«Wir wollen keine Zwei-Klassen-Medizin»

Weder das Kantonsspital Winterthur noch die Integrierte Psychiatrie Winterthur müssen eine AG werden: Warum er sich für ein Nein am 21. Mai einsetzt, erklärt AL-Kantonsrat Kaspar Bütikofer im Gespräch mit Nicole Soland.

 

 

In der Abstimmungszeitung heisst es, um «langfristig Erfolg zu haben», müsse sich das Kantonsspital Winterthur (KSW) «konsequent an den Patientinnen und Patienten orientieren und schnell und flexibel reagieren können». Den «notwendigen Handlungsspielraum» erhalte es durch die Umwandlung in eine AG – und davon profitierten «insbesondere» die PatientInnen. Da kann man doch nicht dagegen sein?
Kaspar Bütikofer: Dazu möchte ich etwas Grundsätzliches vorausschicken: Das Gesundheitswesen im allgemeinen und der Spitalbereich im speziellen sind kein Markt, sondern ein hoch reguliertes Umfeld. Die Akteure, die sich darin bewegen, sind hauptsächlich der Staat und die Krankenkassen, und es ist nicht so, dass mehr Markt beziehungsweise eine AG zu einer besseren ‹KundInnenzufriedenheit› führt.

 

 

Was im Abstimmungsbüchlein an erster Stelle steht, ist somit frei erfunden?
Ich würde es einen Fehlschluss nennen. Es geht um folgendes: Der Kanton hat die Versorgungspflicht, das heisst, er muss dafür sorgen, dass die Bevölkerung eine ausreichende, gute und wirtschaftliche medizinische Versorgung im stationären Akutbereich erhält. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Kanton diese Aufgabe nur erfüllen kann, wenn er eigene Spitäler unterhält. Das war im übrigen bisher auch der Fall, gehören ihm doch einerseits das Universitätsspital (USZ) als grosses Spital und gleichzeitig letztes in der Versorgungskette, aber anderseits eben auch das KSW, das zweitgrösste Spital im Kanton, das für die medizinische Grundversorgung in der nördlichen Hälfte des Kantons unverzichtbar ist. Deshalb ist für mich absolut nicht nachvollziehbar, weshalb es in eine AG umgewandelt werden soll.

 

 

Als wichtiger Grund wird im Abstimmungsbüchlein genannt, dass der Kanton die Rahmenbedingungen für die Spitäler festlege und deren Einhaltung kontrolliere, aber auch selber Spitäler betreibe: «Der Kanton ist damit gleichzeitig Schiedsrichter und Spieler.» Das geht tatsächlich nicht, oder?
Hier wird der Rollen- beziehungsweise Interessenskonflikt angesprochen, der darin besteht, dass die Regierung gleichzeitig Regulatorin und Leistungserbringerin ist. Allerdings fällt auf, dass andere Spitäler darin offensichtlich kein Problem sehen. Kein Wunder: Es liegt im Wesen von staatlich erbrachten Leistungen, dass der Staat Regulator und Erbringer in einem ist. Bei der Stromversorgung beispielsweise ist das auch so, und niemand stört sich daran. Zudem hat sich die Regierung im Rahmen des gesetzgeberischen Prozesses für die beiden Vorlagen, über die wir nun abstimmen, dagegen gewehrt, dass die Aktionärsrechte in der Finanzdirektion angesiedelt werden und die regulatorischen Elemente bei der Gesundheitsdirektion. Wenn die Regierung tatsächlich etwas gegen den Rollenkonflikt hätte unternehmen wollen, hätte sie sich kaum derart gesträubt.

 

 

Wie ist das zu verstehen?
Auch wenn das Spital als AG organisiert ist, besteht ein Rollenkonflikt; dieser ist somit lediglich ein vorgeschobener Grund. Und selbst wenn es ihn wirklich gäbe, müsste das KSW immer noch nicht zwingend in eine AG umgewandelt werden. Es gäbe auch noch andere mögliche Rechtsformen, beispielsweise eine Stiftung.
Im Abstimmungsbüchlein heisst es weiter, dass nach der Umwandlung in eine AG die Aktienmehrheit für fünf Jahre beim Kanton bleibt. Müssten die Aktien, wenn schon, nicht sofort verkauft werden?
Es wird bei den beiden Vorlagen sowieso nicht transparent, was der Kanton mit dem KSW beziehungsweise der IPW vorhat; zumindest hat er nie genau gesagt, was er will. Der Regierungsrat ist zwar offenbar fest entschlossen, mittelfristig Aktien zu verkaufen, doch ob er die Aktienmehrheit behalten will oder nicht, hat er nie mitgeteilt. Kurz: Wenn wir den beiden Vorlagen an der Urne zustimmen, kaufen wir die Katze im Sack.

