Wettbewerb? Welcher Wettbewerb?

 

Geht es nach dem Regierungsrat, soll die Integrierte Psychiatrie Winterthur von einer kantonalen Klinik in eine AG umgewandelt werden. Warum das keine gute Idee ist, erklärt Andreas Daurù* im Gespräch mit P.S.

 

Der Regierungsrat hält eine AG für nötig, damit sich die Integrierte Psychiatrie Winterthur IPW «unter den neuen Rahmenbedingungen, die im Spitalbereich in der Schweiz seit 2012 gelten, ihre Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit langfristig sichern» kann, wie er in seiner Medienmitteilung vom 21. Mai schreibt. Wie muss man sich den Wettbewerb vorstellen, dem psychiatrische Kliniken hierzulande ausgesetzt sind?

Andreas Daurù: Den Wettbewerb unter psychiatrischen Kliniken gibt es nicht, genausowenig wie den unter ‹gewöhnlichen› Spitälern, und zwar aus einem einfachen Grund: Es gibt in diesem Bereich keinen freien Markt. Um von einem solchen reden zu können, müssten die Gesundheitskosten zu 100 Prozent privat finanziert werden. Stattdessen übernehmen die Krankenkassen seit der Einführung der Fallpauschalen 45 Prozent der Kosten, und die restlichen 55 Prozent werden mit Steuergeldern bezahlt. Der Staat ist somit sowohl finanziell involviert als auch an der Steuerung des Angebots beteiligt, indem er die Spitalliste erstellt und die Aufgaben definiert, die die einzelnen Spitäler zu erfüllen haben. In der Psychiatrie gibt es zwar noch keine Fallpauschalen, doch sie sollen per 2018 eingeführt werden. Vorgaben zu den Angeboten der psychiatrischen Kliniken gibt es aber schon, und auch die macht nicht ‹der Markt›, sondern der Regierungsrat.

 

Was könnte der Regierungsrat denn meinen, wenn er in der erwähnten Medienmitteilung mit der «Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit» argumentiert, die mit der Umwandlung in eine AG «langfristig gesichert» werden soll?

Das wüsste ich auch gern. Tatsache ist, dass die meisten PatientInnen keine Wahlfreiheit haben, wenn sie psychiatrische Betreuung brauchen. Viele kommen ja nicht einmal freiwillig in die Klinik, sondern im Rahmen einer fürsorgerischen Unterbringung (FU). Am Rande bemerkt, liegt der Anteil der über eine FU hospitalisierten PatientInnen nirgends in der Schweiz so hoch wie im Kanton Zürich.

 

Aber alle andern PatientInnen könnten sich demnach künftig ihre Klinik selber aussuchen, wenn es den angestrebten Wettbewerb gäbe?

Auch das stimmt nicht. Denn gerade schwer psychisch kranke Menschen sind meist sehr verletzlich und vielfach nicht in der Lage, sich auf dem freien Markt auszusuchen, was sie brauchen. Und auch wenn sie dazu fähig sind, dann könnten sie es trotzdem nicht, und zwar aus strukturellen Gründen: Die PatientInnen werden normalerweise, wie es das Krankenversicherungsgesetz vorschreibt, von ihrem Arzt an eine Klinik überwiesen.

 

Der Manager mit dem Burnout geht doch nicht einfach in die erstbeste Klinik.

Dass sich privat versicherte PatientInnen erst bei verschiedenen Kliniken umschauen und dann entscheiden, wo sie sich in Behandlung begeben wollen – das kommt natürlich vor. Diese Art Wettbewerb, an dem lediglich eine Minderheit der PatientInnen überhaupt teilnehmen kann, existiert allerdings schon lange, und dafür braucht es keine AG.

 

Der Regierungsrat hält nicht nur mehr Wettbewerb, sondern auch mehr «unternehmerische Freiheit» für nötig. Mehr Freiheit ist doch immer gut?

Wenn eine Klinik einen Umbau plant oder mit einer anderen Institution kooperieren möchte, dann rennt sie heute, bildlich gesprochen, von einem Amt zum andern, bis sie ihre Pläne verwirklichen kann; das kann mühsam sein. Hier besteht denn auch tatsächlich Verbesserungspotenzial. Allerdings geht, wie kürzlich bekannt geworden, das neu geplante Gesetz fürs Unispital bereits in diese Richtung: Das Unispital soll künftig selber darüber entscheiden können, ob und wieviel es in seine Spitalbauten investieren will. Auch wegen diesem noch am ehesten sinnvollen Punkt braucht es deshalb keine privatisierte IPW AG.

 

Kliniken sind auch ohne AktionärInnen selbstständig genug, um sich behaupten zu können?

Ja, eine öffentlich-rechtliche Anstalt mit entsprechendem Baurecht würde dabei vollends genügen. Wichtig dabei ist aber, dass der Kantonsrat auch weiterhin eine genügende Kontroll- und Aufsichtsfunktion inne hat. Am nötigen Handlungsspielraum würde es dann nicht mangeln. Nötig und sinnvoll wäre z.B. auch ein Ausbau des ambulanten Angebots. Ich glaube allerdings nicht, dass die ambulante Versorgung besser würde, wenn die IPW eine AG wäre.

