1980: D’Bewegig rüttelt Züri wach

Ende Monat jährt sich zum vierzigsten Mal der Aufbruch von 1980, «d’Bewegig». Sie hat das Leben in Zürich unumstösslich verändert, aus starrem Provinzialismus befreit. 1980 ist eine gesellschaftliche Zäsur , sie hat nachhaltige Spuren hinterlassen. Was ist damals passiert, wie ist es dazu gekommen, was ist daraus geworden?

 

Hannes Lindenmeyer

 

Der 30. Mai 1980 ist in Zürichs Geschichte eingegangen. 200 DemonstrantInnen stehen vor dem Opernhaus mit einem Transparent: «Wir sind die Kulturleichen dieser Stadt.» Die Damen und Herren des Establishments müssen sich zwischen den Demonstrierenden durchschlängeln; es geht um den städtischen 60-Millionenkredit fürs Opernhaus. Die Kulturleichen prangern die ungerechte Kulturpolitik an: 60 Millionen für die Kultur der Elite, keine Räume für Rock und Pop. Ganz krass: Die Rote Fabrik, vor Kurzem für die Alternativkultur gekauft, soll dem Opernhaus als Lager dienen. 

Polizisten treiben das Demogrüppli mit Tränengas und Gummischrot zum Limmatquai, mitten in die Samstagabendszene, später stossen einige Hundert Bob-Marley- Fans aus dem Hallenstadion dazu. Der Krawall weitet sich aus, die Polizei nebelt die Innenstadt mit Tränengas ein. Die Auseinandersetzungen dauern bis ins Morgengrauen, zurück bleibt eine Stadt im Schockzustand. Was friedlich gestartet hat, mit Polizeigewalt niedergeknüppelt wird, ist Auftakt für zwei Jahre Aufruhr – mit Langzeitfolgen für eine neue urbane Kultur.

 

Zürich vor 1980

 

Heute kaum mehr vorstellbar: 1980 gab es in Zürich gerade mal zwei Boulevardcafés, fünf «Nachtcafés», offen bis zwei Uhr. Die Quaianlagen: Rasen betreten verboten. Baden nur in Strandbädern und Badanstalten. Musiklokale werden wegen Marihuana, Lärm oder anderen Ungehörigkeiten geschlossen. Es herrscht Wohnungsnot; Hausbesetzungen und unbewilligte Demos werden rigoros aufgelöst, Beteiligte verhaftet, bestraft. «Ab nach Moskau!», es herrscht Kalter Krieg im Inland. Alle mit einem Hauch kritischer Haltung werden bespitzelt und fichiert. 

 

Züri brännt

 

Der Opernhauskrawall ist der Funke, der den Frust der Jugend in ein Feuerwerk verwandelt: d’Bewegig startet durch. Punks, Hippies, Polit-Freaks stürzen im Sommer 1980 das provinzielle Zürich in einen pulsierenden Ausnahmezustand: Grossdemos, Vollversammlungen, Nacht- und Nebelaktionen, legendär die Nacktdemos, Verkehrsblockaden, ja, und: Schaufenster einschlagen, Container anzünden. Flugblätter erscheinen in einem neuen Stil, entworfen von Grüppli, Kollektiven, von einzelnen Bewegten, martialisch, poetisch: Freiheit für Grönland, Zürich eisfrei. Züri brännt – Scherben gehören dazu. 

Die Verhaftung vermuteter Drahtzieher nützt nichts, die Demos werden grösser, Geld aus Moskau wird keines gefunden. Sozialdemokraten, ExponentInnen der 1968-er fordern die Behörden zum Dialog auf. Ende Juni stellt der Stadtrat ein altes Gewerbehaus hinter dem Hauptbahnhof zur Verfügung: Das Autonome Jugendzentrum AJZ – schon 1968 gefordert. Aber d’Bewegig geht weiter. Sie lässt sich nicht mehr klein halten. Grossdemos gegen die Repression legen erneut die Innenstadt lahm. Nach zwei Monaten schliesst der Stadtrat das AJZ. 

 

Der lange Herbst

 

Auf den fröhlichen Sommer der Anarchie folgen die Herbstnebel der Repression. Die Demos verlieren ihren leichtfüssigen Charakter, die Polizeigewalt wird verbissen. Es kommt zu Übergriffen. Im Frühling 1981 wird das AJZ nochmals eröffnet. Nun wachsen interne Probleme. Das AJZ wird zum Zufluchtsort Obdachloser, Drogenkonsumierender, Dealer. Im Frühling 1982 ist Schluss. 

In zwei Jahren werden 4000 Leute verhaftet, 1000 Strafverfahren eröffnet. Viele verlieren ihre Ausbildungs- und Lehrstellen; Schulrektoren entlassen aufmüpfige Schüler und Lehrer. Lebensläufe vieler Bewegter werden durch diese zwei Jahre geprägt: Das Loch nach Hoch und Tief des Ausnahmezustandes führt die einen in die Depression, in die Mühlen von Justiz oder Psychiatrie. Wenige Jahre später: das Drogenelend am Platzspitz. 

 

Das mediterrane Zürich

 

Die Erfahrungen, gemeinsam mit andern autonom zu handeln, befähigen einen andern Teil der Bewegten, innovative kulturelle, gastronomische Projekte aufzubauen. Neuen Schwung erhält die Hausbesetzerszene. Auch die Behörden lernen: Das Katz- und Maus-Spiel um Räumung und Wiederbesetzung wird aufgegeben. Besetzte Häuser gehören seither zum Alltag. Einstige Hausbesetzer entwickeln neue Wohn- und Lebensformen, mischen sich in die Stadtentwicklungsdebatte ein, übernehmen auf genossenschaftlicher Basis grosse Projekte wie Kraftwerk, Dreieck, Kalkbreite. Zürich wird zum Mekka des neuen gemeinnützigen Wohnungsbaus. 

In Lagerhäusern werden Discos eingerichtet. Aus illegalen Kellerbars wächst die Clubszene. 2020 sind «mediterrane Nächte» angesagt. Die Forderung der Bewegig, «Freie Sicht aufs Mittelmeer», ist nach langem Leidensweg – zwar anders als damals erwartet –in Erfüllung gegangen. Was zeigt: d’Bewegig 1980, Klimajugend 2020, die Jugend bewegt die Zukunft.

 

Die Veranstaltung «1980 aus Sicht von drei Generationen» – ein Gespräch mit Hardy Fünfschilling, Olivia Heussler, Chrigi Renner und Anja Schulthess, moderiert von Hannes Lindenmeyer im Café Boy, Kochstrasse 2, 8004 Zürich –, war ursprünglich für Ende Mai vorgesehen. Der Anlass wurde Corona-bedingt auf den 19. November verschoben.

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