Zum 20. Geburtstag das Aus?

Den Entscheid der SBB, den Billettverkauf durch Dritte einzustellen, kontert die Bahnhofreisebüro Wipkingen AG mit einer Petition. Geschäftsführerin Regula Fischer und Verwaltungsratspräsident und SP-Kantonsrat Benedikt Gschwind erklären im Gespräch mit Nicole Soland, was auf dem Spiel steht – und was sie sich von der Petition erhoffen.

 

Das Bahnhofreisebüro Wipkingen hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Wie ist es eigentlich entstanden?

Benedikt Gschwind: Als die SBB in den 1990er-Jahren immer mehr Bahnhöfe in unbediente Stationen umfunktionierten, führte das zu einigem Aufruhr im Land – und es hatte Folgen, unter anderem die, dass die SBB zusammen mit dem VCS das StationshalterInnenmodell entwickelten. Es war die Ära von SBB-Chef Benedikt Weibel; unter ihm wurde dieses Modell aktiv gefördert, und vor allem ländliche Gemeinden setzten darauf.

 

Ländliche Gemeinden – wie zum Beispiel Wipkingen?

Benedikt Gschwind: Unser Bahnhofreisebüro hat eine Sonderstellung inne, nicht nur, weil es sich mitten in der grössten Schweizer Stadt befindet: Auslöser war der Aufschwung des Bahnhofs Wipkingen in den 1990er-Jahren, den damals drei S-Bahnlinien bedienten. Doch der Bahnhof war schon unbedient, und gleichzeitig hatten wir damals die Drogenszene am Letten, weshalb sich viele Leute nicht sicher fühlten, wenn sie in Wipkingen auf den Zug warten mussten. Als dann der Bahnhof Letten geschlossen wurde und es somit keinen bedienten Bahnhof im Quartier mehr gab, kam die Idee aus dem Quartier, einen Stationshalter oder eine Stationshalterin zu suchen. Als erstes wurde der Verein IG Bahnhof Wipkingen gegründet, und es folgten Verhandlungen mit den SBB, von denen die IG schliesslich das Schaltergebäude mieten konnte. Ein ehemaliger Bähnler wurde unser erster Stationshalter und machte diesen Job bis zur Pensionierung.

 

Und danach entstand die heutige AG?

Benedikt Gschwind: Ja, dahinter steckte hauptsächlich der Wunsch, ‹unseren› Bahnhof breiter abzustützen. Entsprechend haben wir die Aktien im Quartier gestreut. Die Bahnhofreisebüro Wipkingen AG ist denn auch eine stabile Unternehmung geworden: Seit 2008 ist Peter Schmid Verwaltungsrat und ich bin seit 2006 Verwaltungsratspräsident. Die Geschäftsführung hat lediglich drei Mal gewechselt; seit 2011 ist Regula Fischer Geschäftsführerin.

Vor zwei Jahren kam der Schalter der Deutschen Bahn (DB) dazu: Damals gab die DB ihr Büro an der Militärstrasse auf, wollte aber dennoch in Zürich präsent bleiben, wo­rauf sie mit einem eigenen Schalter bei uns eine neue Heimat fand.

 

Heisst das, dass auch der DB-Schalter Geschichte wäre, wenn im Bahnhofreisebüro Wipkingen tatsächlich für immer die Lichter ausgingen?

Regula Fischer: Ja, das ist so; nur mit den Provisionen, die dieser eine Schalter erwirtschaftet, könnten wir nicht überleben.

 

Die SBB teilten am 6. September mit, dass sie den Billettverkauf durch Dritte einstellen wollen; am 15. September lancierten Sie eine Petition gegen diesen Entscheid: Hätten Sie sich nicht schon viel früher wehren müssen?

Regula Fischer: Uns haben die SBB-Verantwortlichen am 6. September um 14.30 Uhr informiert; die erste Stellungnahme der Stationshalter wurde dann um 16 Uhr verschickt.

 

Im Ernst? Wurden Sie von der Entscheidung der SBB überrascht?

Regula Fischer: Wir StationshalterInnen hatten bislang einmal pro Jahr ein Treffen mit den SBB, an dem man sich austauschte und über zukünftige Strategien und allfällige Änderungen informiert wurde. Dieses Jahr fand das Treffen im März statt. Da die Verträge mit allen StationshalterInnen Ende 2017 auslaufen, erkundigten wir uns logischerweise auch danach, wie es bezüglich neuer Verträge aussehe. Doch die SBB-Leute blockten ab und erklärten uns, dazu könnten sie uns erst am 6. September Auskunft geben. Wie das dann passierte, war tatsächlich unterste Schublade: Uns wurde schlicht mitgeteilt, die Zusammenarbeit mit den StationshalterInnen werde per 1.1.2018 eingestellt. Das wars. Ein Stationshalter verlangte eine Pause, um mindestens noch rasch sein Personal zu informieren, bevor die Medienmitteilung der SBB rausging. Wir haben dann die Sitzung abgebrochen und sind gegangen.

