«2 Millionen Homosexuelle geheilt»

Die Filmauswahl der 25. Ausgabe des queeren Filmfestivals «PinkApple» zwang sein Publikum zur selbstkritischen Reflektion, ermahnte es zu Geschichtsbewusstsein und verführte es zum schwelgerischen Träumen.

 

Was für ein virtuoses Kunststück! Mohammad Shawky Hassan verknüpft in «Shall I Compare You To A Summer’s Day» alle zeitgleich existierenden, einander teils zuwiderlaufenden Gedanken und Gefühle zu einem Strang, der letztlich nicht weniger als das Wesen einer gelebten amourösen Verbindung darstellt. Tiefschürfender Hintersinn und lachhafte Albernheit, Intellekt und Intuition, wolllüstiger Eros und zaghafte Vorsicht, grösstmögliche Freiheit und der Wunsch nach Verschmelzung. Der Rahmen bildet ein Duett aus orientalischer Liebesbeschreibung und dem titelgebenden Sonett von Shakespeare, die in ihrer jeweiligen Eigenart ihrer schwülstig romantischen Tragik in einen Koketteriebewerb treten. Beider Ziel ist die märchenhafte Verzückung. Darin eingebettet, erzählen kernige wie effiminierte Männer von offen gelebten Partnerschaften, die jede auf einzigartige Weise offen ist. Die Dramaturgie folgt der Entwicklung von Beziehungen: Kennenlernen, übereinander herfallen, in Gesprächen über Vorlieben eine Neugier über das Vorleben des anderen entwickeln, mit individuellen Erwartungen gespickte Luftschlösser bauen, ewiggültige Liebesschwüre äussern, der Realität begegnen, dass zwei oder drei oder vier Variationen davon Flexibilität, Zuversicht und Grösse verlangen, Zweifel bis zur Eifersucht entwickeln, eine Trennung in Kauf nehmen und zuletzt dem Verlorenen hinterhertrauern. Die Form zeigt Zeichentrick, Frontalinterviews, Musicaleinlagen, ineinander verschlungene Körper und führt diese enorme Verdichtung von allem zuletzt in eine Kamerafahrt durch eine reale Wohnung und holt damit diesen nur gut einstündigen Rausch mitten ins Jetzt. Meint mich. Versinnbildlicht das Leben als Mélange aus Wunsch und Wirklichkeit. Weisheit und Kitsch, Pragmatismus und Lust, Poesie und Dummheit als sich übers Kreuz bereichernde Elemente. 

 

Fantastisch revolutionär

Der leinwandfüllende Stinkefinger in «Neptune Frost» gilt sowohl dem korrupten, autoritären Überwachungsregime eines afrikanischen Beispiellandes als auch der achselzuckend untätig ihre Privilegien hinnehmenden Ersten Welt. Anisia Uzeyman und Saul Williams erschaffen mit augenscheinlich geringen Mitteln den Möglichkeitsraum einer Welt, worin sie das theoretische Ideal der Gleichheit aller menschlichen Wesen unabhängig von Gender, Hautfarbe oder Stand in eine Zukunft antizipieren. Kobalt, der Stoff, von dem die Rechner wie die Elektromobilität abhängen, ist nicht mehr der Mühlstein um den Hals der malochenden Bergarbeiter, sondern der Schlüssel in ihren Händen, um die jahrhundertealte Ausbeutung zu überwinden. Ein Minenarbeiter und eine genderfluide Hackerin finden auf der Flucht vor der jeweiligen Unterdrückung zueinander. Basierend auf der Leitwährung Liebe entsteht ein hybrides Geschöpf namens Martyr Loser King, das Computervirus, Marvelheld und die Wiedergeburt Thomas Sankaras zugleich verkörpert. Eine Elektroschrottdeponie ist ihr Schutzraum und ihre Liebe die sinnbildliche Energiequelle, die MitstreiterInnen anzieht, um die digital vernetzte Restwelt in eine neue Rangordnung zu überführen. Futuristische Visuals kontrastieren mit simplen Schwarzlichteffekten, der elektronische Soundtrack sekundiert die assoziative Narration. Ein fantastisch revolutionäres Märchen, das eine von den dominanten Ismen befreite Welt entwirft und einen ungeheuer einnehmenden Sog entwickelt.

 

