Vom Parlamentsbetrieb zur à-la-carte-Politik

38 Jahre war Niklaus Scherr (AL) Mitglied des Zürcher Gemeinderats. Am Mittwoch sitzt er zum letzten Mal an seinem Platz im Rathaus; im Gespräch mit Nicole Soland zieht er Bilanz.

 

Fast vierzig Jahre im Zürcher Gemeinderat – und das obendrein als gebürtiger Basler: Das dürfte Ihnen so bald niemand nachmachen. Wie hat es Sie eigentlich nach Zürich verschlagen?
Niklaus Scherr: Zu Beginn der 1970er-Jahre streckte die aus der Basler Studentenbewegung hervorgegangene Partei der Progressiven Organisationen der Schweiz, kurz POCH, ihre Fühler nach Zürich aus. Ich gehörte der POCH an, war jedoch nicht Teil dieses geplanten Exports von ParteiexponentInnen an die Limmat, sondern kam aus rein privaten Gründen nach Zürich: Meine damalige Freundin und spätere Frau arbeitete bei der Buchhandlung Pinkus, und ich bekam einen Job als Sekretär der 1971 gegründeten POCH Zürich.

 

Der Gemeinderat reizte Sie damals noch nicht?
Er war kein Thema: Bei der POCH Zürich war es ein Tabu, als Funktionär auch noch ein Parlamentsmandat zu übernehmen. Erst 1978, als ich nicht mehr Parteisekretär war, wurde die Frage für mich aktuell. Damals gab es einen grossen Kampf zwischen der POCH und der Partei der Arbeit, der PdA: Beide versuchten, den Schriftsteller Walter Matthias Diggelmann auf ihre Gemeinderatsliste zu bekommen. Weil die POCH-Leute trinkfester waren, sagte er schliesslich, morgens um vier nach der zehnten Flasche Amselfelder, bei uns zu.

 

Was hatten POCH und PdA gegeneinander?
Die Rivalität zwischen den beiden Parteien war gross, und für uns war es ein Sieg, dass Diggelmann im Frühling 1978 für uns antrat. Dass er mir dann auf der Liste vor die Nase gesetzt wurde, war ebenfalls Ausdruck einer Rivalität, diesmal einer inner-parteilichen – es siegten jene Leute, die mich als Gemeinderat verhindern wollten. Doch weil Diggelmann an Krebs erkrankt war – was wir nicht wussten, als wir um ihn warben –, trat er nach wenigen Monaten wieder zurück. Ich erbte seinen Sitz und wurde am 25. August 1978 POCH-Gemeinderat für die Kreise 4 und 5.

 

Wie erlebten Sie damals die Arbeit im Rat?
Wir waren nie mehr als zwei bis vier POCH-Leute, hatten also keine Fraktionsstärke und waren damit auch nicht in den Kommissionen vertreten. Wir trafen uns mittwochs jeweils um 16.15 Uhr in einem Café in der Nähe des Rathauses und machten ab, zu welchen Geschäften wir etwas sagen würden. Es ging lockerer zu und her als heute. Aber ohne Zugang zu den Kommissionen blieb uns nur die Möglichkeit, die Regierung herauszufordern.

 

Störte es Sie nicht, dass Ihr Handlungsspielraum derart begrenzt war?
Es hat mich sicher geprägt, dass ich nicht von Anfang an im institutionellen Zirkus drin war, sondern auf einem anderen Weg meine Rolle finden musste. Als negativ habe ich das allerdings nie gewertet, im Gegenteil: Als Aussenseiter legt man sich Hornhaut zu und lernt, sich durchzusetzen. Die Zeit als Gemeinderat der POCH fiel zudem mit der Endphase des Kalten Krieges zusammen. Während der Jugendunruhen wurden wir von der Mehrheit als «der Feind innerhalb der Institution» begriffen und auch so behandelt. War draussen gerade eine Demo im Gang, konnte einem im Foyer des Ratshauses auch ein Sozialdemokrat schon mal drohen, «ich würde gern einen Flammenwerfer nehmen und dich grillieren».

 

Wie hat sich der Wechsel zur AL ergeben?
Nach dem kompletten politischen Paradigmenwechsel von 1989/90 war allen klar, dass sich die POCH auflösen würde. Die meisten von uns gingen zu den Grünen, ein paar auch zur SP. Die Gruppe jener, die der Zürcher 80er-Bewegung nahestanden, taten sich zu «Züri 1990» zusammen. Für die Wahlen schien uns dieser Name allerdings ungeeignet, wir fanden, er töne nach Landesring… Wir einigten uns schliesslich auf «Alternative Liste» und traten mit dem Filmer Samir, mit Koni Frei, mit den MusikerInnen Vera Kaa und Rams sowohl als ‹Stimme der Kultur› wie auch mit einem Hauch Utopie an. Ausser einem kurzen Unterbruch 2007 waren wir im Rat sodann stets in Fraktionen dabei, zu Beginn mit «Frauen macht Politik», kurz FraP!, danach mit den Grünen. Mein Wechsel von der POCH zur AL fiel mit dem Wechsel in der Stadt Zürich zu einer rot-grünen Mehrheit zusammen, und seit 2006 bildet die AL im Gemeinderat eine eigene Fraktion.