 

Was ist seither geschehen?

Regula Fischer: Von den SBB haben wir nichts mehr gehört. Das entspricht leider durchaus dem, was wir von ihnen in Sachen Kommunikationspolitik kennen: Erst bekommt man überhaupt keine Informationen, dann völlig unvermittelt eine Hiobsbotschaft.

 

Wahrscheinlich bauen die SBB einfach darauf, sich dieses Verhalten angesichts einer kleinen Schar von EinzelkämpferInnen leisten zu können…

Regula Fischer: Dass wir Stationshalter­Innen zusammenhalten müssen, ist uns natürlich auch klar. 2002 haben die privaten StationshalterInnen eine IG gegründet; von den verbleibenden elf machen acht bei der IG mit. Wir tauschen uns aus und beteiligen uns auch alle an der Petition. Aber wie gesagt: Die SBB haben uns ihren Entscheid mitgeteilt, und damit ist die Sache für sie erledigt.

Benedikt Gschwind: Es gab gewisse Indizien, dass die SBB nicht mehr so euphorisch hinter dem StationshalterInnenmodell stehen wie auch schon. Wir mussten schon früher Verschlechterungen in Kauf nehmen, wenn es den Vertrag zu erneuern galt, beispielsweise in Form von geringeren Provisionen. Die SBB setzen seit einiger Zeit voll auf die digitale Schiene und dünnen das eigene Schalternetz immer weiter aus.

In grossen Bahnhöfen wie etwa am Zürcher Hauptbahnhof fällt einem zudem auf, dass selbst dann viele Schalter geschlossen bleiben, wenn der Andrang gross ist: Offensichtlich wollen die SBB, dass ihren KundInnen das Anstehen verleidet und sie sich damit abfinden, sich ihre Tickets am Automaten oder im Internet selber zusammensuchen zu müssen. Es hätte uns deshalb auch nicht erstaunt, wenn der per Ende 2017 auslaufende Vertrag nur zu nochmals schlechteren Bedingungen erneuert worden wäre. Aber dass gleich ganz Schluss sein soll, das kommt trotz allem unerwartet.

 

Allzu grosse Hoffnungen, dass es das Bahnhofreisebüro Wipkingen auch 2018 noch gibt, darf man sich demnach nicht machen.

Benedikt Gschwind: Mit der Petition wollen wir nun zuerst einmal Widerstand aufbauen. Ausserdem regt sich auch politischer Widerstand in den betroffenen Kantonen. Am deutlichsten bisher in der Ostschweiz, im Kanton Zürich ist ein Vorstoss in Vorbereitung. In einem nächsten Schritt müssen wir uns überlegen, wie wir gegenüber den SBB mit den Unterschriften der Bahnkunden im Rücken auftreten wollen. Bis anhin fanden ja keine Gespräche statt.

 

Wie sehr eilt es eigentlich? Das Bahnhofreisebüro ist ja auch physisch ein Raum, für den Sie Miete zahlen und den Sie rechtzeitig kündigen müssten, falls die SBB stur bleiben…

Benedikt Gschwind: Das Haus gehört unterdessen nicht mehr den SBB, sondern dem Besitzer des benachbarten Restaurants Nordbrücke. Darüber, was mit dem Raum passieren soll, müsste man sich sicher unterhalten; ich gehe davon aus, dass er weiterhin auf eine Art genutzt würde, von der die QuartierbewohnerInnen auch etwas hätten.

 

Zurück zur Petition: Was genau soll sie bewirken? Was ist mit «Widerstand aufbauen» gemeint?

Benedikt Gschwind: Wenn der Widerstand gross ist, nehmen das hoffentlich auch die SBB zur Kenntnis – und überlegen sich, ob ihre Reputation durch solche Manöver nicht stärker Schaden nimmt, als ihnen lieb ist.

Regula Fischer: Kaum war die Medienmitteilung rausgegangen, hatten wir schon erste Rückmeldungen von besorgten KundInnen, die wissen wollten, ob bzw. in welchem Umfang wir vom geplanten Abbau betroffen seien. Nachdem wir sie informiert hatten, lautete die nächste Frage: Was können wir tun, wie können wir euch helfen? Indem sie die Petition unterschreiben, können die KundInnen ihren Unmut bei den SBB deponieren und ihnen klar machen, dass Nischenangebote wie das unsere nach wie vor Platz haben müssen. Wenn die SBB einerseits werbewirksam «öV-Muffel» suchen und anderseits die treue Kundschaft vergraulen, dann stimmt doch etwas nicht.