Dieser rwandischen Utopie stellt Gustavo Vinagre mit «Três Tigres Tristes» eine brasilianische gegenüber. Absichtlich hochaktuell bedroht ein Virus die Menschheit. Die Folge wäre das Vergessen. Bezüglich einer derzeitigen Regierung und der schon länger bestehenden Tendenz der lieber nicht erinnerten Landesgeschichte mit Militärdiktatur, Ausbeutung von Ressourcen, Vertreibung von Indigenen, höchst ungleicher Mittelverteilung und latent rassistisch und sexistisch motivierter Gewalt, ist die Abstraktion der Symbolik nur marginal. Der omnipräsente Überwachsungsstaat verspricht werbewirksam den Eintritt in ein «Goldenes Zeitalter», wovor drei queere Personen sich in Schutz zu bringen versuchend durch São Paolo irren. Sie erinnern Gedenkorten von Gräueln, die durch Umbenennung neutralisiert werden sollten, befreien Schismen wie HIV aus ihrer gesellschaftlichen Verdrängung, tappen auf ihren Suchen nach Sehnsuchtserfüllung auch in Kitschfallen eines ehedem gloriosen Besseren und dies vorzugsweise singend. Auf ihrer Tour de Force gegen eine potenzielle Bedrohung ihrer Entfaltungsfreiheit touchieren sie eine Vielzahl realer Ein- und Ausgrenzungen, was ein Schlaglicht auf die Frage wirft, woraus eine Hoffnung überhaupt ihre Nährung schöpft. In der Art einer selbsterfüllenden Prophezeiung plädiert der Film für eine Abkehr von jeder bisherigen uniformen Verheissung und entwickelt eine zuweilen recht schrillschräge Parallelszenerie – frei nach RuPauls Motto: «We’re all born naked, the rest is drag» –, worin alle Filmfiguren umgeben vom Untergang ein ihrer Façon entsprechendes Wohlbefinden entdecken und erleben. Ihre Ausprägung ist unerheblich, alle stehen einander gleichberechtigt gegenüber. Nicht weltfremd, die Tonalität ist mehr melancholisch als frohgemut, aber aufsässig trotzig. Denn das Recht darauf steht allen zu. Nur weil die Realität noch nicht so weit ist, muss das danach Streben nicht aufhören. Träumen als Energiequell. Für den Kampf, der bleibt. Ein in jeder Hinsicht berechtigter. 

 

Ohne Geschichte keine Zukunft

Die schärfsten Auseinandersetzungen entstehen mitunter innerhalb von Subkulturen. Die politisierten Lesben in Grossbritannien der 1980er-Jahre fochten ihren feministischen Kampf entlang der ganz grossen Linien. Etwa im Greenham Common Women’s Peace Camp, einer Belagerung des Royal Air Force-Stützpunktes Greenham gegen die geplante Stationierung von Cruise Missiles. Die zu bewachende Absperrung war viel zu lange, um lückenlos überwacht werden zu können, und so erzählt eine Protagonistin in «Rebel Dykes» von Harri Shanahan und Siân A. Williams, wie sie den damals neusten Tarnkappenbomber mit Farbe bewarfen, ihn also entgegen seines Vorzuges der Nichtsichtbarkeit knallbunt einfärbten. Im London dieser Tage aber entstand neben der Gruppe der politisch bewussten feministischen Lesben eine aus der Postpunk-Bewegung kommende anarcho-hedonismus Gruppe, die mit «Chain Reaction» den ersten lesbischen Fetischclub gründete. Die Kombination ihrer Performances aus Kunst, Sex und SM waren legendär, grenzwertig und lockten Scharen an. Bei den adrett-braven, im 1950er-Lesben-Style politisch für Gleichberechtigung der Frau kämpfenden Fraktion lösten sie helles Entsetzen aus, was mitunter zu handgreiflichen Auseinandersetzungen führte. Für die einen, die einfach Freude am Sex hatten und sämtliche Spielarten durchexerzieren wollten, selbstredend mit dem Kitzel der Grenzübertretung, waren Shows mit gefesselten Lederfrauen, die auf der Bühne ausgepeitscht und penetriert wurden, ein Ausdruck von Kunst, während dasselbe für die anderen die Zementierung der Frau als zu erniedrigendes Sexualobjekt darstellte, was unter allen Umständen zu überwinden war. Formal ist «Rebel Dykes» neben den Interviewerinnerungen eine wilde Kamerafahrt im DIY-Look zu einem notabene lauten Antiestablishment-Soundtrack. Eine der Hymnen von damals lautete: «I hate being in Love». Ab 1988 hatten beide Fraktionen ein gemeinsames Feindbild. Die Thatcher-Regierung führte die Gesetzeserweiterung Clause 28 ein, die es kommunalen Behörden untersagte, «Homosexualität absichtlich zu begünstigen oder Material mit der Absicht, Homosexualität zu begünstigen, zu veröffentlichen». Das bis in Jahr 2003 (!) gültige Verbot bedeutete für junge Homosexuelle, die mit den Eltern nicht über ihre Situation sprechen konnten, mit den sie täglich umgebenden Lehrpersonen nicht sprechen durften. Eine spektakuläre Aktion von  einigen Rebel Dykes die sich von der Tribüne ins House of Lords abseilten, um ihren Protest prominent zu platzieren, führte nur vorübergehend zu Schlagzeilen. Die Angelegenheit war der Obrigkeit dermassen unangenehm, dass selbst die strafrechtliche Verfolgung dafür ausblieb. 

