«Zum Glück hat sich auch das Medien­verständnis entwickelt

Die ‹Schaffhauser AZ› gibt es seit 100 Jahren. Gefährdet war die Arbeiterzeitung eigentlich immer; weshalb sie trotzdem überlebt hat, erklärt der Autor des Buchs zum Jubiläum, der Wirtschaftshistoriker Adrian Knoepfli, im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Ihr Buch zum Jubiläum der ‹Schaffhauser AZ› trägt den Titel, «Wir sind da und bleiben da». Auch Sie waren einst da: Waren Ihre persönlichen Erfahrungen mit der SP-Presse beim Schreiben des Buches eher ein Vorteil oder ein Nachteil?
Adrian Knoepfli: Ich habe meine Tätigkeit als Journalist bei der ‹Zürcher AZ› bzw. auf der Zentralredaktion des AZ-Rings begonnen, dessen Chefredaktor damals Helmut Hubacher war. Das war 1972, ich war Student, und nachdem ich mich gemeldet hatte, liess mich der Sportredaktor Jürgen Zbinden sofort als Volontär kommen. Zum Start gabs einen Stapel Papier zum Thema Wohnungsbau aufs Pult mit der Aufforderung, «mach’ eine Seite daraus». Kurz danach sollte ich bereits den Wochenend-Dienst übernehmen, was ohne die Hilfe des Metteurs und meines Kollegen Hanspeter Bürgin wohl schief gegangen wäre… Ich habe die jüngere Geschichte der SP-Zeitungen somit aus eigener Anschauung gekannt, als ich zusagte, das Jubiläumsbuch zu schreiben, und sehe das als Vorteil: Mit Themen wie dem Verhältnis der AZ zur SP, aber auch dem Medienverständnis der Beteiligten war ich bereits vertraut. Anderseits war es ein Auftrag, den es professionell abzuwickeln galt wie andere Aufträge auch. Meine Tätigkeit bei der SP- und Gewerkschaftspresse lege ich im Buch in der Einleitung offen.

 

Sie sind demnach nicht befangen?
Bei der ‹schaffhauser az› (SHAZ), die ebenfalls zum AZ-Ring gehörte, habe ich nie irgendeine Funktion gehabt. Die beiden Köpfe hinter dem Jubiläumsbuch, der langjährige Chefredaktor und heutige Verlagsleiter Bernhard Ott und der Präsident der Herausgeberin az Verlags AG, Hans-Jürg Fehr, hätten das Buch auch selber schreiben können. Doch sie wünschten sich jemanden von aussen, jemanden, der nicht in Schaffhausen lebt, aber trotzdem die Verhältnisse kennt.

 

Wie haben Sie die Themenblöcke ausgewählt, denen Sie sich im Buch widmen?
Wie üblich habe ich ein Konzept vorgelegt und mit den Auftraggebern besprochen. Uns war es wichtig, einen starken Akzent auf die Zeit ab den späten 1970er-Jahren zu legen, als Ott und Fehr bei der AZ anfingen. Denn interessant ist aus heutiger Sicht ja insbesondere, weshalb es die ‹schaffhauser az› noch gibt – und um diese Frage zu beantworten, sind die letzten 40 Jahre entscheidend.

 

Sie sprechen das Verschwinden der anderen SP-Zeitungen in der Deutschschweiz an.
1970 gab es noch elf Arbeiterzeitungen, von denen zehn beim AZ-Ring mitmachten. Unterdessen sind ausser der ‹schaffhauser az› alle weg: Auch das parteiunabhängige P.S. ist bekanntlich keine direkte Nachfolgerin der Zürcher Arbeiterzeitung, die nach dem Ende des AZ-Rings und einem gut zweijährigen Unterbruch unter dem früheren Namen ‹Volksrecht› nochmals auferstand, sondern folgte auf dessen Nachfolgepublikation DAZ.

 

Die frühe Geschichte der ‹schaffhauser az› hat dennoch ihren Platz im Buch: Was sprach dagegen, den Schwerpunkt auf die ersten 60 Jahre zu legen?
Selbstverständlich ist diese Zeit auch spannend, doch da gibt es bereits Publikationen, unter anderem auch eine sehr gute Biografie der prägenden Figur Walther Bringolf von Walter Wolf. Das Jubiläumsbuch sollte auch keine publizistikwissenschaftliche Arbeit werden; es ging nicht darum, die Zeitungen der ganzen 100 Jahre inhaltlich auszuwerten. In der Rezension des Buchs in den ‹Schaffhauser Nachrichten› wurde denn auch prompt kritisiert, es stehe kaum etwas über den Inhalt der SHAZ drin…

 

Die ‹Schaffhauser Nachrichten› hätten wahrscheinlich mehr zum Thema SHAZ und Kommunismus lesen wollen…
Ja, wobei für die frühe Zeit dazu im Buch sehr viel ausgeführt wird. Die Schaffhauser Sozialdemokraten hatten sich als einzige Kantonalpartei praktisch geschlossen für den Beitritt zur Dritten Internationalen ausgesprochen und waren 1921 aus der SP Schweiz ausgetreten. Damit wurde auch die Situation unhaltbar, dass die SHAZ als Kopfblatt des weiterhin sozialdemokratischen ‹Volksrechts› erschien und bei der Genossenschaftsdruckerei in Zürich gedruckt wurde. Also musste eine eigene Druckerei her, und Ende Oktober 1921 verliess die erste selbst gedruckte SHAZ die Unionsdruckerei Schaffhausen.