 

Womit Sie mehr Einfluss bekamen?
Nicht unbedingt: Einige Themen haben mich während meiner ganzen Gemeinderatszeit beschäftigt, das heisst, ich konnte sie bereits als POCH-Gemeinderat anpacken.

 

Welche – und wie war das möglich?
Zwei Beispiele: Für die Revision der Geschäftsordnung des Gemeinderats sowie für die Revision der Bau- und Zonenordnung (BZO), welche die damalige Hochbauvorsteherin Ursula Koch (SP) aufgegleist hatte, beschloss der Rat, zusätzlich zu den 17 ständigen Mitgliedern der vorberatenden Kommissionen zwei Mitglieder von Parteien aufzunehmen, die nicht Fraktionsstärke hatten. Gemeint waren die AL und die Nationale Aktion, konkret Christoph Spiess und ich. Zur BZO führte ich mit Ursula Koch sodann sehr intensive Debatten.

 

Worüber?
Was die strategischen Optionen beziehungsweise das Inhaltliche angeht, hatte ich keine Differenzen mit ihr: Sie legte eine visionäre BZO vor. 1988 wurde ich zudem Geschäftsführer beim Mieterverband Zürich, und auch als dessen Vertreter wollte ich die Abstimmung unbedingt gewinnen. Der Dissens mit Ursula Koch bezog sich auf das Vorgehen, auf ihre Art der Kampagnenführung. Um ihre BZO war ein enormer Kampf entbrannt, die Bürgerlichen und ihre Grund-und-Boden-Mafia gaben alles, doch wir gewannen – bis der SVP-Regierungsrat Hans Hofmann 1995 der Stadt seine eigene BZO aufs Auge drückte.

 

Gegen diesen Coup fand offensichtlich niemand ein Mittel, auch die AL nicht.
Der Stadtrat wollte vor Bundesgericht gehen, und ich bin überzeugt, dass wir gewonnen hätten. Aber für den Gang vor Gericht brauchte er die Zustimmung des Gemeinderats. Wir verloren die Abstimmung mit 59 zu 60 Stimmen. Hätte sich nicht ausgerechnet Kathy Riklin von der CVP der Stimme enthalten, wäre es 60:60 gewesen – und die damalige Ratspräsidentin Reni Huber von der FraP! hätte den Stichentscheid fällen und uns zum Sieg verhelfen können.

 

Warum «ausgerechnet» Kathy Riklin?
1988 gab es einen Putsch im Zürcher Stadtrat: Thomas Wagner (FDP) und Kurt Egloff (SVP) stellten Antrag, den BZO-Entwurf von Ursula Koch durch einen andern zu ersetzen, und setzten sich dank Unterstützung von Jürg Kaufmann und Emilie Lieberherr mit 6:3 durch – Ruedi Aeschbacher (EVP), Willy Küng (CVP) und Ursula Koch hatten das Nachsehen. Daraufhin lud Ursula Koch Gemeinderäte von SP, Grünen, CVP und NA sowie mich für die POCH zu einer Geheimsitzung und bat uns, eine Motion einzureichen mit der Forderung, dem Parlament ihren BZO-Entwurf vorzulegen. So kamen zwei Entwürfe in die Kommission: Der von Wagner und den Bauanwälten der Bahnhofstrasse als Weisung des Stadtrats und der von Koch als Erfüllung der Motion. Eingereicht wurde die Motion 1988 von Kathy Riklin – und ausgerechnet ihre Stimme fehlte uns 1996 für den Gang vors Bundesgericht gegen das BZO-Diktat von SVP-Baudirektor Hofmann.

 

Immerhin setzte sich noch im selben Jahrzehnt mit der BZO Ledergerber wieder ein Entwurf eines Sozialdemokraten durch.
Die BZO Ledergerber lag – vor allem bei der Zonierung der Industrieareale – relativ nahe bei der BZO Hofmann – mit fatalen Auswirkungen. Erst beim Gestaltungsplan Manegg gelang es den Linken 2010 wieder, an die BZO Koch anzuknüpfen: Mit einem Drittelsanteil gemeinnütziger Wohnungen konnten SP, Grüne und AL im Gemeinderat eine angemessene Abschöpfung des Planungsmehrwerts durchbringen. An der BZO Ledergerber hingegen leiden wir bis heute: Mit ihr haben wir einen Ferrari gekauft, den wir nun mühsam etwas runterzutunen versuchen. Mir wäre ein Töffli lieber gewesen, das wir nach Bedarf hätten frisieren können.