 

Im medialen Blitzlichtgewitter landete am 12.2.1953 mit Christine Jorgensen die erste bekannte trans Person in New York. Sie wurde zum Superstar ihrer Zeit und galt als Symbol für die Modernität der USA. Dies, obschon sie, bei Lichte betrachtet, in Dänemark operiert werden musste, weil dies in den USA noch nicht zulässig war. Nicht im Scheinwerferlicht führten der Soziologe Harold Garfinkel und der Arzt Robert Stoller fünf Jahre später eine gross angelegte Studie über trans Personen durch, deren Dimensionen jedoch erst nach Garfinkels Hinschied 2011 durch die Auswertung der damaligen Akten bekannt wurden. Bis dato war allein eine Agnes genannte trans Person bekannt, die die beiden UCLA-Koryphäen mit dem Schwindel, sie wäre intersexuell geboren, zu einer geschlechtsangleichenden Operation überlisten hatte können. «Framing Agnes» von Chase Joynt rekonstruiert die Geschichte von Agnes und ihren weitestgehend unbekannt gebliebenen Zeitgenoss­Innen. Es sind Reenactments von damaligen TV-Shows, in deren Suggestivfragen der befremdliche Ekel schon mitschwang, so etwas wie eine Würde der befragten Person jedem Interesse von Showeffekt untergeordnet wurde. Sehr aufschlussreich ist rückblickend die Tatsache, dass für schwarze und lateinamerikanische trans Personen eine Sichtbarmachung ihrer trans Identität das Gegenteil eines emanzipatorischen Fortschrittes meint, nämlich die Gefährdung von Leib und Leben. Wer sich nicht in goldenen Käfigen verstecken kann, sondern der Realität ausgesetzt ist, also Blicken, Anfeindungen, An- und Übergriffen, tat (und tut) gut daran, die jeweilige Erscheinung so unauffällig wie möglich zu leben. Sie vor die Kameras zu zerren, war damals noch im Geiste der Freakshow im Wanderzirkus ein Spektakel für den Sender, für die betroffenen Personen hingegen ein Spiessrutenlauf des Vorgeführtwerdens, wodurch ein Rückzug erst recht verunmöglicht wurde. Die Langzeitfolgen untersuchte natürlich kein universitäres Institut mehr, die heute prominenten trans AktivistInnen, die im Film stellvertretend ihre Positionen einnehmen, können nur aus der eigenen Erfahrung vermutete Rückschlüsse ziehen.

 

Schleichende Veränderung

Das «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Diseases» der American Psychiatric Association ist so sakrosankt wie die Bibel. Wer hierhin als krank gilt, kann einpacken. Jede klügste, stichhaltigste Argumentation gegen eine ungerechtfertigte Diskriminierung prallt gegen die Wand. Bis 1973 stand Homosexualität zuoberst auf der Liste der dortigen Aufzählung von «sexuellen Abnormen». Patrick Sammon und Bennett Singer rekonstruieren in «Cured» die jahrelange Bemühung einer handvoll AktivistInnen, um diesen Passus ersatzlos zu streichen. Protestnoten und öffentliche Demonstrationen sollten nicht helfen, die APA musste von innen heraus bearbeitet werden, um eine Veränderung herbeiführen zu können. Bis dahin wurden Homosexuelle, weil krank also als heilbar eingestuft. Experimente wie Elektroschocks an Kopf oder Genital, chemische Kastration und teils gar eine Lobotomie fanden unter diesen Vorzeichen ihre Anwendung. Die Nebenwirkungen oder doch eher zutreffend Kollateralschäden waren in Kauf zu nehmen. «Cured» ist das Protokoll eines gewieft strategischen Vorgehens, das einerseits Hunderte von Fachpersonen überzeugen musste, die es gewohnt sind, zu argumentieren und wortreich zu debattieren, und andererseits musste ein Gleichgewicht gefunden werden, das Ansinnen eindringlich und ernstzunehmend genug zu transportieren, ohne den/die BotschafterIn zeitgleich zu opfern. Ein als Dr. Anonymous auftretender Psychiater trat an der Vollversammlung 1972 in Dallas getarnt hinter einer Nixon-Maske ans Rednerpult und verlas das akribisch austarierte Argumentarium für die Streichung des Passus, gewürzt mit dem Bekenntnis, «ich bin homosexuell und Psychiater». Die Wogen gingen hoch und bis der Apparat sich inklusive Rückkommensanträgen, Gegenpetitionen usw. mit einer 58-prozentigen Zustimmung für die Streichung von Homosexualität von der Liste der Krankheiten entschloss, fand gemäss Filmaussage eine zehn Jahre andauernde Bemühung eines bis heute am profundesten diskutierten Themas in der Geschichte der APA überhaupt ihr Ende. Die Zeitungen titelten in der Folge: «Zwei Millionen Homosexuelle geheilt.»

 

Wie die politischen Mühlen in der Tschechischen Republik während des demokratischen Prozesses für die Einführung einer «Ehe für alle» als erstes Land in Osteuropa mahlen, behandelt «The Law Of Love» von Barbora Chalupová. Bei Beendigung der Dreharbeiten im vergangenen Herbst ruhte das Geschäft nach einer ersten Lesung im Parlament, weil Erneuerungswahlen anstanden. Zur Erinnerung: Von der Idee des kantonalen Partnerschaftsgesetzes in Zürich bis zur gesamtschweizerischen Annahme der Vorlage «Ehe für alle» vergingen auch mehr als 25 Jahre. Vorausgesetzt, die im Film vorgestellten Initiant­Innen bleiben beharrlich und spielen das Spiel der gesetzgebenden Gewalt geschickt mit, ist noch nichts verloren. Aufschlussreich sind die Parallelen in den Argumenten der GegnerInnen mit jenen hierzulande. Hanebüchene Vergleiche werden gezogen, abstruse Ängste geschürt, der Zerfall der Zivilisation befürchtet, während sich ausserhalb des Parlaments die Gesellschaft weiterentwickelt. 

