Neue Dringlichkeit und neue Mittel für eine Wirtschaftsdemokratie

Kann die Digitalisierung zur Demokratisierung der Wirtschaft beitragen? Dieser Frage gehen Min Li Marti und Balthasar Glättli in einem Beitrag für das Buch «Reclaim Democracy» nach.

 

Min Li Marti und Balthasar Glättli

 

Die komplette Steuerung ganzer Wirtschaftszweige über ein vernetztes System von Computern, die mit Hilfe komplexer Daten in Echtzeit jederzeit wissen, wo was fehlt… reden wir da vom Internet of Things? Von Science Fiction? Nein. Wir blicken auf Chile in den frühen 1970er-Jahren. Salvador Allende, chilenischer Präsident, wollte den dritten Weg zwischen sowjetischer Planwirtschaft und amerikanischem Kapitalismus. Die Arbeitenden sollten die verstaatlichten Fabriken leiten. Doch weil ihnen die Kenntnisse fehlten, sollte ein Computersystem namens Cybersin sie unterstützen. Das Vorbild: Militärische Einsatzzentralen. Alle Produktionsdaten würden in Cybersyn zusammenlaufen und Entscheidungen könnten dank datengestützter Zukunftssimulationen leicht gefällt werden. Kybernetik war damals das Modewort der Stunde. Die Maschinerie lebt.

 

Skizzen und Modelle der geplanten Cybersyn-Einsatzzentrale erinnern an das Cockpit des Raumschiffs Enterprise, das in den 1960er-Jahren zum ersten Mal in Galaxien aufbrach, die nie ein Mensch zuvor gesehen hatte. Obwohl das futuristische Cockpit von Cybersyn nie den Betrieb aufnahm, funktionierte das «Internet vor dem Internet» auf der Basis von 500 Fernschreibern und einem einzigen Computer tatsächlich auch in der Praxis. Als die CIA 1973 einen landesweiten Streik der Transportunternehmer subventionierte und die Versorgung zusammenbrach, wurden damit erfolgreich Transportfahrer, Ersatzteillieferungen und Lebensmittelverteilung organisiert. Das System überzeugte gar die zuvor skeptischen ArbeiterInnen und verhinderte den frühen Zusammenbruch von Allendes Regierung. Am 11. September 1973 putschte dann das Militär gegen Allende. Das Experiment Cybersyn kam zu einem jähen Ende. Das als Ergänzung zur Wirtschaftssteuerung geplante politische Feedbacksystem Cyberfolk erblickte erst gar nie das Licht der Welt. Es hätte mit einer interaktiven Fernbedienung ein elektronisches Echtzeit-Feedback der TV-Zuschauer auf politische Reden und Debatten liefern sollen: eine elektronische Volksversammlung.

 

Die Fabrik der Zukunft
Heute, über 40 Jahre später, käme vermutlich kaum ein linker Politiker oder eine linke Staatsfrau auf die Idee zu fordern, dass die Arbeitenden dank einem allwissenden Computernetzwerk die gesamte Wirtschaft steuern sollten. Die Idee, dass Steuerung durch Technik ein emanzipatorisches Moment haben könnte, ist in den Hintergrund getreten. Vielmehr nehmen wir heute zu Recht kritisch wahr, wie selbst unser Alltag durch den Überwachungskapitalismus kolonialisiert wird.

 

Ganz verschwunden ist die Idee einer progressiven Verknüpfung von Digitalisierung und Wirtschaftsdemokratie nicht. Der englische Journalist und Autor Paul Mason ist einer der Vertreter davon. An einer Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung sagte er: «Proletariat had the factory, we have the whole society, we have to find each other everywhere». Wir müssen den Kampf also dort aufnehmen, aber auch die Gegenentwürfe dort entwickeln, wo sich der Überwachungskapitalismus breitmacht. Damit spricht Mason ein offensichtliches Problem vieler Linke an, welche ihren Kampf um Emanzipation im Kern weiter in Begriffen der industriellen Arbeitsgesellschaft denken und führen, obwohl sich Arbeitswelt, Wirtschaft und Gesellschaftsstruktur tiefgreifend verändert haben. Dies erklärt einen Teil der Schwierigkeiten, mit denen Gewerkschaften und Linke zu kämpfen haben: Den massiven Mitgliederschwund der Gewerkschaften und die erodierenden WählerInnenanteile der sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa, weil traditionelle WählerInnen-Milieus wegbrechen.