 

Wie war diese Entwicklung möglich? Heute denkt man beim Stichwort Schaffhausen jedenfalls kaum an ein Kommunistennest…
Für die Sonderstellung der SP Schaffhausen bieten sich zwei Erklärungsmuster an: Erstens sprach sich damals praktisch die ganze Führungsriege für den Austritt aus der SP Schweiz aus und für den Beitritt zur Kommunistischen Partei der Schweiz, die im März 1921 gegründet wurde. Zweitens war die Schaffhauser SP um 1920 eine sehr junge Partei: Im Juni 1919 hatte sie 334 Mitglieder, und zwei Drittel davon waren erst 1918 bzw. 1919 eingetreten. Es handelte sich hauptsächlich um Männer zwischen 20 und 40; lediglich 16 Mitglieder waren älter als 50. Während des Krieges waren viele junge Männer nach Schaffhausen gezogen, weil sie dort, beispielsweise bei Georg Fischer, Arbeit fanden, und viele traten der SP bei. Für junge Männer gilt jedoch auch, dass sie empfänglicher für radikale Positionen sind als ältere Semester.

 

Welche Rolle spielte die ‹schaffhauser az› während der Nazizeit?
Sie hat sehr früh reagiert und gegen Hitler angeschrieben, aber auch Demonstrationen organisiert und eine wichtige Rolle in der Solidaritätsbewegung mit der spanischen Republik gespielt. Wenig verwunderlich, bekam die SHAZ damals Probleme mit der Zensur. Sie hat unter anderem als erste Zeitung in der Region über die Konzentrationslager und die Judenvernichtung berichtet. Zwar wird auch in einer Jubiläumsschrift der ‹Schaffhauser Nachrichten› von deren «engagiertem» Einsatz gegen die Fröntler geschrieben, doch dem war nicht so: Viele Frontisten waren junge ex-Freisinnige, und die ‹Schaffhauser Nachrichten› verfolgten mit Interesse und anfänglich auch Sympathie, was diese sagten und taten. Sie haben entsprechend erst relativ spät gemerkt, woher der Wind wirklich wehte.

 

Hatte damals eigentlich jede Partei eine eigene Zeitung?
Es war die Zeit der Parteipresse, die bis in die 1970er-, teils in die frühen 1980er-Jahre andauerte: Die AZ, egal ob in Schaffhausen, im Aargau oder im Thurgau, waren die SP-Zeitungen, während Blätter wie die ‹Zürichsee-Zeitung› oder der ‹Zürcher Oberländer› freisinnig waren. Dieser Zustand galt als gegeben, und relativ lange hat man denn auch bei den AZ nicht realisiert, dass eine neue Entwicklung im Gang war. Erst spät, wohl zu spät, tat man sich zum AZ-Ring zusammen. Dass dies nicht früher passierte, lag jedoch nicht nur an inhaltlichen Differenzen, sondern auch daran, dass die meisten Herausgeber eigene Druckereien besassen, die sie auch weiterhin auslasten wollten. Der AZ-Ring scheiterte denn auch grandios nach lediglich vier Jahren. Danach bezog die SHAZ eine Zeitlang den Mantel vom freisinnigen ‹Badener Tagblatt›, später produzierte man ihn für verschiedene AZ in Schaffhausen. 1978 fingen Hans-Jürg Fehr und Bernhard Ott auf der Redaktion an, doch die wichtigsten Entscheidungen fürs Überleben der Zeitung fielen erst einige Jahre später.

 

Inwiefern?
Das Jahr 1986 ging als jenes der «Palastrevolution» in die Annalen der ‹schaffhauser az› ein: Am 14. Juni standen im Verwaltungsrat der Unionsdruckerei je ein Papier mit Sanierungsvorschlägen von Geschäftsführer Gerhard Millwisch und von Bernhard Ott zur Debatte. Während ersterer bloss eine Pinselrenovation wollte, schlug letzterer grundsätzliche Änderungen vor. Ott obsiegte und wurde neuer Geschäftsführer. Die Chefredaktion übernahm Hans-Jürg Fehr. Die beiden wollten die Zeitung nicht nur retten, sondern auch besser machen; eine schwierige Aufgabe. Zuerst einmal galt es, die Druckerei zu sanieren, und danach standen viele weitere Entscheidungen an.