 

Immerhin war die BZO nicht das einzige Thema, mit dem Sie sich im Gemeinderat befassten…
Als wir 1998 eine Fraktion mit den Grünen bildeten, wurde ich aus der Stadtentwicklungskommission, die ich 1996 mitgegründet hatte, abserviert beziehungsweise strafversetzt, und zwar in die Rechnungsprüfungskommission. Doch dadurch kam ich als absoluter Laie über das Dossier «Privatisierung des Elektrizitätswerks der Stadt Zürich EWZ» zur Energiepolitik, mit der ich mich von 1998 bis 2002 hauptsächlich beschäftigte – mit Erfolg: 2000 ging die Privatisierung des EWZ an der Urne bachab, 2001 die der Elektrizitätswerke des Kantons Zürich, und 2002 gewannen wir auch noch das Referendum gegen das Strommarktgesetz. Bei letzterem kämpfte ich als Lokalpolitiker mit SGB-Präsident Paul Rechsteiner und VPOD-Geschäftsführerin Doris Schüepp auf der nationalen Bühne.

 

Allzu viele Themen haben Sie angesichts von fast vierzig Jahren aktiver Politik allerdings nicht beackert: Zufall?
Das Verrückte an der Politik ist schon, dass sich irgendwann alles wiederholt. Kämpfe, die ich längst entschieden und überstanden glaubte, tauchten plötzlich wieder auf – als sollte nicht längst allen klar sein, dass beispielsweise Privatisierungen von öffentlicher Infrastruktur der falsche Weg sind.

 

Dafür sieht es in der Wohnpolitik besser aus – oder täuscht der Eindruck?
Die Wohnpolitik hat mich ebenfalls stets begleitet, und einer der Höhepunkte war der von mir verfasste Gegenvorschlag zu ursprünglich vier Initiativen zur Wohnbaupolitik, der schliesslich zum wohnpolitischen Grundsatzartikel führte, den wir heute in der Gemeindeordnung haben. Er verlangt, dass bis 2050 33 Prozent der Mietwohnungen in der Stadt Zürich gemeinnützige Wohnungen sein müssen. Diesen Kompromiss hinzukriegen, war nicht einfach, und es brauchte etwas, was mir stets wichtig war, nämlich handwerkliches Geschick: Ich stehe nicht darauf, mit der ‹richtigen Einstellung› heroisch unterzugehen, sondern bin eher der Realo, der auch mal einen Kompromiss gutheisst, wenn die Richtung stimmt. Mein Flair fürs Handwerkliche kam mir nicht zuletzt auch 1990/91 zugute, als der Rat eine Parlamentarische Untersuchungskommission zur politischen Polizei anordnete und Peter Niggli und ich den Abschlussbericht schreiben durften. Das war einerseits eine persönliche Genugtuung, war ich doch 20 Jahre lang fichiert worden. Anderseits war es das einzige Mal, dass ich mit Politik Geld verdiente.

 

Gemeinderatspräsident sind Sie nie geworden: Das hätte in dieser langen Zeit doch möglich sein müssen.
Für mich war immer klar, dass ich weder Gemeinderatspräsident noch Stadtrat werden wollte – auch letzteres wäre grundsätzlich möglich gewesen, wenn ich mich der SP als Stadtratskandidat angedient hätte.

 

Was haben Sie gegen diese Ämter?
Nichts – ich habe bloss lieber eine gute Hebelwirkung, als mich in Strukturen aufzureiben. Der Zürcher Stadtrat ist, um im Bild vom Ferrari und dem Töffli zu bleiben, wie ein Auto, das mit angezogener Handbremse unterwegs ist.

 

Am Mittwoch, 18. Januar schmeissen Sie nach Ihrer letzten Gemeinderatssitzung eine grosse, öffentliche Party in der Kanzleiturnhalle. Was kommt danach?
Ich bin von Hause aus Journalist und freue mich darauf, wieder mehr Zeit zu haben, um publizistisch tätig zu sein. Zuerst einmal verfasse ich einen zehnteiligen Blog-Beitrag zur USR III, in der ich die geplante Steuerreform einer detaillierten, auch historischen Analyse unterziehe. Die Steuerpolitik ist zentral, und ich finde es wichtig, mehr Licht ins Dunkel zu bringen: Hier herrscht Insiderwissen vor, und Normalsterbliche können kaum abschätzen, was wirklich abgeht und wie sie beschissen werden. Meine Themen aus dem Rat werden mich zudem weiterhin beschäftigen: Ich kehre der Politik ja nicht den Rücken, sondern wechsle bloss von der Parlamentsarbeit in die à-la-carte-Politik.

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