 

Die öffentliche Diskussion um Wandel der Arbeitsgesellschaft findet heute im Rahmen der Digitalisierungs-Debatte statt. Für Aufsehen sorgen Studien, die prognostizieren, dass bis zu fünfzig Prozent aller bestehenden Arbeitsplätze verloren gehen könnten. Und selbst wenn die Erwerbsarbeit nicht ausgehen sollte – wie in der Schweiz, wo die Arbeitslosigkeit trotz hoher Zuwanderung und hoher Frauenwerwerbsquote weiterhin niedrig ist, weil sie von der Digitalisierung profitiert –, stehen tiefgreifende Umwälzungen an. Denn der Arbeiter beziehungsweise die «Selbst-Unternehmerin» der Zukunft bringt nicht mehr nur seine/ihre Arbeitskraft als Produktionsmittel ein, sondern auch die eigene Kreativität – und idealerweise auch noch den eigenen Besitz, das Auto oder die Wohnung.

 

In einem solchen Umfeld wird die Postfordismus-Debatte wieder aktuell, welche bereits in den 1970er-Jahren die Linke beschäftigt hat – vielleicht nicht zufällig zur gleichen Zeit, in der Konzepte der Wirtschaftsdemokratie intensiv diskutiert wurden und in der der Kampf um betriebliche Mitbestimmung seine Hochblüte hatte. Damals fanden Experimente statt, mit Gruppenarbeit die Monotonie des Fliessbands zu überwinden. Jedes Team konnte seine Arbeitsrollen und die Arbeitszeit frei einteilen und hatte einen Pausenraum und eine Sauna. Was an die heutigen Rutschbahnen und Gratiscafeterias in Google-Büros erinnert, hatte auch im industriellen Umfeld Erfolg: In den Volvo-Musterfabriken Uddevalla und Kalmar stieg die Fertigungsgeschwindigkeit um ein Drittel, die Qualität gar um 40 Prozent.

 

In den 1990er Jahren dann wurde die postfordistische Arbeitsweise zur verbreiteten Antwort gegen die Stagnation des Wachstums, welche durch die Eroberung neuer Märkte und eine immer raschere Erneuerung der Produktepalette überwunden werden sollte. Die Starrheit fordistischer Produktionsmethoden wurde mit dem «Toyota-System» aufgebrochen: Es postulierte, «dass ein hohes Mass an Selbstverwaltung des Produktionsverlaufs durch die Arbeiter unverzichtbar ist, um in der technischen Entwicklung in der Anpassung der Produktion an die Nachfrage ein Maximum an Flexibilität, Produktivität und Schnelligkeit zu erreichen.» Dies hatte laut André Gorz quasi kulturrevolutionäre Folgen: Hatte das Kapital bisher die Selbstorganisation der Arbeitenden als Quelle aller Gefahren und Rebellion bekämpft, stellt diese nun zusammen mit Erfindungsgabe und Kreativität eine neu auszubeutende Ressource dar. Produktive Kolonialisierung statt unterdrückende Beherrschung des Lebendigen. Gerade orthodoxe MarxistInnen wendeten sich deshalb immer wieder explizit gegen postfordistische Arbeitsmodelle, welche die Arbeit selbstbestimmter mach(t)en. Ihre Kritik: der höhere Grad an Flexibilisierung und Selbstorganisation führt zu einer Entsolidarisierung unter den ArbeiterInnen, die sich nicht länger als Teil des Proletariats verstehen, sondern motiviert sind, «unternehmerisch zu denken». Von hier ist es dann ein kleiner Schritt, die Selbst-Unternehmerin gar nicht mehr anzustellen, sondern sie als Selbstständige/n den gleichen Job machen zu lassen, ohne Infrastruktur- und Sozialversicherungskosten.

 

 

Im Eiltempo in die Zukunft
«Wir sind die 99 Prozent» skandierte die Occupy-Bewegung nach dem grossen Crash von 2007/8. Ihr Kampf gegen die grössten Profiteure des alten Finanz- und des neuen Technokapitalismus war nicht falsch. Die Gewinne der Big Data-Monopolisten sind heute der wesentliche Faktor für die Zunahme der Ungleichheit. Allerdings konnte die reine Freund-Feind-Konstellation, für die auch die französische Philosophin Chantal Mouffe in ihrem Pläydoyer für einen linken Populismus eintritt, nicht übertünchen, dass die 99 Prozent äusserst heterogen sind: Managerinnen und Taxi-Fahrer, Putzfrauen und Professoren, Schwarze und Weisse, Frauen und Männer und Menschen dazwischen, erste und dritte Welt. Von der Finanzkrise profitierten denn, wie einige Studien festgestellt haben, statt der Linken rechtsnationalistische Bewegungen. Eine vereinzelte Gesellschaft ist nicht so einfach solidarisierbar, zumal sich die klassische Vorstellung von Solidarität immer auf Gruppen mit grösseren Gemeinsamkeiten bezieht und nicht auf Individuen, die wenig verbindet, ausser dass sie eben nicht zu den 1 Prozent Superreichen gehören. Und so lassen sich ein Teil der 99 Prozent nationalistisch tribalisieren, weil Solidarität heute von vielen primär nationalstaatlich verstanden wird. Es ist zudem so, dass die nationalistische Rechte ein klares Projekt aufweist, ein Gegenprojekt zur Modernisierung, das vor allem identitär ausgerichtet ist. Ziel ist eine Rückkehr zu Zeiten, als die Welt scheinbar noch in Ordnung war, weil die Frau noch am Herd und der Ausländer im Ausland war.