 

Warum nicht?

Gemäss der «Vision Psychiatrie» des Regierungsrats soll der Grundsatz «ambulant vor stationär» künftig auch in der Psychiatrie gelten. Damit bin ich einverstanden, vor allem dann, wenn Konzepte der aufsuchenden Psychiatrie verwirklicht werden können. In Luzern gibt es beispielsweise schon Versuche damit, dass eine oder mehrere Fachpersonen für die akute psychiatrische Betreuung bei der Patientin direkt zuhause vorbeikommen. Das Problem ist jedoch, dass solche Modelle finanziell schlecht abgestützt sind: Sie können nicht über die üblichen Tagespauschalen abgerechnet werden, sondern laufen über die Tarmed-Tarife, und sie lassen sich daher kaum kostendeckend ausgestalten. Zusätzlich muss die Patientin dafür via Franchise und Selbstbehalt mehr selber zahlen und der Kanton subventioniert sie zusätzlich über die gemeinwirtschaftlichen Leistungen. Kurz: Finanziell gesehen wären sie ein Verlustgeschäft für eine privatisierte IPW.

 

Also etwas, was eine AG nicht brauchen kann?

Private, die dereinst Aktien der IPW kaufen könnten, dürfte vor allen das interessieren, was rentiert. Das ambulante Angebot gehört nicht dazu; in diesen Bereich müssten sie erst mal viel investieren. Gleichzeitig käme für die Defizite der Klinik nicht mehr der Kanton auf, denn es handelte sich ja jetzt um eine private AG. Damit geriete das ambulante Angebot massiv unter Druck, es drohte ein Abbau – also das Gegenteil dessen, was sich der Kanton gemäss seiner «Vision Psychiatrie» wünscht.

 

Wenn er die Verantwortung an Private übergeben will, muss er wohl auch in Kauf nehmen, dass diese andere Visionen haben.

Das Dumme ist nur, dass ein Abbau des ambulanten Angebots für die Betroffenen alles andere als sinnvoll wäre: Gerade psychisch kranke Menschen sollten wenn immer möglich in ihrem gewohnten Umfeld betreut und nicht in Bettenburgen versorgt werden. Die Entwicklung der letzten Jahre zeigte klar in Richtung «mehr und bessere ambulante Angebote». Diese Entwicklung würde empfindlich gebremst, wenn man die dafür notwendigen Investitionen plötzlich herunterfahren und stattdessen das stationäre Angebot ausbauen würde.

 

Dann müsste halt eine andere Klinik ihr ambulantes Angebot erweitern.

Die IPW hat im Kanton Zürich diesbezüglich eine Vorreiterrolle inne, was den Aufbau sich ergänzender Strukturen und die Pflege des Netzwerks der AnbieterInnen auf dem Gebiet der ambulanten Psychiatrie betrifft. Sie bewegt sich sehr nah an der Vision des Kantons; ihre Zusammenarbeit mit der Stadt Winterthur ist beispielsweise im Bereich Sucht, aber auch in der Alterspsychiatrie bereits heute vorbildlich. Es wäre deshalb doppelt schade, wenn die IPW privatisiert und diese gute Zusammenarbeit aufs Spiel gesetzt würde. Zudem ist es ja nicht so, dass ambulante Angebote übers Ganze gesehen defizitär sind: Investitionen in diesen Bereich würden sich längerfristig volkswirtschaftlich durchaus auszahlen – aber eben: Längerfristig. AktionärInnen hingegen wollen normalerweise rascher Gewinne sehen.

 

In Akutspitälern rentieren stationäre Behandlungen beispielsweise dann, wenn es sich um nicht lebensnotwendige operative Eingriffe handelt. In der Psychiatrie gibt es das nicht – und dennoch rentieren stationäre Angebote besser?

Das lässt sich nicht so einfach beantworten: In der Psychiatrie sind die Behandlungen so individuell wie die PatientInnen verschieden. Es gibt keine standardisierte Verfahren; normalerweise führen verschiedene Behandlungsversuche über kürzere oder längere Zeit zu einem individuellen Behandlungsplan. Ein psychisches Leiden zu heilen, ist aufwendig – nicht nur rein psychiatrisch gesehen, sondern auch sozial.

 

Wie meinen Sie das?

Kurz zusammengefasst ist die psychiatrische Behandlung, wenn man sie denn richtig machen will, meiner Meinung nach ein ‹Verlustgeschäft›. Neuere Forderungen wie etwa jene danach, noch mehr und besser mit den ArbeitgeberInnen zusammenzuarbeiten, damit die berufliche Integration der PatientInnen nicht auf der Strecke bleibt, sind sowohl aus fachlicher Sicht wie auch aus jener der Betroffenen richtig und wichtig. Doch sie kosten nun mal Geld und Zeit, und ohne gut ausgebildetes Personal bleiben sie reines Wunschdenken.

