Der «Kreidefelsen auf Rügen» in neuem Licht im Kunst Museum Winterthur I Reinhart am Stadtgarten. (Bild: zvg/Reto Kaufmann)

22 Jahre von der Vision zur Realität

«Einleuchten»: Unter diesem Titel steht die neueste Ausstellung im Kunst Museum Winterthur / Reinhart am Stadtgarten, wie der offizielle Name lautet. Mit der Eröffnung ist eine Vision Realität geworden, die der damalige Winterthurer Stadtpräsident Ernst Wohlwend (SP) vor 22 Jahren erstmals lancierte: eine neue, gemeinsame Trägerschaft für die Winterthurer Kunstmuseen. Matthias Erzinger hat die Geschichte für das P.S. aufgezeichnet.

Nur wenige Schritte vom Bahnhof Winterthur steht das stattliche Gebäude an der Stadthausstrasse: Gebaut als Schulhaus, diente es bis vor dem Zweiten Weltkrieg auch als Arbeitsamt. Seither beherbergt es Bilder von Weltruf aus der Sammlertätigkeit von Oskar Reinhart. Heute Freitagabend wird darin die Ausstellung «Einleuchten» eröffnet und damit auch die umfassende Sanierung von Eingangsbereich und Ausstellungsräumen gefeiert. Der «Kreidefelsen auf Rügen» von Caspar David Friedrich wird in neuem Licht präsentiert. Neu bildet das Museum einen Teil des Kunst Museum Winterthur, das nun an drei Standorten je mit hochkarätigen Ausstellungen Besucher:innen anlockt. Um das Jahr 2000 war dies anders: Fünf verschiedene Institutionen verwalteten je ihre Sammlungen und kämpften mit der ständigen Abnahme der Besucherzahl. Die Stiftungsvermögen gingen teilweise dem Ende entgegen. Heute können die Museen neu organisiert mit wesentlich grösseren Mitteln und sanierten Ausstellungsräumen den Bildern von Weltruf einen entsprechenden Rahmen bieten. Der Weg dazu war steinig. 

2003: Wohlwends Weckruf

Im Frühjahr 2003 plädiert der damalige Stadtpräsident Ernst Wohlwend (SP) erstmals öffentlich für eine engere Zusammenarbeit der verschiedenen Museen Kunstmuseum, Sammlung Oskar Reinhart, Villa Flora sowie der Sammlungen Briner und Kern. Sein Weckruf rüttelte die etwas verschlafenen Museen und ihre ehrenamtlichen Trägerschaften auf. 2005 beauftragen Wohlwend und der damalige Leiter des Amtes für Kultur, Walter Büchi, den ehemaligen Direktor des Bundesamtes für Kultur, David Streiff und Daniel Arnet aus der Winterthurer Stadtverwaltung mit einem Bericht über die Zukunft der Winterthurer Kunstmuseen. Im Juli 2007 präsentieren David Streiff und Daniel Arnet einen ersten Bericht, wie Winterthurs Kunstmuseen effizienter organisiert werden könnten. Der Bericht geht in eine erste Vernehmlassung. Es hagelt Kritik. Nicht nur die Fusion der Museen ist umstritten. «Freunde des Museums Oskar Reinhart» üben Kritik an der geplanten Liberalisierung der Hängung der Gemälde. Diese sollen so im Gebäude präsentiert bleiben, wie sie einst der Sammler aufgehängt hat. Die «Museumsfreunde» stellen sich quer und blockieren die Arbeit mit juristischen Mitteln. Streiff und Arnet überarbeiten ihren Bericht.

2009: Das erste «Museumskonzept»

2009 wird ein erstes Konzept durch den Stadtrat verabschiedet. Es sieht die Fusion von Kunstmuseum, Museum Oskar Reinhart, der Sammlung Hahnloser in der Villa Flora sowie der Sammlungen Briner und Kern unter dem Dach des Kunstvereins vor. 2010 richtet Winterthur ein erstes Gesuch an den Kanton für die Weiterführung des Museumsbetriebs der Villa Flora und einen Deckungsbeitrag an den Nachhol- und Entwicklungsbedarf des Kunstmuseums. Der Kanton stellt substanzielle Beiträge in Aussicht, stellt aber Bedingungen, bevor er inhaltlich auf das Gesuch eintritt. Im Januar 2012 stellt die Stadt ein zweites, überarbeitetes Gesuch an den Kanton. Ernst Wohlwend tritt als Stadtpräsident zurück. Sein Nachfolger wird Michael Künzle. Die Stadt führt einen Wettbewerb zur Sanierung und Erweiterung der Villa Flora durch. Ende Jahr überweist der Regierungsrat den Antrag für den Erwerb und einen Beitrag an den Umbau der Villa Flora an den Kantonsrat.