 

An der Tatsache, dass heutzutage immer mehr übers Internet und übers Handy organisiert und gekauft wird, können aber sowohl Sie als auch die Petition nichts ändern.

Benedikt Gschwind: Das ist gar nicht das Thema: Für ein einfaches Ticket von A nach B steht schon heute niemand mehr am Schalter an, und dem trauern wir auch nicht nach. Wir sind in einer Übergangsphase. Die digitalen Kanäle sind bei komplexeren Reisen heute noch recht zeitintensiv und nicht immer benutzerfreundlich. Wer sich in dieser Situation sagt, «ich lasse mich lieber am Schalter bedienen und habe so obendrein die Gewähr, das beste Angebot zu bekommen», sollte diese Möglichkeit auch künftig haben. Im übrigen ist die Zeit, die ich investieren muss, um im Internet an ein spezielles Bahnbillett zu kommen, auch Geld – Geld, das die SBB sparen, wenn es ihnen gelingt, den grössten Teil ihrer Kundschaft von ihren Schaltern weg und an die Smartphones und heimischen PC zu bringen.

Regula Fischer: Wir hatten schon früher immer mal wieder Anfragen von Leuten aus der ganzen Schweiz, die sich beim Billettkauf beraten lassen möchten. Unterdessen sind es so viele, dass wir anfangen mussten, uns abzugrenzen.

Der Grund, weshalb wir so gefragt sind, ist rasch gefunden: Wenn man im Telefonbuch die Nummer des nächsten Bahnhofs sucht, stösst man zuerst auf die kostenpflichtige 0900er-Nummer der SBB. Aber man findet auch das Bahnhofreisebüro Wipkingen samt seiner Festnetznummer… Indem wir möglichst viele der potenziellen KundInnen beraten, die auf diesem Weg zu uns gelangen, bieten wir somit einen Service, den die SBB ihren KundInnen nicht mehr bieten wollen – und wir verdienen damit keinen Rappen. Wenn die SBB uns StationshalterInnen abschaffen, sparen sie fünf Millionen Franken; so jedenfalls steht es in ihrer Medienmitteilung. Aber all die Leistungen, die wir über die Jahre für sie erbracht haben, ohne Geld dafür zu sehen, sind in diesen fünf Millionen natürlich nicht eingerechnet…

Benedikt Gschwind: Wir sind das Gesicht der SBB; wir sind immer die erste Anlaufstelle, wenn es Änderungen gibt. An uns lassen die Leute ihren Frust aus, wenn eine S-Bahn-Haltestelle weniger häufig angefahren wird oder wenn es Preiserhöhungen gibt.

Regula Fischer: Die Tarife werden immer komplizierter, und auch deswegen merken wir nichts davon, dass die KundInnen heutzutage ihre Billette nur noch via Internet kaufen wollen.

Benedikt Gschwind: Ich finde es in diesem Zusammenhang auch stossend, dass die SBB alle Vertriebspartner in einen Topf werfen. Nichts gegen die Post oder Migrolino, aber dort werden viele verschiedene Produkte verkauft. Ich kann mir deshalb gut vorstellen, dass die Angestellten angesichts einer komplizierten Bahnverbindung schon mal an Grenzen kommen. Das trifft jedoch auf unser Bahnhofreisebüro, wo erfahrene Reisefachfrauen tätig sind, einfach nicht zu.

Regula Fischer: Wegen dem Swiss Pass beispielsweise gab es grossen Erklärungsbedarf, und zudem ist er verwaltungstechnisch und buchhalterisch sehr aufwendig. Diesen Mehraufwand haben uns die SBB nie vergütet. Wenn sie uns nun einfach absägen, stehen Existenzen auf dem Spiel: Allein bei uns in Wipkingen würden vier Personen arbeitslos.

Benedikt Gschwind: Kommt hinzu, dass fünf Millionen Franken angesichts eines Gesamtaufwands der SBB von 8,5 Milliarden ein recht kleiner Tropfen auf den heissen Stein sind… Dass ausgerechnet diese fünf Millionen ‹gespart› werden müssen, leuchtet mir jedenfalls nicht ein.

 

Bleibt also nur zu hoffen, dass die Petition etwas nützt: Wie lange kann man sie noch unterschreiben bzw. wann wird sie eingereicht?

Benedikt Gschwind: Wir haben uns noch kein fixes Datum gesetzt, aber nachdem sie etwa zehn Minuten online war, zählten wir bereits 50 Unterschriften. Sagen wir es so: Wenn uns die Unterschriftenzahl hoch genug erscheint, reichen wir die Petition ein.

 

Petition unterschreiben unter www.stationshalter-ade.ch, weitere Infos unter www.bahnhofreisebuero.ch

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