Wer für längere Zeit hier bleibt, soll sich integrieren dürfen

Den Ausgang der Abstimmungen vom 24. September bekommt auch das Sozialdepartement der Stadt Zürich zu spüren: Warum er sich für ein Ja zum Bundesverfahrenszentrum und ein Nein zum Sozialhilfestopp für vorläufig Aufgenommene engagiert, erklärt Stadtrat Raphael Golta im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Schon seit einiger Zeit kommen immer weniger Flüchtlinge in die Schweiz, und mit der kürzlich erfolgten Schliessung der Mittelmeerroute dürfte das in absehbarer Zeit auch so bleiben. Braucht es das Bundesverfahrenszentrum auf dem Duttweilerareal überhaupt noch?

Raphael Golta: Wenn uns die letzten zweieinhalb, drei Jahre etwas gezeigt haben, dann, dass man aus den jeweils aktuellen Zahlen nicht auf die Zukunft schliessen kann. Wir haben jedenfalls noch hängige Gesuche und Menschen, die neu zu uns kommen. Zudem ist der Stadtrat der Meinung, dass es sich bei der Unterbringung von Asylsuchenden um eine Gemeinschaftsaufgabe der ganzen Schweiz handelt und dass es der grössten Schweizer Stadt gut ansteht, nach dem erfolgreichen Testbetrieb auf dem Juch-Areal auch den definitiven Betrieb eines Bundesasylzentrums zu übernehmen.

 

Die SVP ist unter anderem gegen das Zentrum, weil es sich mitten in Zürich-West befindet, in direkter Nachbarschaft zum Toni-Areal und zur Ausgehmeile im neuen Teil des Kreis 5. Ist das wirklich der richtige Ort für ein Bundesverfahrenszentrum?

Wir haben nun mal nicht so viele grüne Wiesen in der Stadt Zürich… (lacht) Im Ernst: Es ist ein guter Standort, auch weil dort ein gewisser Austausch mit der Bevölkerung möglich ist. Zudem haben die Kreise 4 und 5 seinerzeit dem Testbetrieb sehr deutlich zugestimmt. Indem wir unsere Verantwortung wahrnehmen und das Zentrum betreiben, haben wir auch poltisch gewisse Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, beispielsweise darauf, wie der Bund, der das Zentrum bekanntlich bezahlt und betreibt, den Alltag der Flüchtlinge organisiert.

 

Kritik gab es im Gemeinderat auch von der linken Seite, gefordert wurde unter anderem, es dürfe keinen Zaun um das Zentrum herum geben, und die dort lebenden Kinder sollten nicht im Zentrum unterrichtet werden, sondern eine Schule im Quartier besuchen können.

Einen Zaun wird es nicht geben, aber dass dort 360 Menschen auf engem Raum zusammenleben werden, lässt sich nicht wegdiskutieren. Es wird aber gewisse Rückzugsmöglichkeiten geben. Was den Betrieb betrifft, sind wir mit dem Bund im Gespräch. Die entsprechende Verordnung ist in Bearbeitung, und wir haben unsere Anliegen deponiert. Für den Schulbesuch bin ich zuversichtlich, dass wir gute Lösungen ausserhalb des Zentrums finden. Natürlich kommt es auch noch darauf an, wie viele schulpflichtige Kinder gerade im Zentrum wohnen; je weniger es sind, desto einfacher ist es, den Schulraum in einem Schulhaus in der Nähe zur Verfügung zu stellen.

 

Kürzlich hat das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, das UNHCR, das Handyverbot in den Schweizer Asylzentren kritisiert.

Diese Kritik hat der Bund bereits aufgenommen. Das Handyverbot dürfte Vergangenheit sein. Dass es sich nicht aufrechterhalten lässt, ist übrigens mitunter eine Erkenntnis aus dem Testbetrieb auf dem Juch-Areal. Abgesehen davon, dass sich das Handy heutzutage nicht mehr aus dem Alltag wegdenken lässt, erleichtert die Aufhebung des Verbots auch den Betrieb: Man muss die Leute nicht mehr danach durchsuchen, und es gibt eine Beschäftigungsmöglichkeit mehr im Zentrum.

 

Das gibt sicher wieder Ärger mit jenen Kreisen, die einfach grundsätzlich gegen die Aufnahme von geflüchteten Menschen sind.