 

Rechtsstaat unter dem Regenbogen

Wie der tschechische Rechtsstaat wirkt auch der georgische in «March For Dignity» von John Eames intakt. Entgegen früherer Beispiele von Pride-Paraden, an denen die Polizei mit den Nationalen, Rechten, Homohassenden gewaltsam gegen die Demonstrierenden eingedrescht hatten, stellt sie sich in Tiflis schützend zwischen die Fronten. Seit dem verunglückten Rettungsversuch der Pride-Demonstrierenden am 17. Mai 2013, als die TeilnehmerInnen in Bussen vor der Menge der GegendemonstrantInnen in Sicherheit gebracht werden sollten, aber in der Masse steckenblieben und damit erst recht zum Anschlagsziel geworden waren, polarisiert jede Absicht zur Durchführung einer Pride-Parade in Tiflis umso mehr. Um das traumatische Erlebnis, was eine Person im Film als die «peinlichste Schande des Versagens der Regierung in der Geschichte Georgiens» einordnet, vergessen zu machen, wurde im Folgejahr der 17. Mai zum Tag der Familienreinheit erklärt. Treibende Kraft hinter der Hetze ist neben der orthodoxen Kirche, ohne deren Zuspruch in Georgien gar nichts geschieht, der ultra-nationalistische und schwerreiche Geschäftsmann Levan Vasadze. Sobald die Pride-OrganisatorInnen ein Datum bekannt geben, füllen sich die örtlichen sozialen Medien mit Anti-Homosexuellenpropagandafilmen, von denen die meisten nachweislich aus dem Russischen stammen und übersetzt wurden, und der geplante Umzugsort wird bereits Stunden vor der eigentlichen Manifestation von abertausenden aufgekratzten GegendemonstrantInnen besetzt, sodass an ein Umzug nicht zu denken ist. Eine der Schwierigkeiten ist die Mobilisierung im Geheimen. Die Messengernachrichten werden geleakt und so war am letzten, mehrfach verschobenen und nur kurzfristig einer Handvoll AktivistInnen bekannt gegebenen Pride-Datum im Jahr 2019 der Platz vor dem Parlament bereits überfüllt, bevor sie sich dorthin aufmachten. Sie griffen zu einem subversiven Trick und liessen eine an einer Drohne befestigte Regenbogenfahne über den Köpfen der GegendemonstrantInnen schweben. Levan Vasadze tobte ins Mikrophon: «Wir lassen uns von einer Regenbogenfahne am Himmel nicht provozieren.» Am Rand der Stadt, vor dem Innenministerium konnte dann ein paar hundert Meter für die Kameras kurz demonstriert werden, bevor sich die Pride-TeilnehmerInnen vor den heranrückenden Wutbürgern in Sicherheit bringen mussten. Die Situation in Georgien ist insofern speziell, als Bevölkerung wie Regierung um die Fragilität ihrer Demokratie wissen. Sie haben leidvolle Erfahrungen in kriegerischen Besetzungen von Teilen der Republik durch Russland, sind also hochgradig sensibel gegenüber allem, was vom «Vordenker Putin» kommt.

 

Der Rechtsstaat in den USA funktioniert. Die Gewaltenteilung muss aber teils mit grossen Abstrichen betrachtet werden, und wer zu seinem Recht kommen will, muss es sich auf der Strasse und in den Medien erstreiten, mit einer zeitraubenden Verzögerung. Die Lokalbehörden von Los Angeles versuchten lange, einen sich zweimal wiederholenden Vorfall unter den Teppich zu kehren. Junge schwarze Schwule mussten tot aus der Wohnung des weissen Ed Buck geborgen werden, einem einst einflussreichen republikanischen Parteihelfer, der mit den Jahren zum Vielspender für die Demokraten mutierte. «Gemmel & Tim» von Michiel Thomas rollt die Ereignisse auf und formt ein Portrait der beiden Opfer Gemmel Moore und Timothy Dean. Es ist nur schwer erträglich, anzuerkennen, dass für junge schwule Schwarze aus der Unterschicht in den USA eine Zukunftsperspektive dermassen ausweglos aussieht, dass das Angebot, sich für 600 Dollar als Strichjunge an einen alten weissen Mann auszuliefern, als Chance angesehen werden muss. Dass dieser Freier zudem noch seinen Kick daraus zog, den jungen Männern Crystal Meth zu spritzen, sie damit an Leib und Leben bedrohte und ziemlich direkt in eine Drogenabhängigkeit führte, ist befremdlich. Erschütternd allerdings ist, dass die lokalen Behörden es sehenden Auges unterliessen, auch nur schon polizeiliche Ermittlungen anzustellen. Und dies im Abstand von zwei Jahren in zwei praktisch identischen Vorfällen im selben Haus der gleichen Person. Die Familienangehörigen, die über Jahre (!) gegen ihre Ohnmacht ankämpften und mit lauthalsen Protesten eigens dafür zu sorgen hatten, dass der Rechtsstaat seine eigentliche Schuldigkeit erfüllt, erwirkt disparate Gefühle mit starkem Einschlag von Grusel.