 

Langsam bekomme ich den Eindruck, es würde sich gar niemand finden, der IPW-Aktien kaufen möchte…

Damit eine gut aufgestellte Institution wie die IPW genügend Profit für private InvestorInnen abwerfen könnte, müsste man sich wahrscheinlich auf jene Bereiche konzentrieren, die für Privatversicherte interessant sind. Man könnte beispielsweise eine private Burnout-Klinik machen, wie es sie im Sanatorium Kilchberg gibt, mit Wellness-Bereich und gehobener Hotellerie. Mit den damit erzielten Einnahmen könnte man jene Teile quersubventionieren, die man gemäss Spitalliste anbieten muss und die rein finanziell gesehen nicht rentieren. Allerdings gibt es mit Kilchberg, mit dem Schlössli in Oetwil am See und der Klinik Hohenegg in Meilen bereits ein gutes Angebot in diesem Bereich. Würde die IPW auch noch etwas Vergleichbares anbieten wollen, ginge dasselbe Wettrüsten los, wie es sich seit 2012 bereits die Akutspitäler liefern. Dass dabei dasselbe Überangebot herauskäme, das dort die Kosten in die Höhe treibt, lässt sich unschwer erahnen.

 

Was wiederum den AktionärInnen kaum gefallen würde…

Wenn die Rendite nicht mehr stimmt, müssen es sogenannte Effizienzgewinne richten – und das ist normalerweise gleichbedeutend mit Leistungsabbau. Dieser wiederum trifft jene am härtesten, die sich ihre Klinik nicht selbst aussuchen können und die auch sonst am schlimmsten dran sind, beispielsweise die Menschen mit einer schweren Depression oder jene, die an einer Persönlichkeitsstörung oder Schizophrenie leiden und, was häufig der Fall ist, zusätzlich von Armut betroffen sind.

 

Würden dann nicht einfach weniger fürsorgerische Unterbringungen angeordnet, um weniger dieser ‹teuren› PatientInnen versorgen zu müssen?

Dies wäre sicher keine gute und nachhaltige Lösung, wie vielleicht am Beispiel der USA aufgezeigt werden kann: Schwer psychisch Kranke leben dann einfach mehrheitlich als Obdachlose auf der Strasse oder landen im Gefängnis. Einen solches Gesundheitssystem bzw. eine solche psychiatrische Versorgung will in der Schweiz sicher niemand.

 

Immerhin besteht laut dem Regierungsrat angesichts des Fachkräftemangels keine Gefahr, dass sich die Forderung nach mehr Effizienz auch aufs Personal auswirken würde.

Müsste man meinen, ja. Aber leider ist keine Entwicklung in diese Richtung sichtbar. Der Kanton hätte bereits alle Zeit der Welt gehabt, um bessere Löhne zu zahlen… Oder nehmen wir die private Hirslanden-Klinik: Sie zahlt dem Pflegepersonal keine besseren Löhne, dabei müsste sie das doch längst tun, wenn der Fachkräftemangel wirklich das Thema wäre und sie nichtsdestotrotz die besten Leute haben wollte. Realistischerweise müssen wir damit rechnen, dass höchstens zuoberst, bei den ÄrztInnen, beim Lohn aufgestockt wird, während das Pflege- und Therapiepersonal im besten Fall nicht schlechter wegkommen dürfte als bisher – und das, obwohl der Druck künftig kaum abnimmt: «Aus Gründen der Effizienz» werden beispielsweise auch frei werdende Stellen nicht oder nicht sofort wieder besetzt.

 

In der Vernehmlassung zur Gesetzesvorlage zur IPW hat sich die SP gegen die Privatisierung ausgesprochen: Wie geht es nun weiter?

Nicht nur die SP, sondern auch CVP, EVP, BDP und SVP sowie die regionale Psychiatrie-Kommission Winterthur/Zürcher Unterland und der Winterthurer Stadtrat haben grosse Bedenken geäussert. Gesundheitsdirektor Heiniger jedoch ist darauf überhaupt nicht eingegangen. Sollte die Vorlage so durch den Kantonsrat gehen, wie sie jetzt ausgestaltet ist, versuchen wir im Parlament die fürs Behördenreferendum nötigen 60 Stimmen zusammenzubringen, und falls das nicht gelingt, ergreifen SP und VPOD das Referendum.

 

* Andreas Daurù ist Kantonsrat (SP, Winterthur) und Mitglied der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit KSSG; diese behandelt die Vorlage zur Verselbstständigung der IPW voraussichtlich im Oktober. Der Psychiatriepfleger ist zudem Präsident der Sektion Staatspersonal des VPOD Zürich.

 

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Veranstaltungshinweis:
 Diskussion zur Spitalprivatisierung mit Gesundheitsdirektor Thomas Heiniger, Dr. Traudel Saurenmann (KSW-Direktion), Pflegefachfrau Barbara Günthard-Fitze (ehemalige Präsidentin des Winterthurer Gemeinderates) sowie Andreas Daurù am Donnerstag, 25. Juni um 19 Uhr im Casinotheater Winterthur.

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