Widerstand gegen Energiestrategie bröckelt

Am Anfang lehnten 43 Prozent der Nationalratsmitglieder die neue Schweizer Energiestrategie noch ab; in der Eintretensdebatte im Dezember 2014 unterstützten sie einen Rückweisungsantrag von Christian Wasserfallen (FDP/BE). Inzwischen schmolz der Widerstand im Nationalrat auf 34 Prozent, in beiden Parlamentskammern zusammen auf 32 Prozent.

 

von Hanspeter Guggenbühl
Die Gründe: Das Parlament hatte einige umstrittene Punkte der bundesrätlichen Vorlage abgeschwächt, und die Mehrheit des Freisinns wechselte vom Nein- ins Ja-Lager. Das führte in den Schlussabstimmungen vom letzten Freitag zu folgenden Resultaten:
•    Der Nationalrat stimmte der Energiestrategie mit 120 gegen 72 Stimmen zu. Gegen die Vorlage votierten 59 Mitglieder der SVP-Fraktion und 13 Freisinnige. Neun Mitglieder der SVP widersetzten sich der Nein-Parole ihrer Fraktion, nämlich fünf mit einem Ja zur Vorlage und vier mit Stimmenthaltung. Je eine weitere Enthaltung entfiel auf die FDP und BDP. Alle andern Fraktionen stimmten geschlossen Ja.
•    Der Ständerat befürwortete die Vorlage mit 35 gegen 6 Stimmen; dagegen stimmten die fünf SVP-Standesherren sowie FDP-Mann Andrea Caroni (AR). FDP-Vertreter Thomas Hefti (GL) und die beiden CVP-Ständeräte Iso­dor Baumann (UR) und Peter Hegglin (ZG) enthielten sich der Stimme.

 

Eiertanz ums Referendum
Nach dem Ja in der Schlussabstimmung beginnt jetzt die Referendumsfrist. Eine kleine Organisation, die sich «Alliance Energie» nennt, über eine Homepage und eine E-Mail-Adresse verfügt, hat das Referendum bereits angekündigt. Der Vorstand der reichen SVP ist ebenfalls für das Referendum, will es aber nur ergreifen, wenn «die Wirtschaft» dieses mitträgt und finanziert. Der definitive Entscheid dazu falle «in den nächsten Tagen», kündigte SVP-Präsident Albert Rösti gestern im Nationalrat an.
Der Wirtschaftsverband Economiesuisse hat diese Unterstützung schon früher abgelehnt, der Gewerbeverband wartet ab. Darum verschickt SVP-Nationalrat und Bankier Thomas Matter zurzeit Bettelbriefe an zahlungskräftige Wirtschaftsleute und erklärt ihnen: «Das Referendum und die Volksabstimmung kosten erfahrungsgemäss mehrere Millionen Franken.»

 

Wenig Support für ein Nein
Der Eiertanz der SVP zeigt: Das Referendum kann zwar zustande kommen, geniesst aber wenig Support, wenn die – anfänglich oppositionellen – Wirtschaftsverbände passiv bleiben. Denn mit Ausnahme der SVP und einer FDP-Minderheit unterstützen alle politischen Parteien die jetzt beschlossene Vorlage. Ebenfalls zu den Befürwortern gehören die Umweltverbände, die Cleantech-Branchen sowie die Strom- und Berggebietslobby.
Einer allfälligen Abstimmung blicken die BefürworterInnen denn auch gelassen entgegen. Das illustrierte der grünliberale Martin Bäumle am letzten Freitag im Nationalrat mit folgenden Votum: «Sollte Herr Rösti (SVP-Präsident) das Referendum lancieren, so werde ich auf seinem Bogen unterschreiben, damit das Volk Ja zu dem sagen kann, zu dem wir heute als Grünliberale und als Rat Ja sagen.»
Wenn die GegnerInnen 50 000 Referendumsunterschriften zusammenbringen, wird das Schweizer Volk voraussichtlich im Mai 2017 darüber abstimmen. Falls die Abstimmenden dem Parlament folgen und die Vorlage befürworten, kann die neue Energiestrategie im Januar 2018 in Kraft treten. Das jedenfalls hofft das BFE. Die dazu notwendigen verwaltungsinternen Arbeiten, insbesondere die Erarbeitung oder Revision von Ausführungsverordnungen, wird das Energiedepartement bereits während der Referendumsfrist in Angriff nehmen.
Und die Atominitiative?
Keinen Einfluss auf obigen Fahrplan habe der Volksentscheid über die grüne Atomausstiegs-Ini­tiative, erklären BFE-Mitarbeiter. Denn eine Kopplung dieser Initiative mit der Vorlage zur Energiestrategie hat das Parlament schon früher abgelehnt. Die Ausstiegsinitiative verlangt, dass die Laufzeit aller Schweizer Atomkraftwerke auf maximal 45 Jahre  begrenzt wird; die Abstimmung darüber findet am 27. November, also in zwei Monaten statt.
Falls das Volk der Initiative zustimmt, kann sie direkt umgesetzt werden und die Energiewende beschleunigen. Denn die am letzten Freitag beschlossene Vorlage zur Energiestrategie sieht keine Laufzeitbegrenzung für alte Atomkraftwerke vor.