Im Asylbereich gibt alles Ärger mit irgendjemandem, das ist nun mal so. Mir ist es wichtig, dass die Leute kommunizieren, via Handy mit Bekannten Kontakt aufnehmen und einander besuchen können – und dass der Betrieb dadurch vereinfacht wird und ruhiger läuft. Ich bin mir bewusst, dass nie alle zufrieden sind. Im Gemeinderat stimmte jedoch nur die SVP gegen das Bundesverfahrenszentrum.

 

Immerhin können die GegnerInnen für einmal nicht mit den Kosten argumentieren…

Der Bau des Zentrums kostet uns nichts. Für den Schulbetrieb, der sich ausserhalb des Zentrums abspielt, kommt die Stadtkasse auf, weshalb wir zu gegebener Zeit eine Vorlage zuhanden des Gemeinderats ausarbeiten werden. Noch offene Fragen gibt es zurzeit zur Betreuung der unbegleiteten Minderjährigen sowie zu den Öffnungszeiten des Zentrums. Sie werden in der Verordnung geregelt, doch da diese wie gesagt noch in Bearbeitung ist, kann ich dazu noch keine definitive Aussage machen. Wir setzen uns für eine möglichst liberale Praxis ein.

 

Und das Bundesverfahrenszentrum wird am 24. angenommen?

Ich bin zuversichtlich, dass es ein Ja gibt. Sorgen macht mir hingegen die kantonale Abstimmung zur Aufhebung der Sozialhilfeleistungen für vorläufig Aufgenommene.

 

Weshalb?

Das Problem ist, dass eine Mehrheit des Kantonsrats im April in einem Anflug von Populisums auf eine parlamentarische Initiative der SVP aufgesprungen ist, wahrscheinlich mit dem Gedanken, das töne doch noch gut. Wie mir die Lektüre der Sitzungsprotokolle und Gespräche mit KantonsrätInnen gezeigt haben, hat man sich im Rat nicht mit dem Thema auseinandergesetzt – und als man gemerkt hat, was da eigentlich beschlossen wurde, hat man den Rückwärtsgang nicht mehr gefunden. Seither haben immerhin die CVP und die BDP ins Nein-Lager gewechselt, die GLP hat Stimmfreigabe beschlossen, und 26 Gemeinden haben das Gemeindereferendum ergriffen. Der Widerstand ist also gross …

 

… aber nicht ausreichend?

Das wird sich weisen. Ich habe mich von Anfang an eingeklinkt, sofort auf den Entscheid der kantonsrätlichen Kommission reagiert und versucht, via Medienarbeit, Gesprächen, Mails und anderen GemeindevertreterInnen die Debatte zu beeinflussen. Im Kantonsrat stellten die Linken den Rückkommensantrag, leider ohne Erfolg. So stimmen wir nun über eine Vorlage ab, die integrationspolitisch völlig quer in der Landschaft steht.

 

Den vorläufig Aufgenommenen weniger Geld zu geben, wünscht ja nicht bloss die Mehrheit des Kantonsrats: 2015 wurde auf eidgenössischer Ebene mit dem Ja zur Asylgesetzrevision entschieden, dass sie weniger Sozialhilfe bekommen müssen als die einheimische Bevölkerung.

Dafür hätte es andere Wege gegeben: Ich habe den Kantonsrat darauf aufmerksam gemacht, dass er auch im Rahmen der Sozialhilfe einen tieferen Grundbedarf für die vorläufig Aufgenommenen festsetzen könnte – so würde der Bundesgesetzgebung nachgelebt, ohne dass die gesamte Integrationsarbeit erschwert würde. Der Kantonsrat ist jedoch nicht darauf eingegangen.

 

Bleibt der Abstimmungskampf, doch der fällt kurz aus, da er erst nach den Sommerferien so richtig starten konnte, und obendrein ist die Materie komplex.

So schwierig ist es nicht, zu erklären, warum die Vorlage abzulehnen ist. Es ist eher eine Frage, ob man die Kanäle bekommt, um die Botschaft zu verbreiten. Den Menschen, mit denen ich geredet habe, hat sie jedenfalls eingeleuchtet. Kurz: Die Argumente sind dieselben, die bei der Vorlage zur Änderung des Sozialgesetzes verfingen, über die am 4. September 2011 abgestimmt wurde. Damals beschloss eine Mehrheit von gut 60 Prozent der Stimmenden, dass die vorläufig Aufgenommenen nicht mehr Asylfürsorge, sondern Sozialhilfe erhalten sollten. Ein Hauptargument lautete, dass dank Sozialhilfe und damit verknüpfter Leistungen die Integration von Menschen ermöglicht beziehungsweise gefördert wird, die für längere Zeit hier bleiben, wenn nicht für immer. Das gilt nach wie vor – und genau das ist den Rechten ein Dorn im Auge.

