Editorial

No pasaràn! ist das offizielle Motto des 1. Mai-Komitees in Zürich. Eine Zeile aus dem Spanischen Bürgerkrieg, ein starker Ruf gegen die Faschisten. Aber auch eine Position der Verteidigung gegen einen Gegner.  Unsere Grundfrage dieser Beilage war: Wie kommt die Linke wieder in die Offensive? P.S. hat verschiedene Autorinnen und Autoren gebeten, dazu einen Beitrag zu verfassen.  Die Beilage will einen Beitrag leisten zur Diskussion, zur Debatte. Am 1. Mai. Und danach.

 

 

Der verstorbene Soziologe Ulrich Beck antwortete auf die Frage, wen er wähle bei den Bundestagswahlen: «Ich gehöre zu einem der vielen Anti-SPD-Flügel in der SPD. (…) Ich gehöre zur Anti-SPD-SPD, weil ich weiss, dass die SPD nicht den Mut hat, die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit in und für Europa aufzuwerfen. Aber ich weiss auch, dass die SPD die einzige Partei ist, die dies könnte. Dieser Hoffnungskonjunktiv leitet widerwillig mein flüchtiges Kreuzchen.» Damit bringt er das Problem und das Potenzial der Sozialdemokratie – vielleicht der Linken insgesamt – auf den Punkt. Die Sozialdemokratie befindet sich in ganz Europa in der Krise und im Krebsgang. Nicht unbedingt zwingend elektoral, aber in der Debatten- und Deutungshoheit. Wenn ein Bekennt- nis zum Sozialstaat, zur Sozialpartnerschaft und zum sozialen Ausgleich als – wie der ‹Tages -Anzeiger› über den Ständeratskandidaten Daniel Jositsch schrieb – «klar auf SP-Linie» ist und nicht gesamtgesellschaftlicher Konsens, dann haben wir ein echtes Problem.

 

Die SP ist in der Schweiz, wenn man die letzten kantonalen Wahlen als Indikator nimmt,  wieder leicht im Auf wind. Dies aber auf immer noch relativ tiefem Niveau. Insge – samt nimmt aber
das L ager der Linken nicht zu. Anderswo kommt die Sozialdemokratie nicht vom Fleck oder sie wird gar, wie in Griechenland oder allenfalls in Spanien, von links her in die  Bedeutungslosigkeit abgedrängt. Die erfolgreichen Sozialdemokraten sind erfolgreiche  Polit-ManagerInnen, umsichtige Verwalter und seriös Regierende. Aber selten mehr VordenkerInnen
oder Vorbilder für ganze Generationen.

 

Ralf Dahrendorf, ein ebenfalls verstorbener Soziologe, hat das 20. Jahrhundert als  sozialdemokratisches Jahrhundert bezeichnet und gleichzeitig das Ende der Sozialdemokratie  eingeläutet. Die Sozialdemokraten hätten ihre historische Aufgabe erfüllt, den Sozial- staat  geschaffen, für eine Bildungsexpansion gesorgt, Rechtsstaat und demokratische Institutionen  verteidigt und aufgebaut. Jetzt sei das Programm erfüllt und die historische Aufgabe erledigt. Diese Vorstellung haben nicht nur Liberale wie Dahrendorf – wobei wir uns ja wünschen würden, es wären alle Liberalen wie Dahrendorf – sondern durchaus auch SozialdemokratInnen.  Exemplarisch Charles Lewinsky in einem Interview mit ‹Watson›: «Die heutige Schweiz ist der  Traum eines SPlers von vor 100 Jahren. Jetzt hat die Partei, der ich selber angehöre, Mühe, neue Aufgaben zu finden.»
Tatsächlich kann es nicht die Aufgabe der Sozialdemokratie sein, bloss Nachlassverwalter ihrer Vorgängerinnen zu sein und die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zu verteidigen. Was aber sind die neuen Aufgaben und Projekte, was sind die Pfeiler eines neuen sozialdemokratischen Jahrhunderts? Unser Bild der Zukunft bleibt unscharf. «Die Überwindung des Kapitalismus» steht als Ziel im sozialdemokratischen Parteiprogramm. Es wurde viel gestritten darüber, ob dieser Passus ins Programm gehöre. Dabei wähnen so – wohl Kritikerinnen wie Bef ür worter, wenn sie ganz ehrlich sind, diese Überwindung in einer fernen Zukunft, in einer weit, weit entfernten Galaxis, im Nimmerland. Wie sie denn aussieht, diese Welt, diese Gesellschaft mit überwundenem K apitalismus, weiss keiner.

 

Menschen für diese Idee begeistern
Diese Zukunf tsvorstellung ist entscheidend, genauso wie das Narrativ und das Bild davon. Erst wenn diese Erzählung mehr als eine Floskel ist, können wir wieder Menschen für diese Idee, unsere Ideen begeistern. Das entbindet uns nicht von der Pfllicht, auch konkrete und pragmatische Politik zu machen und unsere Allianzfähigkeit zu stärken. Die Sozialdemokratie ist – und das ist ihr grosses Potenzial, das Beck ’sche Hoffnungskonjunktiv – die Partei, die Utopie mit konkreter, erfolgreicher Reform- und Realpolitik ergänzt und möglich macht. Die einzige Partei jedenfalls, aufgrund ihrer historischen Erfahrung und politischen Breite, die es könnte oder können müsste.
Die A lternative Linke ist von den Problemen der Sozialdemokratie verschont. Im Gegenteil: Sie profitiert von deren Schwäche, sie lebt von der Kritik an ihr. Sie ist der Stachelim Fleisch der Sozialdemokratie. Das ist auch gut so. Abnützungserscheinungen und Profilschwächen werden gnadenlos ausgebeutet und zwingen uns, daran zu arbeiten. Besser zu werden. Doch letztlich ist es wie bei vielen quasi-symbiotischen Beziehungen so, dass der eine nicht ohne den anderen wirklich leben oder stark sein kann. Der Stachel braucht mehr fettes Fleisch, wenn er wirklich was bewegen will.

 

Die Wiederbelebung der Sozialdemokratie trieb und treibt einige kluge Köpfe um, wie den verstorbenen Historiker Tony Judt, der in «Dem L and geht es schlecht» vor seinem Tod ein
letztes starkes Plädoyer für die Wiedererstarkung sozialdemokratischer Werte hielt. Der Brite Colin Crouch wünscht sich in seinem Buch «Jenseits des Neoliberalismus. Plädoyer für  soziale Gerechtigkeit», dass die Sozialdemokratie von der Defensive in die Durchsetzungsfähigkeit komme.
Durchsetzungsfähigkeit und Offensive: Das braucht die Sozialdemokratie, das braucht die ganze  Linke. Bloss wie? Was tun, um es mit Lenin zu fragen? Diese 1. Mai-Beilage geht dieser Frage nach und hat verschiedene Autorinnen und Autoren gebeten, dazu einen Beitrag zu verfassen. Sie will einen Beitrag leisten zur Diskussion, zur Debatte. Am 1. Mai. Und danach.

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