 

Keine besseren Menschen

Auf der gegenüberliegenden Seite der Verstörung steht die zynische Abrechnung von Idan Haguel in «Concerned Citizen» mit der Egozentrik von wohlhabenden Schwulen. Raz und Ben kaufen sich in einem künftig aufstrebenden Quartier Tel Avivs eine Wohnung, verwandeln sie in einen Hochsicherheitstrakt und beginnen die sie umgebende Bevölkerung, bestehend aus MigrantInnen, Milieu und Sozialhilfeabhängigen mittels Denunziation gegenüber den Ordnungshütern zu drangsalieren. Idan Haguel dreht die Schraube noch stärker an, indem er die beiden Männer vollends empathiefrei ihr Ziel eines eigenen Kindes verfolgen lässt. Zwar befragen ihre Freunde sie bezüglich der Problematik der potenziellen Ausbeutung einer Leihmutter recht kritisch, worauf diese in vollem Spielfilmernst erwidern, sie würden hoffen, dass sowohl die Eizellenspenderin wie auch die Leihmutter, die sie beide per Steckbriefe aussuchen, aus einem tiefen Bedürfnis zu helfen handeln würden. Sie führen ihr unbeschwertes Leben zwischen Smoothie und Gym weiter und Pflanzen vor der Haustür ein symbolisches Bäumchen. Als sich einer von zwei sich unterhaltenden Asylsuchenden daran lehnt, nimmt die Furcht um das Überleben des Bäumchens hysterische Züge an. Die Polizei soll gegen die «Beschädigung öffentlichen Eigentums» (!) einschreiten. Als dieses Gespräch eskaliert und die Polizisten auf den bereits am Boden liegenden Eritreer einprügeln und -treten, wendet sich der Beobachter am Küchenfenster einfach ab – und plant insgeheim bereits den Verkauf der Immobilie. Gemäss Idan Haguel ist die Gayntrifizierung in Tel Aviv in gewissen Quartieren ein ernstzunehmendes Phänomen, und selbst wenn seine Filmfiguren nur die allerübelsten Seiten menschlicher Existenz darstellen, steckt in ihrer überhöhten Darstellung ein Fünkchen real erlebbarer Überheblichkeit.

 

Dass auch Lesben nicht per se bessere Menschen sind, demonstriert Ruth Caudeli in ihrem sarkastisch-boshaften Kammerspiel «Leading Ladies». Fünf Frauen, sich Freundinnen nennend, treffen sich nach Monaten zum Abendessen. Die Improvisation erzählt aus fünf Perspektiven, wobei unklar bleibt, ob gewisse Ungereimtheiten nur eine fehlerhafte szenische Kontinuität darstellen oder ob durch die Veränderung von vorwurfsvollen Feststellungen in entschuldigende Fragen versinnbildlicht werden soll, dass vielmehr Handlungsphänomene verhandelt werden als Taten von Einzelfiguren. Die fünf Frauen sind eine recht verlogene Bagage. Nichts wird offen zur Sprache gebracht, was die Gründe für die Abwesenheit der freudig wieder in der Runde begrüssten fünften offenlegen würde, die Ahnung von etwas Schrecklichem bleibt als Damoklesschwert über der Runde hängen. 

 

Ironisch augenzwinkernd

Wie erfrischend sind demgegenüber die dramatisch kaprizierten Filmgrüsse aus Italien. Silvia Brunelli nimmt in «Santa Piccola» zeitgleich die Bigotterie wie auch die ‹nichtschwule› Buddysexualität aufs Köstlichste aufs Korn. Als während einer Madonnenprozession eine Taube kopfüber mit der Statue kollidiert und tot herunterfällt, erwacht sie in den Händen der kleinen Annaluce wieder zum Leben. Alle sind sich einig, es wäre ein Wunder und das Kind eine Heilige. Es beginnt eine Wallfahrt und die Geldspenden, die während der Fürbitten der Anreisenden abfallen, erscheinen bezüglich der überfälligen Rechnungen für Miete und Strom tatsächlich wie ein Wunder. Der ältere Bruder Lino ist zusehends genervt und flieht mit seinem Buddy oder Bro Mario, zu dem er ein bereits sehr körperlich taktiles Verhältnis pflegt, in die Parallelwelt von Party, ungestümem Sex mit wahllosen Partnerinnen, auch zu dritt und unter Männern. Für Lino ist klar: Sich von einem Mann gegen Geld den Schwanz blasen zu lassen, ist nicht schwul. Dass Mario mit seinem weitergehenden homoerotischen Begehren auf verlorenem Posten stehen bleibt, versteht sich. 

