustreben. Es sei darum gegangen, der Bevölkerung eine Auswahl zu bieten, sagte Mitte-Präsident Flavio Gisler vor dem zweiten Wahlgang. Weil aber im ersten Durchgang drei Mitte-Leute gewählt worden waren und Hermann Epp als vierter Kandidat ebenfalls ein sehr gutes Ergebnis gemacht hatte, sei es für die Partei nicht infrage gekommen, «das klare Zeichen der Bevölkerung» zu missachten. Deshalb habe die Mitte entschieden, auch im zweiten Wahlgang wieder anzutreten. Thomas Huwyler von der Urner SP sagt, die Mitte habe auf «All in» entschieden, nachdem drei Mitte-Leute «dummerweise» bereits im ersten Wahlgang gewählt worden waren und Hermann Epp nur sehr knapp nicht.
Ärger bereits bei der Verteilung der Departemente
Die neue Konstellation birgt aber ihre Tücken. Am 25. April teilte die Urner FDP mit, dass bei der Direktionsverteilung «mutmasslich bereits die Dominanz der neuen Mehrheitspartei eine Rolle gespielt hat.» Hintergrund der Meldung: Sowohl Georg Simmen (FDP) als auch Hermann Epp (CVP-Die Mitte) wollten Baudirektor werden. Den Zuschlag erhielt letzte Woche aber der Mitte-Vertreter Epp. «Dies obwohl gemäss Usanz der Bessergewählte – also Georg Simmen – Vorrang gehabt hätte», hält die Urner FDP fest. Und fügt gleich noch an, dass man das weitere Geschehen im Regierungsgremium nun genau beobachten werde.
Ähnlich tönt es seitens der SP. Auf ihrer Webseite schreibt die Partei: «Der neue FDP-Regierungsrat Georg Simmen hatte keine Chance auf die Baudirektion, an der er immer Interesse bekundet hatte. Das offizielle Foto der neuen Regierung spricht diesbezüglich Bände.» Die absolute Mehrheit einer einzelnen Partei sei undemokratisch und für Uri auf die Dauer schädlich. «Die Hinterzimmer-Politik der CVP-Die Mitte hat am Dienstag mit der Vergabe der Direktionen erstmals stattgefunden. Die SP Uri wird die absolute Regierungsmehrheit im ‹Reich der Mitte› aufmerksam beobachten und kritisch begleiten», heisst es in der Mitteilung weiter.
Uri wird somit zum dritten Kanton in der Schweiz werden, in welchem eine einzige Partei die absolute Mehrheit in der Kantonsregierung hat. Seit dem Jahre 2022 hat die Mitte in Graubünden drei von insgesamt fünf Sitzen inne. Und in Neuenburg belegt die FDP ebenfalls drei von fünf Sitzen.
Gemäss Auskunft des Schweizerischen Städteverbandes gibt es auch rund zehn Städte, in denen eine einzige Partei die absolute Mehrheit in der jeweiligen Stadtregierung innehat. In Thun zum Beispiel gehören bei total fünf Sitzen drei Sitze der SVP, dazu je einer der SP und den Grünen. Hinzu kommen all jene Kantone oder Städte, in denen jeweils deutlich rechts oder links ausgerichtete Parteien zusammen die klare Mehrheit in den jeweiligen Regierungen innehaben.
Nebst Chancen auch klare Risiken für die Mehrheitspartei
Stellt sich die Frage: Ist es klug, wenn eine Partei in einer Kantons- oder Stadtregierung die absolute Mehrheit innehat – für die betreffende Partei selber und auch für das System als Ganzes?
Georg Lutz, Politikwissenschaftler der Universität Lausanne sagt, er sei kein Vertreter der These, dass es so etwas wie einen «freiwilligen Proporz» gebe, gemäss dem Parteien bewusst auf Macht oder Mehrheiten verzichten würden, weil sie die Macht gerne mit ihrer politischen Konkurrenz teilen wollten. «Parteien nominieren zurückhaltend, um ihre Macht abzusichern, um ihre eigenen Kandidierenden sicherer durchzubringen oder weil sie in ein Bündnis eingebunden sind. Aber nicht, weil sie gerne Macht abgeben.» Von daher sehe er keinen Grund, dass man von der CVP-Die Mitte Uri eine Beschränkung hätte einfordern müssen. Es liege jeweils an den Wählerinnen und Wählern zu bestimmen, wer in die Regierung gewählt wird.
Hans-Peter Schaub von Année Politique Suisse an der Universität Bern geht ebenfalls davon aus, dass Parteien nicht «aus Grosszügigkeit oder Freude» zurückhaltend nominieren. Sie würden dies dann tun, wenn es für sie Sinn macht. Eine moralische Verpflichtung der CVP/Mitte, sich auf drei Sitze zu beschränken, habe es aus politikwissenschaftlicher Sicht sicher nicht gegeben.
Zu bedenken sei allerdings, dass ein «offensives Nominieren» für eine Partei nebst Chancen – wie mehr Macht und Zufriedenstellen unterschiedlicher Gruppierungen innerhalb der Partei – auch Risiken berge. Unter anderem könne sich eine Partei so dem Vorwurf ihrer politischen Gegnerschaft aussetzen, sich Macht anmassen zu wollen. Das könne sich an der Wahlurne negativ auswirken. Im Falle der Urner Mitte sei dies im ersten Wahlgang aber offensichtlich nicht eingetroffen.
Wenn die Wahl der vier Kandidaturen gelinge, aber die Partei – so wie die Mitte in Uri – nicht auch gleichzeitig im Parlament eine Mehrheit habe, so müsse die Partei während der Legislatur doch Rücksicht nehmen auf die anderen Parteien, um die Regierungsvorlagen auch im Parlament durchzubringen. Umso mehr gelte dies mit Blick auf Volksabstimmungen: «Lässt sich eine Partei dazu verleiten, ihre absolute Regierungsmehrheit zum ‹Durchregieren› auf enger Parteilinie zu nutzen, ohne Rücksicht auf andere massgebliche Interessen zu nehmen, dann drohen spätestens in den Referendumsabstimmungen Scherbenhaufen.» Zudem bürde sich eine Partei mit einer absoluten Mehrheit in der Regierung viel Verantwortung auf. «Läuft es in den Augen der Wählerschaft nicht gut, dann kann in vier Jahren eine umso heftigere Quittung an der Urne folgen.»
Der Urner Politologe Tobias Arnold weist darauf hin, dass die CVP-Die Mitte Uri den Anspruch auf eine Mehrheit in der Regierung mit dem sehr guten Ergebnis von Hermann Epp im ersten Wahlgang begründete. «Die Mitte strich dieses Argument hervor, um nicht den Anschein zu erwecken, dass sie von Anfang an die Mehrheit anpeilte.» Arnold geht nicht davon aus, dass die Mitte diese Mehrheit wirklich von Anfang an wollte. «Im schweizerischen System mit der direkten Demokratie ist eine Regierungsmehrheit gar nicht so erstrebenswert. Aufgrund der Volksrechte kann eine Partei nicht durchregieren. Gleichzeitig können die anderen Parteien die Mehrheitspartei direkt für Missstände anprangern.» Im Falle von Uri sei zudem das obligatorische Gesetzesreferendum zu erwähnen: Das bedeute, dass die CVP-Die Mitte mit ihrer absoluten Mehrheit nun zwingend andere Ansichten früh einbeziehen müsse, damit die Gesetze vor dem Volk Bestand haben.