 

Mason plädiert daher dafür, ein eigenes linkes, zukunftsorientiertes Projekt zu definieren: «Fastforward to the future». Im Eiltempo in die Zukunft also. Das heisst für ihn, dass Arbeit von der Entlöhnung entkoppelt wird und dass Hierarchien durch die neuen Kommunikationstechnologien nicht nur verflacht, sondern auch demokratisiert werden können. Wirtschaftsdemokratie 2.0 gewissermassen.

 

Als die SP Schweiz 2016 ihr Positionspapier zur Wirtschaftsdemokratie veröffentlichte, wurde sie medial verlacht: Das sei ein Konzept aus der Mottenkiste. Dabei hatten Elemente der Wirtschaftsdemokratie im Schatten der neoliberalen Globalisierung durchaus weitergelebt. In der Genossenschaftsbewegung und in der Gemeinwesensökonomie, in der Welle der selbstverwalteten Betriebe in den 1980er und heute bei der Renaissance der Wohnbaugenossenschaften in den Städten, die heute nicht nur günstigen Wohnraum, sondern partizipativ gestaltete Lebens- und Arbeitszusammenhänge schaffen wollen. Aber auch in der IT-Branche experimentiert eine Reihe von erfolgreichen Unternehmen heute mit Modellen, welche die Mitbestimmung stärken. Die Schweizer IT-Firma Liip mit über hundert Mitarbeitenden an vier Standorten setzt auf «Holacracy». Bei der Schweizer IT-Firma Umantis hat es zwar noch Chefs und Chefinnen, diese werden aber demokratisch von den Mitarbeitenden gewählt (vgl. Siedenberg, 2017). Die Wahl findet jährlich statt, ebenso eine Abstimmung über die Unternehmensziele.

 

So entstehen praktische Übungsfelder für eine Gemeinwesenökonomie, welche die ökonomischen Handlungsvollzüge wieder in den gesellschaftlichen Zusammenhang, dem sie dienen, einbetten. Sie ist damit menschen- und naturgerechtere Ökonomie, die auch andere Organisations- und Gesellschaftsformen benötigt. Dabei schöpft sie aus der Tradition der Allmende, der gemeinsamen Bewirtschaftung öffentlicher und gemeinsamer Güter. Im Zeitalter der Digitalisierung kann und muss das Konzept der Commons auf digitale Güter ausgedehnt werden.

 

Kolonialisierung durch den Überwachungs-Kapitalismus
Im Zuge der Digitalisierung erleben wir die Entstehung globaler Plattform-Monopole und eine sich zuspitzende Ausbeutung des Lebendigen: nicht nur der Natur, sondern auch der individuellen Kreativität und des gesellschaftlichen Reichtums. Dies geschieht nicht durch Unterdrückung, sondern durch eine produktive Kolonialisierung und möglichst umfassende Inwertsetzung. Die Wissensgesellschaft hat in sich aber gleichzeitig das Potenzial, nicht nur eine partizipative Ökonomie technisch wirkungsvoll zu unterstützen, sondern auch eine Gemeinwesensökonomie Wirklichkeit werden zu lassen, welche den Wert des gesellschaftlichen Wissens allen zugänglich macht und gleichzeitig Orte der freien Zusammenarbeit und damit Grundlagen neuer Solidarbeziehungen schafft. Grundlage dafür könnte sein, dass wir im Rahmen eines modernen Datenschutzes ein Recht auf Kopie erstreiten, das es ermöglicht, die Fülle der Daten in Datengenossenschaften gemeinsam zu verwalten und für die ganze Gesellschaft nutzbar zu machen.
Der Gegensatz von privat und öffentlich rückt dabei ins Zentrum: Entweder schaffen wir eine demokratisierte Wirtschaft der gesellschaftlichen Fülle, in der wir als BürgerIn und Mensch nicht nur über die Organisationsform, sondern auch über die Ziele des Wirtschaftens mitentscheiden. Oder aber wir liefern uns weiterhin und zunehmend stärker als KonsumentInnen dem Überwachungskapitalismus der Big-Data-Monopole aus mit seinen privatisierten Allmenden der Plattformökonomie und dem Hunger, das ganze Leben zu kolonialisieren – oder dem staatlichen Ebenbild mit autoritär wirksamen Punktesystemen chinesischen Zuschnitts.

 

Reclaim Democracy», herausgegeben von Ruth Daellenbach, Beat Ringger und Pascal Zwicky vom Denknetz, versammelt Beiträge die im Rahmen des Kongresses Reclaim Democracy entstanden sind und zahlreiche neue Texte. Erschienen im Verlag Edition 8, für Denknetz-Mitglieder gratis.

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