 

Der dreissigjährige Antonio gefällt sich in der Rolle als Hausmann. Die Wohlfühlblase eines 1950er-Jahre Familienidylls platzt, als Lorenzo sein Leiden an gähnender Langeweile gesteht, sich trennt und Antonio vor die Tür setzt. Alessandro Guida und Matteo Pilati versammeln für «Maschile Singolare» eine Vielzahl von Abziehbildklischees an Figuren vor der Kamera. Mit ihrer teils recht albernen, aber überaus lustvollen Darstellung der Selbstfindung Antonios, auf der Suche, was ausser einem Anhängsel er sonst noch sein könnte, treffen sie indes schon einen Nerv. Es hilft nicht sonderlich, dass Antonio Unterschlupf beim hypertuntigen, multipromisken Denis findet. Als Dramaqueen par excellence huscht auch Denis an allem Unbequemen vorbei, was hier als Verantwortlichkeit beschrieben wird. Die latent kitschige Dramatik ist indes nicht unironisch spassig, wenngleich natürlich die finale Auflösung nur eine Variation von reichlich exaltiertem Drama zeigt. Die einzigen nicht vorwiegend dümmlich gezeichneten Figuren sind hier natürlich Frauen.

 

Überraschend ist die Wendung hin zur Ironie in der Serienadaption des 2006 realisierten Spielfilms «Boy Culture» von Q. Allan Brocka. Der ehemals coolste und angesagteste Edelcallboy X ist alt geworden. Seine Scheu vor Gefühlen gegenüber seinem Mitbewohner Andrew bleibt, trotz einer unterdessen schon wieder abgewickelten Beziehung, ein latentes Unwohlsein, das an ihm nagt. Noch ärger indes erwischt X die Erkenntnis, dass unterdessen herangewachsenes Frischfleisch wie Chayce nicht nur leichter das bessere Geschäft machen, sondern auch mit den unterdessen matchentscheidenden Sozialen Medien umzugehen wissen. Oder besser: Sie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Eine so offene Selbstkritik am Gehabe von mittelalten Schwulen ist in dieser doch sehr kommerziell ausgerichteten Reproduktion eines früheren Kassenschlagers eher überraschend. Was sich allerdings in all den Jahren nicht verändert hat, ist das uniforme Idealbild von körperlicher Perfektion.

 

Narzissmus und Gewalt

Dieser Waschbrettbauchfetisch kennt zwei Richtungen der Übertreibung. Im höchstens beiläufig homoerotischen «El perfecto David» von Felipe Gomez Aparicio trainiert der heranwachsende David seinen Körper exzessiv. Pumpen, pumpen, pumpen – das ist alles, was ihm als Lebensinhalt bleibt. Weil die Fortschritte nicht im gewünschten Tempo sichtbar werden, übertritt er die Schwelle von der einseitigen Ernährung zum Doping. Eine Rausch- oder Wahnhaftigkeit, die mit diesem idealisierten Körperbild einhergeht, erscheint zumindest wahrscheinlich. Auf der gegenüberliegenden Seite leiden dicke Frauen in den USA an der zunehmenden Verdoppelung in der Argumentation gegen ihre Körperfülle. Neben der Unterstellung, Frauen mit Rubensfiguren wären per se charakterschwach, erwächst ihnen auch werbeseitig der Suggestivdruck durch einen Gesundheitswahn, der nach dem Rauchen das Fett als neues Feindbild auserkoren hat. Ob eine Kausalität zwischen schlank und gesund also auch der Umkehrschluss wissenschaftlich überhaupt haltbar ist, steht medizinisch sehr wohl infrage, im Alltag nimmt die Ausgrenzung immer weiterreichende Formen an. Shana Myara findet für ihre Dokumentation «Well Rounded» ein halbes Dutzend Personen, die sich der Gegenwehr verschrieben haben. Sie belächeln spöttisch, dass ihre Rundungen sogar eine eigene Pornokategorie bilden, um sich gleich dem Ernst des Lebens zu widmen. Ein schlechter Witz auf einer Comedybühne auf ihre Kosten wäre allein noch kein Weltuntergang. In Kombination mit dem Bewusstsein für die Textilindustrie als Zielgruppe schlicht nicht zu existieren, in der Dauerberieselung mit Bildern vom glückserfüllten Leben nie mitabgebildet zu sein und natürlich die tägliche Begegnung von ihr Leben verkomplizierenden Tatsachen, wie Schalensitze in der U-Bahn, ergänzen sich zu einer Ballung von gefühlter Nichtzugehörigkeit. Sich demgegenüber möglichst unbeschwert zu behaupten, ist eine Herausforderung, die mit zunehmendem Alter nicht abnimmt.