2013: Der Rückzug

Im Frühling 2013 beantragt der Stadtrat dem Parlament zuhanden der Volksabstimmung, den Umbau der Villa Flora mitzufinanzieren und den Subventionsbeitrag an den Kunstverein deutlich zu erhöhen. Gleichzeitig beginnt in Winterthur das grosse Sparen. Im Sommer sistiert der Stadtrat seinen Flora-Antrag an den Gemeinderat und damit die Umsetzung der Fusion der Museen. Trotzdem bewilligt der Kantonsrat Ende Jahr den Kauf der Villa Flora sowie einen Beitrag an deren Umbau. Gleichzeitig schlägt der neue Direktor des Museums Oskar Reinhart Alarm: Der Stiftung gehe das Geld aus. Die Katze beisst sich in den Schwanz: Winterthur hat und kann keine zusätzlichen Finanzmittel bereitstellen, der Kanton verlangt von Winterthur Vorleistungen. So schliesst im Frühjahr 2014 die Villa Flora bis auf weiteres. (Randbemerkung: Im Februar 2015 öffnet in Hamburg eine Ausstellung mit Werken aus der Flora. Innert fünf Wochen werden über 30 000 Besucher gezählt. In Winterthur waren es jeweils halb so viele – in zwölf Monaten notabene.)

Im Sommer 2014 erhält Jean-Pierre Hoby, der frühere Zürcher Kulturchef, den Auftrag, das Museums-Konzept und die darin verankerte «Drei-Häuser-Strategie» zu überprüfen. Er schlägt einen Verzicht auf die Villa Flora als Ausstellungsort vor. Die Sammlungen Briner/Kern werden geschlossen. Im Januar 2015 unterstützt eine vom Stadtrat eingesetzte Arbeitsgruppe die «Zwei-Häuser-Strategie». Nun formiert sich aber Widerstand im Parlament und aus Kulturkreisen. Am 27. März 2015 genehmigt die Eidgenössische Stiftungsaufsicht die Statutenänderung fürs Museum Oskar Reinhart: Neue Hängungen sind möglich. Im Sommer bewilligt der Stadtrat einen Überbrückungsbeitrag an die Stiftung Oskar Reinhart. In Zürich wird Jacqueline Fehr (SP) Vorsteherin der Direktion des Innern und damit kantonale Kulturchefin. Für sie ist klar, dass der Kanton der Stadt Winterthur entgegenkommen soll: «Winterthur erhielt viel weniger Mittel für den Kulturbereich, weil es nicht Kantonshauptstadt ist. Fehr plädiert für eine stärkere Dezentralisierung der kulturellen Angebote. Es gelingt ihr, den Regierungsrat zu überzeugen, bezüglich der Winterthurer Museen eine Vorleistung zu erbringen. Daraufhin kehrt auch in Winterthur der Wind: Stadtpräsident Michael Künzle stellt eine neue Fassung des Museumskonzeptes vor, die wieder die Drei-Häuser-Strategie favorisiert. Es erfolgt die Kreditbewilligung für den Umbau im Erdgeschoss des Museums Oskar Reinhart, um dort die Sammlungen Briner und Kern einzurichten.

Der Winterthurer Stadtpräsident Michael Künzle (Mitte) hält fest, dass er persönlich nie für eine «Zwei-Häuser-Strategie» eingetreten ist, sondern sich auch nach dem Rückzug der Vorlage 2013 für eine «Drei-Häuser-Strategie» ausgesprochen und sich dafür eingesetzt hat.