 

Und die Beiden hatten Erfolg?
Heute ist der Fall klar: Dank Ott und Fehr gibt es die ‹schaffhauser az› noch, wenn auch nicht mehr als Tageszeitung, sondern als Wochenzeitung. Während Hans-Jürg Fehr ab 1999 im Nationalrat sass, der AZ aber als Verwaltungsratspräsident erhalten blieb, war und ist Bernhard Ott der Hauptverantwortliche dafür, dass die Zeitung überlebt hat.

 

Finanziell kann aber auch die SHAZ nicht nur von den Abo- und Inserateeinnahmen leben.
Sie hat nebst dem 1983 gegründeten Gönnerverein seit langem eine Grossgönnerin, die ihre Identität nicht preisgeben will, sowie weitere bedeutende Gönnerinnen und Gönner. Ohne diese Beiträge ginge es nicht. Wichtig war, dass man sich um 2000 endgültig damit abgefunden hat, dass sich die Zeitung betriebswirtschaftlich nicht rentabel führen lässt, sondern dass sie auf Sponsoren angewiesen ist, welche die jährlichen Defizite ausgleichen. Zuvor hatte man immer noch gehofft, es irgendwann doch wieder aus eigener Kraft zu schaffen.

 

Und seither funktionierts?
Ja, die vielen Spenderinnen und Spender von Kleinbeträgen, die grossen Gönnerinnen und Gönner und der Gönnerverein sorgen dafür, dass das strukturelle Defizit von jährlich rund 100 000 Franken gedeckt werden kann. Damit ist die SHAZ in der heutigen Zeit übrigens keine Ausnahme: Auch die WOZ hat ihren Förderverein, und die ‹Republik› bekommt nicht nur von den Brüdern Meili, sondern auch von andern Grosssponsoren Geld. Mit Blick in die Zukunft ist für die SHAZ allerdings auch dieses Modell nicht ohne Tücken: Während sie zurzeit bei den Abozahlen zulegt, gilt es auch die Zahl der Gönnerinnen und Gönner bzw. deren Spendenvolumen mindestens konstant zu halten. Die gegenwärtige Gönner-Generation ist inzwischen älter geworden und muss gelegentlich abgelöst werden, was nicht ganz einfach ist.

 

Dass die Abozahlen zunehmen, dürfte vor allem den vielen guten Geschichten geschuldet sein, die in der letzten Zeit erschienen sind: Was die Redaktion anbelangt, ist die Verjüngung offensichtlich gut gelungen.
Heute haben viele Geschichten der SHAZ ein gutes Echo, und sie wird auch öfter zitiert als früher. Zu behaupten, dass es erst seit der Verjüngung gute Geschichten im Blatt habe, wäre aber nicht richtig. Der heutigen Crew kommt inhaltlich zugute, dass sie nicht mehr die Tageszeitung im Kopf hat: Sie entscheidet sich ungerührt gegen die Teilnahme an einer Pressekonferenz, wenn die dort verkündeten Neuigkeiten beim nächsten Erscheinen der SHAZ bereits kalter Kaffee wären. Stattdessen setzt die Redaktion auf eigene Themen, die Beachtung finden wie etwa die Geschichte zu einer Staatsanwaltswahl im Eilverfahren oder zur Schaffhauser Kantonalbank, die ihr Archiv schredderte. Zudem profitiert die SHAZ wohl auch davon, dass der Meier-Gruppe inzwischen nebst den heute SVP-nahen ‹Schaffhauser Nachrichten› auch noch das Lokal-TV und -Radio sowie sämtliche Landzeitungen gehören: Neben dieser Konzentration zur Rechten ist der Raum für ein klares Gegengewicht eher vorhanden, als wenn die Presselandschaft ausgewogener wäre.

 

Welche Rolle spielt es, dass die neue Crew nicht mehr bei einer Parteizeitung angestellt ist?
Das ist ein wichtiger Aspekt: Die Ablösung von der Parteizeitung ist schon seit einiger Zeit gelungen. Früher sollte die Zeitung schreiben, was die SP-Leserschaft als «Meinung ihrer Partei» wiedererkannte, und war mal ein Inserat aus der falschen Ecke im Blatt, gab es empörte Reaktionen. Die Vorstellung der mündigen Leserin, des mündigen Lesers, die bzw. der sich selber eine Meinung bilden kann, war früher auch unter SP-Mitgliedern und sonstigen Linken nicht besonders verbreitet. Doch zum Glück hat sich das Medienverständnis auch auf der Linken entwickelt, und das ermöglicht, dass die ‹schaffhauser az› heute als zwar linke, aber parteiunabhängige Zeitung ihrer Leserschaft gute Geschichten bieten kann.

 

Knoepfli, Adrian: «Wir sind da und bleiben da». Vom Klassenkampf zur Recherche: Hundert Jahre Schaffhauser Arbeiter-Zeitung, 1918-2018. Verlag am Platz, c/o schaffhauser az, Schaffhausen 2018, 191 Seiten, 29.60 Franken, zu bestellen via verlag@shaz.ch oder Telefon 052 633 08 33.
www.shaz.ch

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