 
Weshalb wird dann überhaupt erwähnt, dass der Kanton vorerst Alleinaktionär bleibt und erst nach fünf Jahren seine Anteile verkaufen kann?
Das ist nicht nachvollziehbar, denn dafür braucht es kein neues Gesetz. Denkbar wäre, dass man, wenn der Kanton die Aktien dereinst nicht mehr will, abklärt, ob die Gemeinden im Bezirk Winterthur und eventuell dem Bezirk Andelfingen das KSW übernehmen möchten. Das Spital wäre dann, ähnlich wie das Spital Limmattal, ein von den Gemeinden getragenes Regionalspital. Doch angesichts der finanziellen Lage der Stadt Winterthur wie auch der umliegenden Gemeinden ist dies keine Möglichkeit. Denn sie wären gar nicht in der Lage, das KSW zu übernehmen und fortan die finanzielle Verantwortung dafür zu tragen.

 
Das KSW rentiert demnach einfach zu wenig?
Ich werde den Eindruck nicht los, dass der Kanton das Spital relativ bald loswerden möchte, und zwar tatsächlich wegen der Kosten: Es stehen umfangreiche Erneuerungsarbeiten an, die grosse Investitionen bedingen. Seit der schweizweiten Neuorganisation der Spitalfinanzierung im Jahr 2012 müssen die Spitäler das Geld für ihre Investitionen selber erwirtschaften. Mittlerweile ist man sich allerdings von links bis rechts einig, dass der Investitionsanteil an den DRG, den Fallpauschalen, nicht kostendeckend ist. Das heisst, dass ein Spital, dessen Strukturen relativ umfassend amortisiert sind, heute sehr kostengünstig arbeiten kann. Mittelfristig aber wird es nicht mehr so gut dastehen, weil es dannzumal die gesamten Investitionen selber stemmen muss.

 

 

Will heissen, der Kanton als Eigentümer hat es in den letzten Jahren unterlassen, die nötigen Investitionen zu tätigen, und will sich nun aus der Verantwortung stehlen?
Der Kanton spart seit 20 Jahren und vernachlässigt darob logischerweise auch seine Investitionstätigkeit. Das KSW wie auch das USZ mussten in dieser Zeit hintenanstehen – was im Klartext heisst, dass sie, bis auf einige wenige, absolut unerlässliche Sanierungsarbeiten, leer ausgingen.
Eine AG will normalerweise Geld an die AktionärInnen ausschütten können, was wohl schwierig wird, wenn man erst mal kräftig investieren muss: Gibt es überhaupt jemanden, der das KSW und die IPW übernehmen wollte?
Es gibt deutsche Spitalketten, die in den Startlöchern stehen, um das KSW zu übernehmen. Das KSW ist heute eines der gut wirtschaftenden Spitäler, da es keine Spitzenmedizin anbietet und gleichzeitig eine ausreichende Grösse aufweist, was die Fallzahlen anbelangt: Je mehr Fälle des gleichen Typs ein Spital behandeln kann, desto mehr lohnt es sich wirtschaftlich. Kurz: Wenn es irgend ein Spital gibt, das jetzt von der öffentlichen Hand geführt wird und für Private interessant ist, dann ist es das KSW. Grundsätzlich haben wir in der Schweiz aber die sonderbare Situation, dass die Spitäler mit ausschliesslich allgemeinversicherten PatientInnen, die über DRG abgerechnet werden, nicht kostendeckend, geschweige denn gewinnbringend arbeiten können. Gewinne einzufahren ist nur möglich, wenn ein gewisser Anteil Zusatzversicherter behandelt werden kann.

 

 

Was ist daran so schlecht? Es müssen ja sowieso alle behandelt werden.
Dieser Umstand führt nicht nur zu mehr Wettbewerb, sondern vor allem zu einer ungesunden Dynamik: Alle Spitäler investieren in neue Anlagen, neue Infrastrukturen und mehr Kapazitäten, um attraktiv zu werden für Zusatzversicherte. Gleichzeitig führen sie einen zweiten Kampf, den nämlich, möglichst viele ÄrztInnen dazu zu bringen, ihre Patient­Innen ans eigene Spital zu überweisen. Das KSW hat zu diesem Zweck bereits eine eigene Permanence in Wallisellen eröffnet.