Ab 2016: Die Umsetzung

2016 können die Briner-Säle im Museum Oskar Reinhart eröffnet werden. 2017 genehmigt das Stadtparlament die neue Fassung des «Museumskonzepts» und die notwendigen Kredite. Mit dem Kunstverein wird ein neuer Subventionsvertrag abgeschlossen, in dem er unter anderem dazu verpflichtet wird, die Trägerschaft und den Betrieb für das Kunstmuseum, das Museum Oskar Reinhart und die Villa Flora zu übernehmen. Die Fusion geht einher mit einem neuen Auftritt und einer Namensänderung. Ab 2018 wird dann der Umbau des Eingangsbereichs des Kunst Museum Winterthur/Reinhart am Stadtgarten geplant und eingeleitet, 2021 bis 2023 wird die Villa Flora saniert und umgebaut und der Bau an der Stadthausstrasse erhält einen neuen Eingangsbereich. Am 26. Januar 2024 wird die umgebaute Villa Flora eingeweiht und dem Kunstverein zur Nutzung übergeben. Am 24. November 2024 genehmigen die Stimmberechtigten der Stadt Winterthur die Übertragung des Personals der Museen von der Stadt zum Kunstverein mit grosser Mehrheit. Damit ist das Museumskonzept formal umgesetzt. Das «Einleuchten» kann beginnen.

Öffentliche Vernissage «Einleuchten»: Freitag, 28. Februar 2025, Kunstmuseum Winterthur – Reinhardt am Stadtgarten, 18.30 Uhr.

Quellen: Diverse Medienartikel, insbesondere aus dem ‹Landboten› und ‹Tages-Anzeiger›. Projektunterlagen des Winterthurer Stadtrates: Kulturleitbild der Stadt Winterthur und Museumskonzept der Stadt Winterthur inkl. Anträge zuhanden des Stadtparlamentes.

Der Initiant: Ernst Wohlwend

«Als ich 2003 die Initiative für eine Neuorganisation der Winterthurer Kunstmuseen ergriff, war ich mir bewusst, dass ich damit auf Widerstände stossen würde. Das Ausmass allerdings hat mich überrascht. Klar war mir und meinen Mitarbeiter:innen, dass ein Weiterwursteln keine Zukunft hat. Insbesondere das Museum Oskar Reinhart drohte schlicht Konkurs zu gehen. Die verstaubte, ewig gleiche Ausstellung lockte immer weniger Besuchende an.» Als Stadtpräsident sitzt Wohlwend in den verschiedenen Vereinsvorständen, welche die Museen ehrenamtlich führen. «Der Aufwand war gewaltig, die Wirkung minimal», zieht er heute als Fazit. Als grundsätzlich etwas ungeduldiger Mensch ging ihm vieles zu langsam. Wohlwend führte viele Gespräche hinter den Kulissen, insbesondere mit Mitgliedern der Kantonsregierung. «Da stiess ich grundsätzlich auf offene Ohren, aber von allen Seiten wurde mir klargemacht, dass der Kanton die Museen in der jetzigen Konstellation nicht zusätzlich unterstützen werde. Aber Markus Notter und später Jacqueline Fehr haben die Grundidee unterstützt.» Zeitweise zog sich Wohlwend etwas aus den Diskussionen zurück, speziell mit den «Freunden des Museums Reinhardt». Als sich mit diesen kurz vor seinem Rücktritt eine Einigung abzeichnet, ist er der Meinung, die grössten Widerstände ausgeräumt zu haben.
«Als dann 2013 die fixfertige Vorlage durch den Stadtrat zurückgezogen wurde, war ich sehr enttäuscht.» Die finanziellen Verhältnisse Winterthurs seien schon damals zu negativ dargestellt worden. Vor allem, dass nun plötzlich wieder eine Kursänderung eingeläutet und aus Spargründen auf die Villa Flora als Ausstellungsort verzichtet werden sollte, war für ihn unverständlich. Besonders enttäuschend war für ihn, dass sich auch die SP anstecken liess und dafür plädierte, die Villa Flora zu schliessen. Zusammen mit Jacqueline Fehr setzte er sich weiter für die Drei-Häuser-Lösung ein – und konnte auch seine Partei überzeugen. «Schliesslich war auch der Stadtrat unter Michael Künzle dann einsichtig, und so ist die Neuorganisation jetzt realisiert, über 20 Jahre nachdem das Projekt lanciert wurde. Ich bin gespannt, ob es dem Kunstverein gelingt, auch inhaltlich mit neuen Ideen ein Zeichen zu setzen.»