 

Es ist weniger die äusserliche Perfektion als der Ehrgeiz im Wettbewerbsdruck zu reüssieren, die in Adam Kalderons «The Swimmer», Alli Haapasalos «Girl Picture» und Leyla Ylmaz’ «Not Knowing» verhandelt werden. Überall schwingt die im Spitzensport geläufige Nichtexistenz von Homosexualität mit. Sie kann sich in offener Homophobie niederschlagen, sich als Mobbing/Bullying äussern, die je nach Intensität zu übersprunghaften Befreiungsschlägen münden und tödlich enden können. Im Fall der tätlich spitalreif geprügelten iranischen Altenpflegerin in Eline Gehrings Film «Nico» geht es um rassistisch motivierte Gewalt. Der eigentliche Filminhalt behandelt die Schockstarre und die psychologische Überforderung nach einem Ereignis, das ein bisheriges Urvertrauen in die eigene Unversehrtheit unterminiert. Nico kapselt sich ab und versucht, ihre heftige, aber nebulöse Wut in einem Karatetraining zu kanalisieren. Gegengewalt ist noch kein Verarbeiten, das macht der Film klar, wobei er die Selbstheilungskräfte seiner Protagonistin etwas gar optimistisch inszeniert. Nico schaffts ohne fremde Hilfe. Hoffnung existiert in Gudmundur Arnar Gudmundsson «Beautiful Beings» noch nicht einmal in Gedanken. Körperliche Gewalt wird hier als generationenübergreifende Dominante dargestellt. Der Schlägervater haut im Suff die Frau. In der Jugendclique hat der Prügelbereiteste die Führung inne, derweil ihn das tumbe Dreinschlagen gegenüber noch älteren wiederum als ohnmächtig entlarvt. Der heftige Film spricht von insgeheimen Sehnsüchten nach Nähe, Zärtlichkeit und Vertrauen in einer dafür blinden Gesellschaft, die nur das Faustrecht kennt. Die Elternlosigkeit in Kombination mit einer Armutsverwahrlosung überantwortet den Heranwachsenden eine kaum bewältigbare Last. Der Film zeigt eine Spirale, worin das Äusserste nurmehr eine Frage der Zeit, der Gelegenheit, des Zufalls wird. Ein erschütternder Film.

 

Juvenile Durchsetzung

Offenbar hat sich die argentinische Machogesellschaft zumindest in wohlhabenderen Kreisen dahingehend verändert, dass die Jugend selbst keinerlei Anstalten mehr unternimmt, ein Coming-out eines unter ihnen als besonders erwähnenswert einzustufen. Das suggeriert «Sublime» von Mariano Biaisin. Dem gegenüber zeichnet Inés María Barrioneuvo mit «Camila Saldà Esta Noche» ein differenzierteres und mutmasslich lebensnäheres Abbild von Buenos Aires. In ihrer widerständischen Art eckt Camila überall an, zieht die Sorgen ihrer Mutter ebenso auf sich wie den Missmut ihrer MitschülerInnen, die ihrerseits aber zusehends erkennen, dass der Widerspruch einer einzigen, die die Konsequenz nicht fürchtet, ihnen selbst Tür und Tor für eine selbstbestimmtere Position öffnet. Hier ist das Klassenbewusstsein noch bedeutender als die Hautfarbe, und der ungekrönte Schulkönig, Spross einer einflussreichen Familie, kommt mit seinem sexualisierten Fehlverhalten ein weiteres Mal ungeschoren davon. Camila macht den klitzekleinen, aber entscheidenden Unterschied in der Wahrnehmung von Recht und Unrecht, steckt damit die von Übervorteilung betroffenen MitschülerInnen an und schafft es zumindest im Film vorläufig, die gut geölten Mechanismen zum Machterhalt zu stören. Oder im Mindesten öffentliches Aufsehen zu erregen. Erst einmal zur Schlagzeile geworden, lassen sich Missstände auch vom alles Aussergewöhnliche nivellierenden Rektor nicht mehr unter dem Deckel halten. 

 

Im Nachbarland Brasilien kämpft in Gabriel Martins «Mars One» eine schwarze Familie noch vor einer rassistisch motivierten Benachteiligung mit den Folgen von krassen Klassenunterschieden. Der Film zeigt den Kampf einer Durchschnittsfamilie mit prekärem Einkommen gegen die sich seit der Wahl Bolsonaros noch verschärft manifestierenden gesellschaftlichen Schräglagen und einen innerfamiliären Umgang mit potenziellen Zukunftschancen. Der kleine Deivinho muss als Fussballer reüssieren, obschon er lieber eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen würde. Der Vater verliert seine Arbeit als Hauswart einer Nobelwohnanlage, weil einer Madame die Laune gerade danach steht. Zugegeben, es war sein Fehler, eine Arbeit zu delegieren, dass sich aber sogar die Armen gegenseitig berauben und jedeR nur für sich selber schaut, erschwert es, den Kopf über Wasser behalten zu können. 

 

Für jugendliche algerische Secondas in einer Pariser Banlieue ist das Image für die Selbstdurchsetzung entscheidend. Wenn sie sich wie Nedjma versehentlich in Zina verlieben, die erstens auch ein Mädchen ist, aber noch zentraler, Teil einer verfeindeten Girlsgang, gerät gleich alles ins Wanken, wie Marion Desseigne-Ravel das in «Les Meilleures» fein changierend auf die Leinwand zu bringen vermag. Wenn sich eine eingeschworene Gruppe nicht mehr hinter einem gemeinsamen Feindbild versammeln kann, wo soll dann in einer sich ungeheuer schnell wandelnden Welt noch Halt herzubekommen sein? Die heimliche Flucht aufs Dach bleibt die vorläufig einzige Möglichkeit, ihre amouröse Anziehung zu leben.