 

 

Wie sieht es diesbezüglich bei der IPW aus? Ist diese auch attraktiv für potenzielle KäuferInnen?
Nein, wirtschaftlich ist die Psychia­trie sicher nicht attraktiv, und das kann und soll sie auch nicht sein. Ein Grund dafür ist, dass dort zwar auch Fallpauschalen existieren, aber nicht in gleicher Konsequenz wie bei den DRG. Vor allem aber finde ich es mehr als störend, dass bei einem derart heiklen Thema wie der Psychiatrie überhaupt an eine Privatisierung gedacht wird. Immerhin hat es die IPW mit sehr fragilen PatientInnen zu tun. ‹Massenware› wie beispielsweise Blinddarmoperationen gibt es hier nicht; jede Patientin, jeder Patient muss individuell begleitet und behandelt werden. Allein bei der Vorstellung, dass sich MinderheitsaktionärInnen aus reinem Gewinnstreben an die Psychiatrie heranmachen könnten, zieht sich in mir alles zusammen. Dass die IPW nicht mehr von der öffentlichen Hand geführt wird, ist für mich unvorstellbar.

 

 

Warum möchte der Regierungsrat auch die IPW zu einer AG machen, obwohl es kaum jemanden gibt, der sie übernehmen möchte?
Ein Argument der Regierung für die Umwandlung in eine AG lautet, die Spitäler müssten «flexibel Kooperationen eingehen» können. Das leuchtet soweit ein, nur: Dafür müsste man aus der IPW keine AG machen, das könnte sie auch, wenn sie als öffentlich-rechtliche Anstalt organisiert wäre; ja selbst in der heutigen Form als Verwaltungseinheit sind Kooperationen durchaus möglich.

 

 

Aber im Abstimmungsbüchlein heisst es, wie bereits erwähnt, von einer Umwandlung in eine AG profitierten «insbesondere» die PatientInnen. Warum sollen sie das nicht tun dürfen?
Die ehrliche Antwort lautet: Eine gute flächendeckende Spitalversorgung kann nur die öffentliche Hand bieten. Zum Vergleich: Wir haben eine grosse Privatklinik im Kanton, die Hirslanden-Klinik. Weniger als 25 Prozent der PatientInnen, die sie behandelt, sind allgemein versichert. Solche Kliniken betreiben Rosinenpickerei und nehmen den anderen den Anteil ‹guter›, sprich zusatzversicherter Patient­Innen weg, auf den diese angewiesen sind. Dazu kommt, dass die allgemein versicherten PatientInnen in einem solchen System zu PatientInnen zweiter Klasse werden – aber eine Zwei-Klassen-Medizin sollte im schweizerischen Gesundheitswesen systemfremd sein.

 

 

Die Vorlagen sehen auch vor, dass das Personal von KSW und IPW künftig privatrechtlich angestellt werden soll. Was ist davon zu halten?
Zurzeit ist der Personalmangel in den Spitälern enorm, weshalb kaum die Gefahr besteht, dass diese Änderung generell zu schlechteren Arbeitsbedingungen fürs Personal führt. Doch es ist davon auszugehen, dass sich die Lohnschere zwischen dem Spitzenpersonal und dem medizinischen Bodenpersonal noch stärker öffnen wird. Auch die unterstützenden Tätigkeiten wie etwa die Hotellerie und die Reinigung dürften lohnmässig unter Druck kommen. Umgekehrt muss man aber auch klar festhalten, dass die Arbeitsbedingungen der kantonalen Angestellten nach 20 Jahren sparen, sprich nach jahrelangem Verzicht auf Stufenanstiege und mit immer noch nur vier Wochen Ferien, nicht mehr gut sind. So gesehen, gilt es angesichts dieser Vorlagen nicht in erster Linie um den Erhalt der öffentlich-rechtlichen Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Um so heuchlerischer ist es umgekehrt, dass sich die Kantonsratsmehrheit gegen eine Verhandlungspflicht für einen Gesamtarbeitsvertrag gewehrt hat.

 

 

Zusammengefasst: Weshalb sind die beiden Vorlagen abzulehnen?
Wir brauchen in der jetzigen Situation nicht noch mehr gewinnorientierte Spitäler, die als AG geführt werden und bei den Zusatzversicherten Rosinenpickerei betreiben. Wir brauchen nicht noch mehr Überkapazitäten. Wir wollen keine Zwei-Klassen-Medizin, in der Allgemeinversicherte nur noch erwünscht sind, wenn es für ein Spital darum geht, auf die nötigen Fallzahlen zu kommen. Wir wollen auch weiterhin Abteilungen – wie etwa die Palliativabteilung im Waidspital –, die sich nicht gewinnbringend betreiben lassen, aber nichtsdestotrotz unerlässlich sind für eine umfassende und innovative Versorgung.

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