 

Umgekehrt müssen EmpfängerInnen von Sozialhilfe damit rechnen, dass man ihnen bestimmte Auflagen macht – und dass sie Sanktionen in Kauf nehmen müssen, wenn sie diese nicht erfüllen. Das sollte doch die Rechten überzeugen.

Ich finde es wichtiger, dass den Leuten bewusst ist, dass vorläufig Aufgenommene praktisch immer Menschen sind, die aus Kriegs- und Krisengebieten hierher geflüchtet sind, etwa aus Syrien. Der Begriff «vorläufig Aufgenommene» ist insofern irreführend, als dass er lediglich ausdrückt, dass diese Menschen nicht individuell verfolgt sind. Dass ihre Heimat vom Krieg zerstört ist und sie noch lange nicht, möglicherweise auch nie mehr dorthin zurückkehren können, ist hingegen eine Tatsache.

 

Die Rechten reklamieren, wenn sie schon nicht zurück könnten, sollten sie mindestens arbeiten.

Die Realität ist die: Wenn wir diesen Menschen keine Möglichkeiten bieten, die Sprache zu lernen, sich zu integrieren und sich nach unserem System beruflich zu qualifizieren, dann sind sie auch in zehn Jahren noch hier, sie wohnen immer noch in einer Kollektivunterkunft, und sie sind nach wie vor von der Sozialhilfe abhängig. Wenn wir wollen, dass sie arbeiten, müssen wir erst in ihre sprachliche und berufliche Integration investieren. Tun wir das nicht, möchte ich die PolitikerInnen sehen, die in zehn Jahren die Verantwortung dafür übernehmen, dass diese Menschen keine Arbeit haben und von Sozialhilfe leben.

 

Laut der Abstimmungszeitung arbeitet jedoch nur etwa ein Drittel der vorläufig Aufgenommenen. 

Die dort wiedergegebene Statistik ist nicht sehr aussagekräftig. Denn wer sich gut integriert und Arbeit findet, kann nach fünf Jahren die Aufenthaltsbewilligung B beantragen und fällt damit aus der Statistik heraus. In den letzten Jahren kamen jedoch viele Kriegsflüchtlinge neu an. Schaut man sich die Statistik an, in der die vorläufig Aufgenommenen erfasst sind, die seit sechs bis sieben Jahren hier sind, dann ist die Quote jener, die arbeitstätig sind, gestiegen; sie liegt zurzeit bei 54,2 Prozent. Dieser Wert ist deutlich höher als der gesamtschweizerische Durchschnitt.

 

Mal angenommen, der ‹Worst Case› tritt ein und die Vorlage kommt durch: Wie geht es dann weiter?

Das würde heissen, der Kanton verabschiedet sich von der Integration vorläufig Aufgenommener. Jede Gemeinde müsste künftig Sprach- und Berufsbildungskurse für diese Menschen selber bezahlen oder würde – falls sie es sich nicht leisten kann – keine Integrationssmassnahmen mehr anbieten. Die Rechnung würden am Schluss wir alle bezahlen. Denn vorläufig Aufgenommene, die langfristig hier bleiben, sich aber nicht integrieren können, würden die Sozialhilfekosten stark belasten.

 

Es gibt etliche Freiwilligenorganisationen, die Kirchen engagieren sich – die könnten doch einspringen.

Das ist die nächste Stufe, doch die Freiwilligen- und Nichtregierungsorganisationen sind heute schon am Anschlag, die Kirchen ebenso. Wir können ihnen nicht immer mehr aufbürden. Als vor zwei Jahren viele Flüchtlinge aus Syrien nach Zürich kamen, haben wir aus der Zivilgesellschaft ein grosses Engagement gespürt, die Leute haben sich gemeldet, weil sie Flüchtlinge bei sich unterbringen, Sprachprojekte anbieten oder sonstwie helfen wollen. Das war toll, doch damit wurde die Latte hoch gelegt – und wir möchten das hohe Niveau auch halten können.

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