Die Projektleiterin: Nicole Kurmann

«Der Streit. Dass man so leidenschaftlich über Sein oder Nicht-Sein von Museen streiten kann. Das habe ich sonst nicht einmal bei den Sparbeschlüssen der Stadt zur Kultur  erlebt. Und andererseits das unendlich grosse ehrenamtliche Engagement in den Vereinsvorständen. Das wird mir speziell in Erinnerung bleiben.» Das sagt Nicole Kurmann, von 2007 bis im Frühjahr 2023 Leiterin des Amtes für Kultur der Stadt und seither Leiterin für Spezialprojekte, auf Erinnerungen angesprochen. «Persönliche Anfeindungen gab es auch vor Social Media. Im Zusammenhang mit dem Museumskonzept wurde teilweise mit harten Bandagen gekämpft. Umso schöner, ist es uns letztlich trotzdem gelungen, die Museumslandschaft in Winterthur zukunftsfähig neu zu gestalten und aufzustellen.»
2007 trifft sie auf eine Stadt im Umbruch. Gerade auch im Kulturbereich. «Manchmal fühlte ich mich umzingelt von den Ansprüchen und Problemen, sodass ich alles etwas sortieren und priorisieren musste.» Kurz nach ihrem Amtsantritt präsentieren David Streiff und Daniel Arnet einen ersten Bericht zu den Winterthurer Museen. Und lösen damit einen emotionalen Taifun in Winterthur aus.
«Die schwierigste Phase aus meiner Sicht war aber die Zeit nach dem Rücktritt von Ernst Wohlwend. Die Umsetzung der Museumsfusionierung wird aus Spargründen ausgesetzt. Gleichzeitig setzte der Kanton Winterthur unter Druck. Ich versuchte, hinter den Kulissen in vielen Gesprächen die Widerstände Schritt um Schritt aufzulösen. Dies mündete dann in den Vorgehensvorschlag von 2015, der dann auch vom Stadtrat wieder genehmigt und seither Schritt um Schritt umgesetzt wurde. Nun ist das Kunst Museum Winterthur definitiv neu aufgestellt und steht jetzt in der Verantwortung, die neuen Möglichkeiten inhaltlich mit dem Ausstellungsprogramm auszunutzen.»

Der Journalist: Martin Gmür

«Ich bin grundsätzlich gegenüber grossen Konzepten skeptisch. Wenn Strukturen statt Inhalte die Diskussion bestimmen, werde ich misstrauisch. Aber sicher musste bei den Winterthurer Museen etwas geschehen, besonders beim Museum Oskar Reinhart. Das war verstaubt. Kein Wunder. Die Leute wollen doch nicht die immer gleiche Ausstellung anschauen. Ich konnte daher den Widerstand der «Freunde des Museums Reinhart» nie verstehen, die sich mit allen Mitteln gegen Neuerungen gewehrt haben.»
Gmür war nicht der einzige ‹Landbote›-Journalist, der das Museumskonzept begleitete. Aber er schrieb immer wieder, speziell zum Museum am Stadtgarten. «Das kommt auch aus meiner Geschichte: Mein Grossvater war Privatchauffeur von Oskar Reinhart und so war ich auch als Kind öfters da.» Gmür hat auch die Geschichte des Hauses aufgearbeitet. «Wir müssen uns vorstellen: 1939, also unmittelbar vor dem Weltkrieg, haben die Winterthurer Stimmberechtigten (damals nur die Männer) darüber abgestimmt, ob das Gebäude zum Museum umgebaut werden soll. Beantragt war ein Kredit von 1,3 Millionen Franken, das war damals ein Fünftel aller jährlichen Steuereinnahmen. Und für 23 000 Franken konnte man in Oberwinterthur ein Einfamilienhaus kaufen. Sogar die Linke war dafür. 8784 Ja gegen 5084 Nein war das klare Resultat. Man stelle sich mal einen vergleichbaren Antrag heute vor … Durch den Krieg wurde der Umbau verzögert, aber 1951 konnte das Museum eingeweiht werden. Das war damals ein grosser Wurf. Umso unverständlicher war dann der kleinkrämerische Widerstand. Ohne die Neuorganisation gäbe es das Museum am Stadtgarten heute nicht mehr.»
Skeptisch ist Martin Gmür aber auch heute noch gegenüber der inhaltlichen Ausrichtung. «Die neue Trägerschaft muss jetzt auch spannende Ausstellungen organisieren, sonst hilft das ganze Geld von aussen auch nicht viel.»