So wird Gewendet

Die «Energiestrategie 2050» bezweckt, die heutige Schweizer Energieversorgung zu wenden.  Der Konsum der nicht erneuerbaren Energieträger Erdöl, Erdgas und Uran wird einerseits mit Effizienzsteigerungen gesenkt, andererseits durch vermehrte Nutzung von erneuerbarer Energie ersetzt. Und neue Atomkraftwerke sind verboten. Damit kann die Schweiz gleichzeitig ihren CO2-Ausstoss reduzieren, den Klimawandel bremsen und die Risiken der Atomenergie verringern.
Formal wird diese Wende mit einer Revision mehrerer Gesetze geregelt. Diese Vorlage des Bundesrates hat das Parlament Ende September gegen den Widerstand der SVP genehmigt. Inhaltlich entspreche die bereinigte Vorlage noch zu 80 Prozent dem Entwurf, schätzt der soeben pensionierte Chef des Bundesamtes für Energie, Walter Steinmann, der sie wesentlich mitprägte: Der Konsum von Endenergie soll bis 2035 pro Kopf um 43 Prozent unter das Niveau im Jahr 2000 gesenkt werden, der Pro-Kopf Verbrauch von Strom soll um 13 Prozent sinken. Die Stromproduktion aus erneuerbarer Energie (exklusive Wasserkraft) soll im Jahr 2035 auf 11,5 Milliarden Kilowattstunden (Mrd. kWh) steigen; das entspricht einem Anteil von knapp 20 Prozent an der heutigen inländischen Stromproduktion.
Das Parlament hat diese Ziele in «Richtwerte» umgetauft und das ursprüngliche erneuerbare Produktionsziel des Bundesrates von 14,5 auf 11,4 Mrd. kWh gesenkt. Damit die Richtwerte erreichet werden, braucht es in einer zweiten Vorlage zur Energiestrategie zusätzliche Mittel oder Unterlassungen, unter anderem eine Lenkungsabgabe auf Energie. Eine entsprechende Vorlage bereitet der Bundesrat zurzeit vor: Der CO2-Ausstoss (und damit der fossile Treibstoffverbrauch) von neuen Personenwagen wird analog zur EU begrenzt; Verbrauchsgrenzwerte gibt es auch für Liefer- und leichte Lastwagen. Der zulässige Verbrauch von neuen Elektrogeräten wird im Gleichschritt mit der EU ebenfalls weiter gesenkt. Diese Vorschriften gehören zu den wirkungsvollsten Massnahmen der Energiestrategie, um den Energiebedarf zu senken.
Die bestehende Abgabe auf fossilen Brennstoffen kann weiterhin auf maximal 120 Franken pro Tonne CO2 erhöht werden. Der Netzzuschlag für die Förderung von erneuerbarer Energie wird erhöht von heute 1,5 auf maximal 2,3 Rappen pro kWh Stromverbrauch. Anlagen zur Nutzung von erneuerbarer Energie werden zum «nationalen Interesse» erklärt und im Konfliktfall gleichrangig bewertet wie der Natur- und Landschaftsschutz. hpg.

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