 

Rückzug und Flucht

Der bildende Künstler Daniel hat sich auf einen Hof im polnischen Hinterland zurückgezogen. Sein Warschauer Galerist sorgt dafür, dass sein Stern nicht sinkt. Im Dorf indes, das zeichnen Lukasz Ronduda und Lukasz Gutt in «All Our Fears» nach einer realen Gegebenheit nach, sind seinesgleichen Freiwild. Eine junge Frau hielt dem Druck nicht stand. Für Daniel wird erst in diesem Moment klar, dass seine Berühmtheit und finanzielle Unabhängigkeit ihn bislang weitestgehend unempfänglich für die tatsächliche Bedrohung durch die latent gewaltbereite Homophobie in seiner Umgebung hatte werden lassen. Seine Reaktion ist am ehesten als mit dem Holzhammer ausgeführt zu umschreiben. Die Tonalität bleibt eigenartig. Gleichwohl eigenartig in der Tonalität, wenngleich ganz anders, ist die Nacherzählung der eigenen Flucht aus Afghanistan einer Amin genannten und aus Gründen der Anonymität nur als Zeichentrickfigur auftretenden Person gegenüber seinem Lebenspartner in Kopenhagen. «Flee» ist reines Protokoll ohne Nachfragen, dem Hinweisen auf Widersprüche oder gar einer grösseren Einordnung. Eine Leistung, die «Potato Dreams Of America» von Wes Hurley zwar unternimmt, sie aber ins lachhaft Komödiantische überführt. Die Handlung kehrt zurück in die Anfänge der 1990er-Jahre, als die UdSSR zusammenbrach und Vasili mit seiner Mutter in die USA fliehen konnte. Dort heiratet sie einen superchristlichen Amerikaner, der seiner eigenen Travestieneigung oder trans Identität – genauer lässt das die Filmhandlung nicht einordnen – entgegen die Hoffnung hegt, mit einer bibeltreuen Frau seinerseits einen Halt im Leben zu finden. Gemäss Programmheft erzählt der Film eine autobiographische Geschichte, was diese Steigerung von kaum wahrscheinlich zeitgleich zusammentreffenden Gegebenheiten vom Verdacht einer forcierten Originalität befreit. Das Leben schreibt die eigenartigsten Geschichten.

 

Gegen das Vergessen

Wie etwa jene der Band «Fanny», die in den 1960er-Jahren als erste reine Frauenband wahrhaft zukunftsweisende Musik spielte, aber niemals den ganz grossen Durchbruch geschafft hat. Die Gitarre klingt wie Jimi Hendrix, die Stimme röhrt wie Janis Joplin. Wie so eine herausragende Band in Vergessenheit geraten konnte, die fünf Alben aufgenommen hatte, ist allein mit ihrer Verweigerung, sich zu verbiegen zu erklären. Sie sangen früh gegen den Sexismus in der Musikindustrie und als Frauen mit philippinischem Migrationshintergrund auch gegen Rassismus. Dass sich unter ihnen auch noch offen kämpferische Lesben fanden, muss ihrer reibungslosen Vermarktbarkeit entgegengestanden haben. Bobbi Jo Hart bringt ihre Geschichte mit «Fanny: The Right To Rock» fünfzig Jahre nach ihrem Plattenerstling wieder ins Bewusstsein, und die Frauen selbst liefern eine neue Scheibe.

 

Noch fantastischer mutet die Recherche von Magnus Gertten an. Aufgrund einer Filmaufnahme der ersten aus dem KZ in Malmö landenden Frauen versuchte er die Menschen zu identifizieren. Im Fall von Nadine Wang wurde er fündig und barg für den Film «Nelly & Nadine» die sagenhafte Geschichte einer Liebesgeschichte, die im KZ Ravensbrück ihren Anfang nahm. Die Diplomatentochter Nadine Wang und die vor dem Krieg berühmte Opernsängerin Nelly Mousset-Vos überlebten, wurden nach der Befreiung über Europa verstreut, fanden sich wieder und siedelten gemeinsam nach Venezuela über, wo sie ein zurückgezogen-mondänes Leben mit einem grossen Freundeskreis führten. Die Archive über ihre Korrespondenz und Tagebucheinträge fand Magnus Gertten auf dem Dachboden der Enkelin von Nelly Mousset-Vos, die diese für sie belasteten Kisten bislang nicht angerührt hatte und auch jetzt den Eindruck vermittelt, das Aufwühlen dieser Geschichte wäre ihr mehr als unangenehm. Schliesslich kursiert in der Familie auch die gegenteilige Erzählweise der Geschichte, ihre Grossmutter hätte die Familie verlassen und wäre egoistisch nur ihrem eigenen Lebensglück nachgegangen. Ein Fundstück von einem Film, das unter anderen Vorzeichen die Magie des Kinos beschwört.

 

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