40 Jahre – und frisch bewegt

40 Jahre ‹Widerspruch›! Dieser Erfolg wird diskret gefeiert. 1981 wurde noch von überraschenden Jugendunruhen mitgeprägt. Es war an der Zeit, über die «Krise der Parteien» und Perspektiven sozialistischer Politik zu diskutieren. Schwerpunktthema des aktuellen Heftes ist eine neue Jugend in neuen Krisen und neuen Bewegungen; zum Klimastreiktag am 21. Mai wird Klartext des Jahrgangs 2000 geliefert.

 

Hans Steiger

Natürlich suchte ich als Altleser zuerst die bescheiden weit hinten platzierte, mit «Wir feiern» überschriebene Notiz zum 40. Jahrgang und den von Urs Sekinger verfassten Beitrag zum «schwierigen Start in bewegten Zeiten». Der über drei Jahrzehnte im Team der ‹Widerspruch›-Redaktion tätige Ethnologe skizziert das damalige Umfeld. Da «lag etwas in der Luft». In einer für die Linke politisch prekären Phase brachten neue soziale Bewegungen «parteiunabhängig» Themen wie die Geschlechtergerechtigkeit oder den Umweltschutz ins Spiel «und in der Jugendbewegung trat der Frust über die herrschenden Strukturen mit einer unerwarteten Eruption zutage». Es gab zwar Publikationen linker Gruppierungen, aber wenig fundiert kritische und offene Diskussion. Dafür sollte Raum geschaffen werden. Die in der ersten Ausgabe als Haupttitel gesetzte «Krise der Parteien» war primär auf die klassisch kommunistische Partei der Arbeit gemünzt; prompt kam es dort zu Ausschlussverfahren. Doch das ist nun wirklich eine alte Geschichte …

 

Lage und Frust heutiger Jugend …

Kernthema des Hefts ist die Lage der heutigen Jugend. Die ersten sechs Beiträge kreisen um Schule, Ausbildung und Studium. Kamen die 2004 mit dem neuen Verfassungsartikel beschlossenen Bildungsreformen voran? Wurden die Versprechen eines «inte­grativen» Unterrichts eingelöst? Wie könnten Schulleitungen und Lehrpersonen angesichts vieler «systemimmanenter Widersprüche» vorhandene Spielräume nutzen und vergrössern? Paola De Martin, in Zürich als Dozentin für Designgeschichte und Interkulturalität tätig, führt mit Einbezug persönlicher Erfahrungen als Seconda exemplarisch vor, wie rasch selbst kritische Kreative beim Befeuern neuer Konsummoden in Komplizenschaften mit dem neoliberalen Kapitalismus geraten. «Man kann im Grunde genommen nicht wollen, was man da tut, auch wenn es cool aussieht.» Warum dann weitermachen? Freiheiten der Kunst wären zu nutzen, um «Dinge einfach anders richtig zu machen», Veränderungen anzustossen. Nach ihr fragt ein Professor für Pädagogische Psychologie genereller, wie «Jugend und Einschränkung» zusammenpassen, ein Psychoanalytiker hält fest, das Jugendalter kenne keine Grenzen.

 

… und wie sie das Klima bewegt

Dann quasi Jugend im O-Ton: Milena Hess, Jahrgang 2000, Studentin, Klimaaktivistin. Knapp und klar fasst sie mit Blick auf den Streiktag vom 21. Mai zusammen, was für die Parole spricht, welche sie als Überschrift wählte: «System Change Not Climate Change». Die fünf Jahre seit dem Pariser Abkommen hätten gezeigt, dass die institutionelle Politik in den allermeisten Ländern, darunter die Schweiz, nicht fähig war, die notwendigen Schritte einzuleiten. «Denn die Klimakrise ist nicht einfach ein lästiger Fehler im Status quo – der Status quo ist die Ursache der Krise.» Die von Parteien gern beschworene Realpolitik habe mit der Realität der Klimakrise wenig zu tun; das vorliegende CO2-Gesetz genüge bei Weitem nicht. Darum ziele die globale Klimagerechtigkeitsbewegung auf einen weit grundlegenderen gesellschaftlichen Wandel. Das aktuelle wachstumsorientierte System sei nicht alternativlos. Häufig höre sie in Gesprächen, wir Menschen «seien einfach gierig und könnten nicht anders, als die Welt zu zerstören». Andere setzen auf nichtexistente, technische Wunderlösungen, dank denen dann «schon irgendwie alles gut kommt». Sie jedoch wünschte sich, dass wir die Lage aus vielfältigen Blickwinkeln analysieren und dann Richtungen skizzieren, in die wir uns bewegen könnten.

Der von den Klimastreik-Gruppen vorgelegte Aktionsplan sieht schon 2030 «netto null» für die Schweiz vor. Er sei «noch lange nicht perfekt», entspreche aber den Forderungen der Klimawissenschaften. Nach der Besetzung des Bundesplatzes im September 2020 sei der Klimajugend vorgeworfen worden, Wunschziele totalitär diktieren zu wollen. «Als wären Protest und Kritik gegenüber der institutionellen Politik automatisch antidemokratisch. Ein seltsamer Kurzschluss.» Sie wollten im Gegenteil «mehr Demokratie». Alle wären in den Prozess einzubeziehen, denn es geht um Strukturen, in denen wir zusammenleben und die wir nur gemeinsam ändern können. «Die ganze Gesellschaft muss sich bewegen, mitdenken und mitgestalten, um diese Krise zu bewältigen.» Die nun dezen­tral angelegten Streikaktionen sollen dies verdeutlichen. «Angesichts  der vielen zusammenhängenden Krisen fällt es schwer, nicht zu verzweifeln», räumt Hess ein. Und trotzdem: «Wer hätte vor zwei Jahren erwartet, dass sich eine riesige, basisdemokratische Klimabewegung wie ein Lauffeuer über den Planeten verbreiten würde?»

 

Gern noch mehr frische Radikalität

Später kommen wieder Ältere zu Wort, die kompetent über Jugendkulturen, das Potenzial auch anderer Protestbewegungen für den sozialen Wandel oder – am Beispiel des neuen Wohlfahrtsbudgets von Neuseeland – über mögliche Massnahmen «für das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen» schreiben. Alles durchaus interessant. Doch die Jüngste der Runde weckt bei mir den Wunsch, dass die Erneuerung im ‹Widerspruch› weitergeht, der optischen Auffrischung der Hefte mehr neue Stimmen folgen. Es stand ja schon im Editorial zum Themenschwerpunkt: «Junge Menschen werden in unseren Breitengraden oft für ihre Radikalität belächelt. Es fragt sich jedoch, wie lange noch. Denn es wird immer offensichtlicher, dass eine Politik, die angemessen auf krisenhafte und prekäre Realitäten reagieren will, vermeintlich Unmögliches einfordern muss.» Das gilt es gerade heute zu betonen, auch wenn der technikfixierte Rudolf Strahm die Klimastreikenden in der Tamedia-Presse hämisch als «Selbsterweckungsbewegung» geisselt.

 

Jugend – aufbrechen, scheitern, weitergehen. Widerspruch, Heft 76. Beiträge zu sozialistischer Politik. Rotpunktverlag, Zürich 2021, 200 Seiten, 25 Franken.

 

www.strikeforfuture.ch

 

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