48 Fälle im ersten Jahr

Die Fachstelle Extremismus und Gewaltprävention der Stadt Winterthur gibt es seit einem Jahr. Ihr Leiter Urs Allemann und Sozialvorsteher Nicolas Galladé ziehen eine positive erste Bilanz.

 

Mit trockenem Humor bemerkte der Winterthurer Sozialvorsteher Nicolas Galladé am letzten Freitag, es seien «alle Plätze ausverkauft, wir können anfangen». Tatsächlich war die Medienkonferenz zum Thema «Ein Jahr Fachstelle Extremismus und Gewaltprävention FSEG» gut besucht: Auch wenn «die Winterthurer Jihadisten» nicht mehr regelmässig in allen Medien präsent sind, stösst das Thema nach wie vor auf grosses Interesse.

 

Stadtrat Galladé seinerseits betonte gleich zu Beginn, es sei unabdingbar, dass alle betroffenen Akteure wie Polizei, Staatsanwaltschaft, Sozialarbeit, Schule etc. zusammenarbeiteten: «Extremismus- und Gewaltprävention ist eine interdisziplinäre Angelegenheit.» Das Winterthurer Präventionsmodell sieht zum einen «universelle Prävention» vor, die sich ohne Berücksichtigung eines spezifischen Risikos an die Gesamtbevölkerung richtet und in der Schule oder via Sozialarbeit vonstatten geht. Zum andern ist selektive Prävention bei risikogefährdeten Individuen und Gruppen ein Thema.

 

Als dritte Säule des Modells erfolgt die indizierte Prävention beziehungsweise Intervention bei gefährdenden Individuen und Gruppen. In diesem Bereich liege auch die «rote Linie, die den Wechsel der Zuständigkeit abbildet», führte Galladé aus: Bei hohem Gefährdungspotenzial wird aus einem Fall für die Prävention ein Fall für die Polizei und/oder die Justiz.

 

«Beispielhaftes» Winterthurer Modell

Legal und damit auf der «Präventionsseite» der roten Linie angesiedelt sind Ideologien, radikale Gedanken oder auch Verstösse gegen ungeschriebene Normen und Gesetze. Illegal hingegen sind Drohungen, Gewalt, die Unterstützung terroristischer Organisationen sowie Verstösse gegen Gesetze.

 

Was die aktuellen Entwicklungen auf übergeordneter Ebene betrifft, so ergeben diese ein uneinheitliches Bild: Zwar ist die Ausreisewelle aus Europa in den vom IS geführten Jihad verebbt. «Das Kalifat hat an Attraktivität verloren», stellte Galladé fest. Dennoch bricht die Attentatsserie in Europa nicht ab, französische, deutsche, britische und auch spanische Ziele geraten in den Fokus gewalttätiger Islamisten. Zudem treten vermehrt Einzeltäter in Erscheinung, die mit Alltagsgegenständen bewaffnet sind – vom Küchenmesser bis zum Lastwagen.

 

Der Sozialvorsteher zog sodann eine positive Bilanz nach dem ersten Jahr FSEG: Winterthur sei eine der ersten Städte, die Mittel für die Radikalismusprävention gesprochen habe, und sie sei heute «gut aufgestellt». Die Zuständigkeiten innerhalb der Stadt seien geklärt, ein «tragfähiges städtisches Netzwerk» erleichtere die interdisziplinäre Zusammenarbeit, die FSEG werde lokal, national und sogar international als Expertin für Prävention beigezogen, kurz: «Das Winterthurer Modell wird in Fachkreisen als beispielhaft beurteilt».

 

«Jeder Fall ist individuell»

Fachstellenleiter Urs Allemann benannte die hauptsächlichen Aktivitäten der Stelle: Vernetzung, Wissensvermittlung, Beratung. Im ersten Jahr gab es 15 Vernetzungstreffen bzw. -veranstaltungen, 38 Referate und ähnliches sowie 48 Beratungen. Auch Allemann betonte, dass die FSEG alles andere als im luftleeren Raum operiert. Vielmehr bildet sie zusammen mit der Fachstelle Integration und dem Brückenbauer der Stadtpolizei die Kerngruppe innerhalb des Netzwerks Extremismus und Gewaltprävention, zu dem ein ganzer Strauss an Fachstellen, Angeboten etc. gehört, von der Schulsozialarbeit über Prävention und Suchthilfe, Kinder- und Jugendbeauftragte, AusländerInnenbeirat und Schulleitungskonferenz bis zur Jugendintervention der Kantonspolizei und zur Jugendanwaltschaft.

 

Im ersten Jahr hat die FSEG 48 Beratungen durchgeführt, 17 davon in den ersten drei Monaten. Drei dieser 48 Beratungen führten zum Einbezug weiterer Akteure wie Polizei oder Staatsanwaltschaft, da es sich herausstellte, dass die rote Linie überschritten worden war. Als Fachstellenleiter arbeitet Allemann denn auch eng mit dem Brückenbauer der Stadtpolizei und dem Leiter der Fachstelle Integration zusammen. Grundsätzlich sei aber sowieso «jeder Fall individuell».

 

Mit der Fachstelle chatten

Besonders stolz ist Allemann auf ein neues Angebot, das in die bestehende Jugend-App Winterthur integriert wurde: einen anonymen Chat für Radikalisierungsfragen. Hier können Jugendliche anonym mit der Fachstelle chatten, etwa wenn sie sich Sorgen um ein ‹Gspänli› machen – aber natürlich auch in harmloseren Fällen wie dem, dass eine Jugendliche eine Arbeit über Islamismus schreiben muss und nicht weiss, wo sie anfangen soll…

 

Allemann erwähnte auch noch den «Leitfaden Radikalismus», den die FSEG im Auftrag der Zentralschulpflege entwickelt hat. Damit sollen Schulleitungen, Lehrerinnen und Schulsozialarbeiter für Anzeichen von Radikalismus im schulischen Umfeld sensibilisiert werden.

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